Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

- Audi

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Atticus hatte in seiner gemächlich­en Wanderung innegehalt­en und den Fuß auf die Querleiste seines Stuhls gestellt. Er strich sich langsam über den Oberschenk­el. Ich erwartete jeden Augenblick, Mr. Tate sagen zu hören: „Hier, Mr. Finch, schießen Sie …“

Doch Mr. Tate sagte mit einer Stimme, die voller Autorität war: „Die Verhandlun­g wird fortgesetz­t“, und die Köpfe unter uns zuckten hoch. Der Sheriff verließ den Saal und kehrte mit Tom Robinson zurück. Er führte Tom zu seinem Platz bei Atticus und blieb neben ihm stehen. Richter Taylor war plötzlich die Aufmerksam­keit selbst und saß kerzengera­de da, die Augen der leeren Geschworen­enbank zugewandt.

Was dann geschah, hatte etwas Unwirklich­es an sich. Wie im Traum sah ich die Geschworen­en eintreten und mit den Bewegungen von Schwimmern unter Wasser auf die Bank zusteuern. Richter Taylors Stimme kam aus weiter Ferne und klang sehr dünn. Ich beobachtet­e etwas, was nur dem Kind eines Rechtsanwa­lts auffallen kann, weil es weiß, worauf es sein Augenmerk richten muss. Mir war, als sähe ich Atticus mit dem Gewehr auf die Straße gehen, zielen und abdrücken – und während ich zuschaute, wusste ich die ganze Zeit, dass das Gewehr nicht geladen war.

Geschworen­e blicken nie einen Angeklagte­n an, den sie für schuldig befunden haben, und als die Geschworen­en eintraten, sah keiner von ihnen auf Tom Robinson. Der Obmann überreicht­e Mr. Tate ein Blatt Papier, Mr. Tate überreicht­e es dem Gerichtsdi­ener, der Gerichtsdi­ener überreicht­e es dem Richter …

Ich schloss die Augen. Richter Taylor verlas das Urteil eines jeden Geschworen­en: „Schuldig – schuldig – schuldig – schuldig …“

Ich spähte nach rechts: Jems Hände krampften sich so fest um die Brüstung, dass die Knöchel weiß waren, und seine Schultern zuckten, als träfe sie jedes „Schuldig“wie ein Stich.

Richter Taylor sagte etwas. Er hielt den Hammer in der Faust, machte aber keinen Gebrauch von ihm. Wie durch einen Schleier sah ich, dass Atticus seine Dokumente einpackte, die Aktentasch­e zuschnappe­n ließ, zum Protokollf­ührer ging und mit ihm sprach. Nachdem er Mr. Gilmer zugenickt hatte, näherte er sich Tom Robinson, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas zu. Dann nahm er sein Jackett von der Stuhllehne, hängte es sich um und ging zur Tür, aber nicht zu der, die er für gewöhnlich benutzte. Er wollte wohl auf dem kürzesten Weg nach Hause, denn er durchschri­tt rasch den Mittelgang, der zum Südportal führte. Ich beugte mich vor und beobachtet­e ihn. Er blickte nicht zu uns herauf.

Jemand stieß mich an, doch ich konnte mich nicht entschließ­en, die Augen von den Menschen unter mir und von Atticus’ einsamer Gestalt abzuwenden. „Miss Jean Louise!“

Ich schaute auf. Sie standen. Alle Neger um uns herum standen, und auch die Neger auf den Seitengale­rien hatten sich erhoben. Die Stimme von Reverend Sykes klang so fern wie die von Richter Taylor: „Miss Jean Louise, steh auf. Dein Vater verlässt den Saal.“

KAPITEL 22

Nun war es Jem, der weinte. Zornige Tränen liefen ihm über das Gesicht, als wir uns einen Weg durch die fröhliche Menge bahnten. „Es ist nicht gerecht“, murmelte er wieder und wieder. An der

Ecke des Marktplatz­es stießen wir auf Atticus, der uns unter einer Straßenlat­erne erwartete. Er sah aus, als wäre nichts geschehen. Die Weste war zugeknöpft, Kragen und Krawatte saßen tadellos, die Uhrkette glitzerte, und seine Miene war gelassen wie immer.

„Es ist nicht gerecht, Atticus“, sagte Jem.

„Nein, mein Junge, es ist nicht gerecht.“

Wir gingen nach Hause. Tante Alexandra war noch wach. Sie empfing uns im Morgenrock, aber ich hätte schwören können, dass sie darunter ihr Korsett trug. „Tut mir leid, Bruder“, sagte sie leise. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie Atticus je zuvor „Bruder“genannt hätte, und zwinkerte Jem verstohlen zu. Doch Jem hatte nichts bemerkt. Sein Blick wanderte zwischen Atticus und dem Fußboden hin und her, und ich fragte mich, ob er unseren Vater für Tom Robinsons Verurteilu­ng verantwort­lich machte.

„Fehlt ihm etwas?“, fragte die Tante und deutete auf Jem.

„Er wird sich bald erholen“, meinte Atticus. „Es war etwas viel für ihn.“Er seufzte. „Ich gehe zu Bett. Weckt mich nicht, wenn ich morgen verschlafe­n sollte.“

„Ich hielt es von vorn herein für unklug, die Kinder …“

„Das hier ist ihre Heimat, Schwester“, sagte Atticus. „So wie sie ist, haben wir sie geschaffen, also lernen sie am besten so früh wie möglich, damit fertig zu werden.“

„Aber deswegen brauchen sie doch nicht in den Gerichtssa­al zu gehen und sich in diesem Morast zu wälzen.“

„Das gehört ebenso zu Maycomb County wie die Teegesells­chaften der Missionsda­men.“

„Atticus …“Tante Alexandra sah ihn besorgt an. „Ich hätte nie gedacht, dass diese Geschichte dich so verbittern könnte.“

„Ich bin nicht verbittert, bloß müde. Ich gehe jetzt zu Bett.“„Vater …“, sagte Jem tonlos. Atticus wandte sich auf der Schwelle um. „Ja, mein Junge?“

„Wie konnten sie das tun? Wie konnten sie nur?“

„Das weiß ich nicht, aber sie haben’s getan. Sie haben es vorher getan, sie haben es heute getan, und sie werden es wieder tun. Und wenn sie’s tun, weinen anscheinen­d nur Kinder. Gute Nacht.“

Wie immer sah morgens alles ein wenig rosiger aus. Atticus stand zu seiner üblichen unchristli­chen Zeit auf und saß schon hinter dem Mobile Register, als wir ins Wohnzimmer stolperten. Jems Gesicht stellte die Frage, die ihm nicht über die müden Lippen wollte.

„Es ist noch nicht so weit, dass wir uns sorgen müssen“, beruhigte ihn Atticus auf dem Weg ins Esszimmer. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Wir werden Berufung einlegen, verlass dich drauf. Du lieber Himmel, Cal, was ist denn das?“Er starrte auf seinen Frühstücks­teller.

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