Blutiges Patt im Ukraine-Krieg
Die militärischen Ziele beider Parteien scheinen weit entfernt, der Krieg kann noch Jahre dauern
Kiew. Nach sechs Monaten Krieg kommen die russischen Truppen nur im Kriechgang voran – und müssen auch spektakuläre Gegenschläge hinnehmen. Sie verhinderten bei Vorstößen in ukrainisch kontrollierte Gebiete nicht, dass sich die Verteidiger neu gruppieren. Inzwischen gleicht die Situation einem blutigen Patt. Daraus könnte ein Krieg werden, der noch Jahre dauert, mit weiteren schweren Grausamkeiten und schlimmen Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
„Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeninsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwinden“, versprach Präsident Wolodymyr Selenskyj Mitte August. „Es wird die Zeit kommen, dass sie aus dem Gebiet Charkiw verschwinden, aus dem Donbass, von der Krim …“Trotzdem musste auch Selenskyj zugeben, dass inzwischen rund 20 Prozent des Staatsgebiets – die Krim eingeschlossen – nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle stehen.
Russlands Ziel unklar
Aus dem Kreml kommen unverändert Behauptungen, die Ziele der „militärischen Spezialoperation“, wie der Krieg in Russland offiziell nur heißt, würden in vollem Umfang erreicht. Was genau die Ziele sein sollen, ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die Sanktionen setzen ihrer Wirtschaft schwer zu. Die NATO, die zurückgedrängt werden sollte, ist stattdessen auf dem Vormarsch: Finnland und Schweden kommen nun auch in die Militärallianz.
Putin spricht immer wieder vom Ziel der „Befreiung“des Donbass. Zum Donbass gehören das Gebiet Luhansk, das die Ukraine nicht mehr kontrolliert, und die Region Donezk, wo Moskau seit Wochen ohne merklichen Fortschritt bisher etwas über 60 Prozent des Gebiets erobert hat. Was aber mit den eroberten Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischschja geschehen soll, dazu gibt es keine klaren Ansagen des Kremls.
Diskutiert werden immer wieder „Volksabstimmungen“über einen Beitritt zu Russland, ohne dass es ein Datum gibt. Die ganze „Operation“liegt nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew deutlich hinter dem Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. Russische Abgeordnete
und Militärs betonen zwar, dass der gesamte Süden abgetrennt werden solle – also auch die Hafenstadt Odessa. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Und der personelle Nachschub für die Front kommt nicht zusammen, wie selbst russische Zeitungen offen schreiben.
Nach einem halben
Jahr schreibt das russische Internetportal
„Meduza“in einer großen Analyse: „Die Kampfhandlungen sind in der Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts ist weder für Moskau noch für Kiew von
Vorteil.“Niemand wolle nachgeben und Verlierer sein. „Ihre politischen Ziele bringen beide Seiten dazu, ihren Einsatz zu erhöhen für einen noch größer angelegten Krieg.“dpa
Am frühen Morgen des 24. Februars verkündete Wladimir Putin seine „Kriegsspezialoperation“gegen die Ukraine. „Wir werden die Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine anstreben“, erklärte Russlands Staatschef. Dabei habe man nicht vor, ukrainische Gebiete zu besetzen. „Wir wollen niemanden etwas mit Gewalt aufzwingen.“Es klang wirklich nach einer begrenzten Operation mit begrenzten Zielen. Aber was mit der durchaus kühnen Luftlandung bei Kiew begann, gilt Militärexperten längst als Zermürbungskrieg, in dem die ukrainischen Verteidiger erstaunlich erfolgreichen Widerstand leisten.
Zwar kontrolliert die russische Armee jetzt etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums. Aber die Front hat sich festgefahren, selbst im Donbass, dessen russischsprachige Bevölkerung Putin nach eigenem Bekunden vor den Kiewer Völkermördern retten möchte. Und seine Besatzungsbehörden arbeiten inzwischen an ganz anderen Zielen, als er selbst verkündet hatte. Nicht nur in den Lugansker und Donezker Rebellenrepubliken, sondern auch in den besetzten Teilen der Regionen Saporischschja, Cherson und Charkiw bemüht man sich eifrig, eigene Staatlichkeit zu installieren, vom Rubel über Schulunterricht bis zu geplanten Abstimmungen über einen Anschluss an Russland. Als habe sich der fast 70jährige Dauermachthaber mit einem revidierten geostrategischen Minimalziel angefreundet, das aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen scheint: die Landbrücke zur Krim und ein paar Millionen neuer ostukrainischer Untertanen.
Allerdings kursieren in Moskau seit Monaten Landkarten, auf denen auch Industrieobjekte in der noch deutlich hinter der ukrainischen Front liegenden Gebietshauptstadt Saporischschja und in der noch friedlichen Region Dnipropetrowsk als künftige Investitionsobjekte
ausgezeichnet sind. Offenbar will Russland je nach den Möglichkeiten, die die Zukunft bietet, mehr Ukraine.
Aber auch wenn Putin dem kleinen Nachbarstaat mehrfach und mit wachsender Empörung das Existenzrecht abgesprochen hat, die Ukraine ist keineswegs sein Hauptfeind. Schon in seiner Rede vom 24. Februar griff er noch heftiger die USA und die Nato an, ihre antirussische Eindämmungspolitik sei für das Vaterland eine „Frage von Leben und Tod“. Den Feldzug gegen die Ukraine sieht Putin als präventiven Abwehrkampf gegen seine westlichen Feinde. Russische Oppositionelle nennen ihn inzwischen oft einen „Gopnik“, einen spätsowjetischen