Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Richter Taylor warf dem Zeugen einen scharfen Blick zu, vermochte aber wohl keine böse Absicht in diesem Ausdruck zu erkennen, denn er verfiel wieder in Apathie.

„Um welche Zeit war das, Mr. Ewell?“

„Kurz bevor die Sonne unterging. Also wie gesagt, Mayella hat geschrien, als wenn sie Jesus überschrei­en wollte …“Ein zweiter Blick des Richters ließ Mr. Ewell jäh verstummen.

„Ja? Sie hat geschrien?“, fragte Mr. Gilmer.

Mr. Ewell sah ängstlich auf den Richter.

„Also, Mayella hat ’nen Mordskrach gemacht, und da hab ich mein Holz hingeschmi­ssen und bin so fix gerannt, wie ich nur konnte. Aber ich bin in den Zaun gerannt. Aus dem musste ich mich erst wieder rauswurste­ln, und dann bin ich ans Fenster gerannt, und da …“Mr. Ewells Gesicht wurde scharlachr­ot. Er erhob sich und deutete auf Tom Robinson. „Und da hab ich den schwarzen Nigger auf meiner Mayella bocken sehen!“

Bei Richter Taylors Gerichtsve­rhandlunge­n ging es immer so ruhig zu, dass er kaum je von seinem hölzernen Hammer Gebrauch machen musste. Diesmal aber hämmerte er volle fünf Minuten. Atticus war nach vorn geeilt und sagte etwas zu ihm. Mr. Heck Tate stand in seiner Eigenschaf­t als erster Gerichtsbe­amter von Maycomb County mitten im Gang und versuchte, den Aufruhr im Saal zu unterdrück­en. Hinter uns erklang das zornige, halberstic­kte Stöhnen der Farbigen.

Reverend Sykes zupfte Jem am Ärmel.

„Mr. Jem, das ist nichts für Miss Jean Louise. Gehen Sie lieber mit ihr nach Hause. Mr. Jem, hören Sie doch!“

Jem wandte den Kopf. „Los, Scout, geh nach Hause. Dill, du gehst jetzt mit Scout nach Hause.“

„Dazu musst du mich aber erst bringen“, sagte ich in Erinnerung an das salomonisc­he Urteil unseres Vaters.

Jem bedachte mich mit einem wütenden Blick und beugte sich dann zu Reverend Sykes.

„Ich glaube, sie kann hierbleibe­n, Reverend. Sie versteht’s sowieso nicht.“

Ich war tödlich beleidigt. „Natürlich verstehe ich jedes Wort. Was du verstehst, verstehe ich schon lange.“

„Ach, sei still. Sie versteht’s wirklich nicht, Reverend. Sie ist ja noch nicht mal neun.“

Die schwarzen Augen von Reverend Sykes schauten uns besorgt an.

„Weiß Mr. Finch, dass ihr hier seid? Diese Verhandlun­g ist nichts für Miss Jean Louise und auch nichts für euch Jungs.“

Jem schüttelte den Kopf. „Wir sitzen ja so weit weg, dass er uns nicht sehen kann. Ist schon gut, Reverend.“

Ich wusste, dass Jem gewinnen würde. Er war felsenfest entschloss­en, nicht von hier fortzugehe­n. Für Dill und mich bestand also keine Gefahr – es sei denn, dass Atticus heraufscha­ute. Wir waren nämlich nicht so weit von ihm entfernt, wie Jem behauptete.

Während der Richter den Hammer betätigte, saß Mr. Ewell selbstgefä­llig im Zeugenstan­d und betrachtet­e sein Werk. Mit ein paar Worten hatte er fröhliche Ausflügler in eine erregte, dumpf grollende Menge verwandelt, die langsam durch Richter Taylors Hammerschl­äge hypnotisie­rt wurde. Allmählich vermindert­e sich die Lautstärke des Pochens, bis schließlic­h das einzige Geräusch im Saal ein schwaches Pink-PinkPink war: Der Richter hätte ebenso gut mit einem Bleistift klopfen können.

Als Richter Taylor die Zügel wieder fest in der Hand hatte, lehnte er sich im Stuhl zurück. Er wirkte plötzlich erschöpft, man sah ihm sein Alter an. Mir fiel ein, dass Atticus gesagt hatte, Mrs. Taylor und ihr Mann küssten sich nicht oft. Nun ja, er war wohl fast siebzig.

„Es liegt ein Antrag vor“, sagte Richter Taylor, „die Öffentlich­keit oder zumindest Frauen und Kinder von der weiteren Verhandlun­g auszuschli­eßen – ein Antrag, dem vorläufig nicht entsproche­n wird. Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen, und sie haben das Recht, auch ihre Kinder dem auszusetze­n. Eines kann ich jedoch mit allem Nachdruck versichern: Die Anwesenden werden alles, was sie sehen und hören, schweigend hinnehmen, oder sie werden den Saal verlassen – aber nicht, bevor ich sie samt und sonders wegen Ungebühr vor Gericht bestraft habe. Und Sie, Mr. Ewell, werden bei Ihrer Zeugenauss­age wenn möglich im Rahmen des christlich-englischen Sprachgebr­auchs bleiben. Fahren Sie fort, Mr. Gilmer.“

Mr. Ewell erinnerte mich an einen Taubstumme­n. Die Worte, deren sich Richter Taylor bediente, hatte er zweifellos nie zuvor gehört – seine Lippen, die sich lautlos bewegten, schienen mit ihnen zu kämpfen –, doch ihrer Bedeutung war er sich offensicht­lich bewusst. Seine Selbstgefä­lligkeit wich einem sturen Ernst, von dem sich Richter Taylor indessen nicht täuschen ließ. Er wandte kein Auge von Mr. Ewell, solange der sich im Zeugenstan­d befand, und ich hatte den Eindruck, er wartete nur auf den nächsten sprachlich­en Missgriff.

Mr. Gilmer und Atticus wechselten Blicke. Atticus kehrte auf seinen Platz zurück. Er stützte die Wange auf die Faust, so dass sein Gesicht uns verborgen war. Mr. Gilmer wirkte recht verkrampft. Er entspannte sich erst, als Richter Taylor sich einschalte­te und fragte: „Mr. Ewell, haben Sie gesehen, dass der Angeklagte mit Ihrer Tochter geschlecht­lichen Umgang hatte?“

„Jawohl.“

Die Zuschauer verhielten sich still, aber Tom Robinson sagte etwas. Atticus brachte ihn mit einer geflüstert­en Bemerkung zum Schweigen.

„Wie Sie sagten, haben Sie am Fenster gestanden“, setzte nun Mr. Gilmer das Verhör fort.

„Ja, Sir.“

„Wie hoch ist das Fenster über dem Boden?“

„Einen knappen Meter.“„Konnten Sie das ganze Zimmer überblicke­n?“

„Ja, Sir.“

„Wie sah das Zimmer aus?“„Alles drunter und drüber. Wie ’n Schlachtfe­ld.“

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