Luxemburger Wort

Blutiges Patt im Ukraine-Krieg

Die militärisc­hen Ziele beider Parteien scheinen weit entfernt, der Krieg kann noch Jahre dauern

- Von Dmytro Durnjew

Kiew. Nach sechs Monaten Krieg kommen die russischen Truppen nur im Kriechgang voran – und müssen auch spektakulä­re Gegenschlä­ge hinnehmen. Sie verhindert­en bei Vorstößen in ukrainisch kontrollie­rte Gebiete nicht, dass sich die Verteidige­r neu gruppieren. Inzwischen gleicht die Situation einem blutigen Patt. Daraus könnte ein Krieg werden, der noch Jahre dauert, mit weiteren schweren Grausamkei­ten und schlimmen Verbrechen an der Zivilbevöl­kerung.

„Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeni­nsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwind­en“, versprach Präsident Wolodymyr Selenskyj Mitte August. „Es wird die Zeit kommen, dass sie aus dem Gebiet Charkiw verschwind­en, aus dem Donbass, von der Krim …“Trotzdem musste auch Selenskyj zugeben, dass inzwischen rund 20 Prozent des Staatsgebi­ets – die Krim eingeschlo­ssen – nicht mehr unter ukrainisch­er Kontrolle stehen.

Russlands Ziel unklar

Aus dem Kreml kommen unveränder­t Behauptung­en, die Ziele der „militärisc­hen Spezialope­ration“, wie der Krieg in Russland offiziell nur heißt, würden in vollem Umfang erreicht. Was genau die Ziele sein sollen, ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die Sanktionen setzen ihrer Wirtschaft schwer zu. Die NATO, die zurückgedr­ängt werden sollte, ist stattdesse­n auf dem Vormarsch: Finnland und Schweden kommen nun auch in die Militärall­ianz.

Putin spricht immer wieder vom Ziel der „Befreiung“des Donbass. Zum Donbass gehören das Gebiet Luhansk, das die Ukraine nicht mehr kontrollie­rt, und die Region Donezk, wo Moskau seit Wochen ohne merklichen Fortschrit­t bisher etwas über 60 Prozent des Gebiets erobert hat. Was aber mit den eroberten Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischs­chja geschehen soll, dazu gibt es keine klaren Ansagen des Kremls.

Diskutiert werden immer wieder „Volksabsti­mmungen“über einen Beitritt zu Russland, ohne dass es ein Datum gibt. Die ganze „Operation“liegt nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew deutlich hinter dem Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. Russische Abgeordnet­e

und Militärs betonen zwar, dass der gesamte Süden abgetrennt werden solle – also auch die Hafenstadt Odessa. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Und der personelle Nachschub für die Front kommt nicht zusammen, wie selbst russische Zeitungen offen schreiben.

Nach einem halben

Jahr schreibt das russische Internetpo­rtal

„Meduza“in einer großen Analyse: „Die Kampfhandl­ungen sind in der Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts ist weder für Moskau noch für Kiew von

Vorteil.“Niemand wolle nachgeben und Verlierer sein. „Ihre politische­n Ziele bringen beide Seiten dazu, ihren Einsatz zu erhöhen für einen noch größer angelegten Krieg.“dpa

Am frühen Morgen des 24. Februars verkündete Wladimir Putin seine „Kriegsspez­ialoperati­on“gegen die Ukraine. „Wir werden die Demilitari­sierung und Denazifizi­erung der Ukraine anstreben“, erklärte Russlands Staatschef. Dabei habe man nicht vor, ukrainisch­e Gebiete zu besetzen. „Wir wollen niemanden etwas mit Gewalt aufzwingen.“Es klang wirklich nach einer begrenzten Operation mit begrenzten Zielen. Aber was mit der durchaus kühnen Luftlandun­g bei Kiew begann, gilt Militärexp­erten längst als Zermürbung­skrieg, in dem die ukrainisch­en Verteidige­r erstaunlic­h erfolgreic­hen Widerstand leisten.

Zwar kontrollie­rt die russische Armee jetzt etwa 20 Prozent des ukrainisch­en Territoriu­ms. Aber die Front hat sich festgefahr­en, selbst im Donbass, dessen russischsp­rachige Bevölkerun­g Putin nach eigenem Bekunden vor den Kiewer Völkermörd­ern retten möchte. Und seine Besatzungs­behörden arbeiten inzwischen an ganz anderen Zielen, als er selbst verkündet hatte. Nicht nur in den Lugansker und Donezker Rebellenre­publiken, sondern auch in den besetzten Teilen der Regionen Saporischs­chja, Cherson und Charkiw bemüht man sich eifrig, eigene Staatlichk­eit zu installier­en, vom Rubel über Schulunter­richt bis zu geplanten Abstimmung­en über einen Anschluss an Russland. Als habe sich der fast 70jährige Dauermacht­haber mit einem revidierte­n geostrateg­ischen Minimalzie­l angefreund­et, das aus dem vorletzten Jahrhunder­t zu stammen scheint: die Landbrücke zur Krim und ein paar Millionen neuer ostukraini­scher Untertanen.

Allerdings kursieren in Moskau seit Monaten Landkarten, auf denen auch Industrieo­bjekte in der noch deutlich hinter der ukrainisch­en Front liegenden Gebietshau­ptstadt Saporischs­chja und in der noch friedliche­n Region Dnipropetr­owsk als künftige Investitio­nsobjekte

ausgezeich­net sind. Offenbar will Russland je nach den Möglichkei­ten, die die Zukunft bietet, mehr Ukraine.

Aber auch wenn Putin dem kleinen Nachbarsta­at mehrfach und mit wachsender Empörung das Existenzre­cht abgesproch­en hat, die Ukraine ist keineswegs sein Hauptfeind. Schon in seiner Rede vom 24. Februar griff er noch heftiger die USA und die Nato an, ihre antirussis­che Eindämmung­spolitik sei für das Vaterland eine „Frage von Leben und Tod“. Den Feldzug gegen die Ukraine sieht Putin als präventive­n Abwehrkamp­f gegen seine westlichen Feinde. Russische Opposition­elle nennen ihn inzwischen oft einen „Gopnik“, einen spätsowjet­ischen

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