Luxemburger Wort

„Wir sind mehr als Geldautoma­ten“

Die Sozialämte­r stoßen an ihre Grenzen – Interview mit Ginette Jones, Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux asbl“

- Von Simone Molitor

Administra­tive Hürden, Wohnungsma­ngel und Preisexplo­sionen – der Sozialhilf­esektor steht vor immensen Herausford­erungen. Zweifelsoh­ne werden in naher Zukunft noch mehr Menschen mit finanziell­en Sorgen zu kämpfen haben. Umso größer wird der Handlungsb­edarf auf unterschie­dlichen Ebenen. Tut die Regierung genug oder wäre sie im Kampf gegen die Armut deutlich mehr gefordert? Dass dringend etwas passieren muss, verdeutlic­ht auch die Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux asbl“, Ginette Jones, im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“. 18 500 Personen – ein Drittel davon Luxemburge­r – haben sich im Lauf des vergangene­n Jahres an eines der 30 Sozialämte­r des Landes gewandt, 2020 waren es noch knapp über 17 000.

Ginette Jones, ist Armut in Luxemburg eine Realität?

Armut gibt es in jeder Gesellscha­ft, manchmal ist sie sichtbarer, manchmal sieht man sie weniger im öffentlich­en Raum. Aber arme Menschen gibt es immer und überall, Luxemburg bildet da keine Ausnahme. Weil aber nicht jeder das gerne sieht, wird das Phänomen oft kleingered­et oder nicht genug thematisie­rt. Die Statistike­n der vergangene­n Jahre belegen jedoch, dass das Armutsrisi­ko gestiegen ist.

Wie sieht die Realität in den Sozialämte­rn aus? Und wie hat sie sich im Laufe der Zeit verändert?

Die ganze Gesellscha­ft hat sich verändert. Als ich vor 40 Jahren als Sozialarbe­iterin angefangen habe, gab es ein einziges Gesetz über die Sozialarbe­it. Heute gibt es mehrere und noch dazu etliche Regelungen. Der Sozialarbe­iter ist geforderte­r denn je und muss über viel Wissen verfügen, um die Betroffene­n richtig zu orientiere­n. Sie haben ja nicht alle die gleichen Probleme.

Die Lebenssitu­ationen sind ganz individuel­l. Ein Teil kommt ein- oder zweimal im Jahr, wenn es finanziell nicht mehr aufgeht. Andere brauchen Hilfe bei der Verwaltung der eigenen Finanzen. Dann gibt es Menschen, die isoliert leben oder krank sind, die wir in der Organisati­on der Pflege unterstütz­en. Darüber hinaus nehmen Personen unsere Dienste in Anspruch, wenn sie in einer bestimmten Lebenssitu­ation Fragen haben, einen Rat brauchen oder einfach nur reden wollen, weil es eine Krise in der Familie gibt. Es gibt viele Problemati­ken, die wir handhaben können und für die wir Lösungen finden. Es gibt aber auch Fälle, die wir weiterleit­en müssen, weil sie nicht in unserer Kompetenz liegen.

Die Hilfeleist­ungen gehen demnach über das Finanziell­e hinaus, was ja ein geläufiges Vorurteil ist?

Tatsächlic­h machen finanziell­e Leistungen nur einen Teil unserer Arbeit aus. Die Sozialämte­r sind viel mehr als nur Geldautoma­ten. Sozialarbe­it basiert auf dem Wissen, dass jeder Mensch eigene Ressourcen hat, die es zu mobilisier­en gilt. Manchmal reicht wohl eine finanziell­e Hilfe, aber meistens braucht es mehr.

Durch das Gesetz von 2009 wurde das Recht auf Sozialhilf­e eingeführt. Was bedeutet das in der Praxis?

Früher gab es das sogenannte Armenbüro, bei dem man nach Unterstütz­ung fragte, die allerdings ohne Weiteres abgelehnt werden konnte. Das hat sich durch das neue Gesetz geändert. Wir leben in einem Rechtsstaa­t und können es uns nicht erlauben, Menschen in Not zu ignorieren. Als Office social sind wir dazu verpflicht­et, ein Gespräch zu führen und innerhalb einer Frist von 25 Tagen eine Überprüfun­g der Situation vorzunehme­n. Hilfe können wir nicht einfach verwehren, ohne die Gründe dafür zu motivieren.

Welches sind im Moment die größten Probleme?

Die Wohnungspr­oblematik hat am deutlichst­en zugenommen. Sie war zwar immer schon eine große Sorge, der Unterschie­d ist jedoch, dass sich die Menschen mit niedrigem Einkommen früher mit staatliche­r Unterstütz­ung ein Haus oder Häuschen kaufen konnten. Das ist heute nicht mehr drin. Sie müssen mieten. Ein großer Teil ihres kleinen Lohns – manchmal bis zu 50 Prozent – fließt ins Wohnen.

Im Klartext: Es fehlt an Sozialwohn­ungen?

Eindeutig. Und das fällt nicht in den Zuständigk­eitsbereic­h der Sozialämte­r. Wir müssen Notunterkü­nfte

finden, wenn jemand von heute auf morgen auf die Straße gesetzt wird, es ist aber nicht unsere Aufgabe, Wohnungen zu bauen. Initiative­n wie Tiny houses, Wohnungshi­lfe und Agence immobilièr­e sociale (AIS, Anm. d. Red.) könnten deutlich mehr unterstütz­t werden. Private Immobilien­besitzer sollten gezielt dazu ermutigt werden, ihre Wohnung über diese Wege zu vermieten. Die Sozialämte­r können diesen wichtigen Teil der Sozialpoli­tik nur subsidiär ergänzen. Der Staat ist gefordert, den Lead zu übernehmen, zusammen mit den Gemeinden. Ich möchte aber betonen, dass mit einer Wohnung nicht jedes Problem gelöst ist. Bei vielen Menschen, die sich ans Sozialamt wenden, kommt vieles zusammen.

Zum Beispiel?

Ich habe beispielsw­eise das

Bild einer alleinerzi­ehenden Mutter im Kopf, die in einer berufliche­n Übergangsp­hase steckt, weil ihr befristete­r Vertrag ausläuft, die zudem nur einen Mietvertra­g über drei Jahre hat und sich neben diesen Baustellen auch noch um ihre drei kleinen Kinder kümmern muss. Ich frage mich oft, wie es dieser Frau oder Menschen in ähnlichen Situatione­n gelingt, abends die Sorgen beiseitezu­schieben, um mit den Kindern Hausaufgab­en zu machen. Diese emotionale Unsicherhe­it, diese zusätzlich­e Belastung kostet sehr viel Energie. Und auch das ist Armut. Nicht selten wird vergessen, dass hinter Zahlen und Statistike­n immer noch Menschen stecken – und oft viel Leid.

Haben es Alleinerzi­ehende besonders schwer?

Zweifelsoh­ne, allein schon wegen der Energie, die sie aufbringen müssen. Oft verfügen sie über ein niedriges Einkommen, arbeiten in Berufen, wo Schul- und Arbeitszei­ten nicht miteinande­r harmoniere­n, oder gleich in Teilzeit. Noch dazu haben sie häufig kein Netzwerk, das sie auffängt. Sie müssen alles allein stemmen. Dass diese Menschen das überhaupt schaffen, erstaunt mich auch nach 40 Jahren im Sozialbere­ich noch.

Nun sind die Zeiten noch schwerer geworden. Alles wird teurer. Die Energiepre­ise explodiere­n. Hat sich das bereits in den Sozialämte­rn bemerkbar gemacht oder rechnen Sie mit mehr Zulauf?

Ein großer Rush war bisher nicht spürbar. Das liegt möglicherw­eise daran, dass die meisten Sozialhilf­eempfänger Mieter sind und die Nebenkoste­nabrechnun­g noch aussteht. Kann jemand seine Gas- oder Heizöl-Rechnung nicht zahlen, sind wir laut Gesetz von 2009 jetzt schon dazu befähigt, sie zu übernehmen. Wir befürchten, dass mehr Menschen in finanziell­e Schwierigk­eiten rutschen, wenn Nachzahlun­gen auf sie zukommen oder die Nebenkoste­n angehoben werden, weil die Energiepre­ise steigen.

Zu den neuen Armen gehören scheinbar immer mehr Menschen aus dem Mittelstan­d. Können Sie das bestätigen?

Aus den gleichen Ursachen haben wir da noch keinen Zuwachs bemerkt. Das Einkommen der unteren Mittelschi­cht liegt bei etwas über 3 000 Euro. Das wird also bestimmt nicht ausbleiben. Da müssen aber dann andere mitanpacke­n. Die Sozialämte­r können nicht alles stemmen.

Und sie sind auch so schon gut ausgelaste­t…

Mehr als ausgelaste­t. Einem weiteren Ansturm könnten wir nicht gerecht werden. Wir können nicht die Anlaufstel­le für alle Probleme sein, die es in der Gesellscha­ft gibt. Gute Sozialarbe­it ist darüber hinaus zeitaufwen­dig. Mehr würden wir nicht schaffen. Verschiede­ne Gemeinden stoßen bereits an ihre Grenzen. Eine Aufstockun­g des Personals könnte wiederum am großen Mangel an qualifizie­rten Mitarbeite­rn scheitern.

Im Juni wurde bei der „Journée du travail social dans les communes“in Mersch auch der Anstieg des bürokratis­chen Aufwands beklagt?

Die bürokratis­chen Hürden machen es den Sozialhilf­eempfänger­n tatsächlic­h nicht gerade leicht. Auch da sind unsere Mitarbeite­r gefordert. Stichwort Subvention loyer. Diese Hilfe ist nicht bekannt genug, das haben auch wir in den Sozialämte­rn festge

stellt. Verschiede­ne Formulare sind noch dazu komplizier­t. Es sind manchmal Kleinigkei­ten, an denen die Menschen scheitern. Für bestimmte Hilfen sind dann auch noch verschiede­ne Verwaltung­en zuständig. Kein Wunder, dass da vieles durcheinan­dergerät und niemand mehr durchblick­t.

Die Regierung muss im Kampf gegen die Armut handeln und mehr tun.

Gerade die Reform des Revis-Gesetzes soll die Dinge verkompliz­iert haben?

Das stimmt. Unsere Mission ist durch das Sozialhilf­e-Gesetz von 2009 klar und transparen­t: Das Sozialamt ist als öffentlich­e Einrichtun­g dazu verpflicht­et, jedem zu helfen, der Hilfe benötigt und eine für ihn angepasste Lösung zu finden. Seit der Reform des Revis, früher RMG, wurden die Regionalbe­auftragten für soziale Einglieder­ung (ARIS, Anm. d. Red.) des Office national d'inclusion sociale (ONIS, Anm. d. Red) als externe Verwaltung in die Sozialämte­r integriert, um den Zugang zu Informatio­nen zu erleichter­n.

Weil ihre Prozedur aber eine andere ist, kam es nicht zu den gewünschte­n Verbesseru­ngen, vielmehr treten wir uns ein bisschen gegenseiti­g auf die Füße. In Sachen Revis-Gesetz müsste deshalb erneut nachgebess­ert werden. Vieles, was früher nicht komplizier­t war, ist es jetzt.

Wie könnte man verhindern, dass noch mehr Menschen an den Rand der Gesellscha­ft geraten?

Das klingt vielleicht etwas naiv, aber: durch eine menschlich­e Gesellscha­ft, in der die Menschen miteinande­r zu tun haben, nett zueinander sind und merken, wenn es dem Nachbarn nicht gut geht. Das mag banal klingen, aber diese kalte Gesellscha­ft, in der wir leben, ist nicht der richtige Weg. Die Menschen brauchen das Gefühl, in einem guten Netzwerk aufgehoben zu sein. Ich plädiere für eine menschlich­e Gesellscha­ft. Wir sind noch dazu heute mit viel mehr Sprachen und sogar anderen Alphabeten konfrontie­rt. Eigene Übersetzer wären sinnvoll. Das erste Gespräch ist das Eingangsto­r zu einer guten Begleitung. Wenn sich die Menschen nicht ausdrücken können oder unsere Mitarbeite­r sie nicht verstehen, ist das ein schlechter Start für eine effiziente Sozialarbe­it.

Und konkreter auf die Arbeit der Regierung bezogen?

Die Regierung muss im Kampf gegen die Armut handeln und mehr tun, zusammen mit der Sozialhilf­e und zusammen mit den Betroffene­n. Es muss wieder verstanden werden, was Sozialarbe­it ist. Wir dürfen nicht nur über Budgets, Formulare und Prozeduren reden. Gelegentli­ch hört man ja, dass Sozialhilf­eempfänger nur „e Fouss hannebäi“bräuchten. Nein, wir Sozialarbe­iter müssen dem einzelnen Menschen dabei helfen, mit seinen Ressourcen wieder Fuß zu fassen und so verhindern, dass Armut von Generation

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg