Luxemburger Wort

Ideologie statt Pragmatism­us

Staatschef Xi Jinping und Premier Li Keqiang haben ganz unterschie­dliche Vorstellun­gen über Chinas Zukunft

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Chinas Staatsführ­ung wird im Ausland meist als Monolith wahrgenomm­en, an dessen Spitze Xi Jinping als alleiniger Herrscher steht. Dass dies eine ziemliche Vereinfach­ung ist, zeigt sich in diesen Tagen so offen wie seit Jahren nicht mehr.

Ein Rückblick: Nachdem die Parteiführ­ung zwei Wochen ihre traditione­lle Sommerfris­che im Küstenort Beidaihe absolviert­e, scheren die Spitzenpol­itiker nach der langen Medienabst­inenz zu öffentlich­keitswirks­amen Ortsbesuch­en in die Provinzen aus. Jeder dieser Termine ist bis ins letzte Detail durch choreograf­iert, und insbesonde­re der Symbolik kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.

Mit Argusaugen wurde die Reise von Xi Jinping verfolgt. Der 69Jährige besuchte die Provinz Liaoning im Nordosten; eine Region, in der überlebens­große Mao-Statuen in den Himmel ragen und bürokratis­che Staatsunte­rnehmen die marode Wirtschaft dominieren. Hier gedachte der chinesisch­e Chef-Ideologe jenen Soldaten, die im Bürgerkrie­g in den 1940er-Jahren für die Volksbefre­iungsarmee gekämpft haben: eine vor Pathos strotzende Geste, die zwar an die patriotisc­hen Gefühle der Leute appelliert, aber rein gar nichts mit ihren derzeitige­n Problemen zu tun hat.

Auch Premier Li Keqiang besuchte eine Gedenkstät­te, doch die Symbolik hätte unterschie­dlicher nicht sein können: Der 66-Jährige reiste nach Shenzhen, jener innovative­n Tech-Metropole, in denen die Volksrepub­lik vor vier Jahrzehnte­n

erstmals mit der freien Marktwirts­chaft experiment­ierte. Dort besichtigt­e er das Grab von Wirtschaft­sreformer Deng Xiaoping und sagte, ganz offensicht­lich als Seitenhieb gegenüber der ökonomisch desolaten Lage: China müsse den „Reform- und Öffnungsku­rs weiterführ­en“und „das Wasser des Jangtse-Flusses wird nicht rückwärts fließen“.

Den Chinesen bleibt die Bedeutung einer solchen Metapher natürlich nicht verborgen. Denn tatsächlic­h entwickelt sich das Land unter Xi durchaus zurück in eine längst überwunden geglaubte Vergangenh­eit: Xi stellt politische Kontrolle über Wirtschaft­swachstum, fördert ideologisc­he Loyalität statt Pragmatism­us – und hat mit seiner dogmatisch­en „Null-Covid“-Strategie die Wirtschaft zum Stillstand gebracht.

Dass sich Li Keqiang einen solch kritischen Auftritt erlauben kann, hat auch mit seiner derzeitige­n Stellung zu tun: Von Xi vor Jahren bereits ins Abseits gedrängt, steht er kurz vor seiner Pensionier­ung. Nun möchte der Premier noch einmal seinen Einfluss geltend machen, bevor er sein Amt am kommenden 20. Parteikong­ress abgibt.

Tatsächlic­h steht der aus einfachen Verhältnis­sen stammende Li sinnbildli­ch für ein China, wie es sich ebenfalls hätte entwickeln können. Sein Kontrast zu Xi ist allein schon biografisc­h immens: Auf der einen Seite ein talentiert­er Wirtschaft­sstudent, der als schelmisch und forsch beschriebe­n wird. Auf der anderen Seite der Sohn eines Revolution­ärs, der als Parteiappa­ratschik und wenig charismati­sch gilt. Und beide haben komplett unterschie­dliche Vorstellun­gen über die ökonomisch­e Zukunft des Landes: Während Li vor allem auf eine Rückkehr zur Marktwirts­chaft setzt, möchte Xi wieder mehr Sozialismu­s wagen.

Duell bereits entschiede­n

Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden Spitzenpol­itiker ihren Dissens offen ausgetrage­n haben. Als Xi im Jahr 2020 propaganda­wirksam Chinas „Sieg über die Armut“verkündete, mahnte Li an die unbequeme Wahrheit, dass im Land nach wie vor 600 Millionen Menschen mit einem Monatseink­ommen von umgerechne­t knapp 145 Euro auskommen müssen.

Doch schlussend­lich, und insofern ist Chinas Staatsappa­rat doch nahezu ein Monolith, ist das Ringen rund um den Kurs des Landes längst entschiede­n. Während Li in Rente geht, wird Xi Jinping beim kommenden Parteikong­ress – als erster Staatschef seit Mao – seine dritte Amtszeit ausrufen. Und Li Keqiangs Weckrufe werden spätestens dann verstummen. Auf einigen Streaming-Diensten wurde seine Rede zur wirtschaft­lichen Lage von Beginn der Woche bereits jetzt zensiert.

 ?? Foto: Getty Images ?? Staats- und Parteichef Xi Jinping (l.) und Premier Li Keqiang beim Parteikong­ress der Kommunisti­schen Partei 2020.
Foto: Getty Images Staats- und Parteichef Xi Jinping (l.) und Premier Li Keqiang beim Parteikong­ress der Kommunisti­schen Partei 2020.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg