„Wir sind mehr als Geldautomaten“
Die Sozialämter stoßen an ihre Grenzen – Interview mit Ginette Jones, Präsidentin der „Entente des offices sociaux asbl“
Administrative Hürden, Wohnungsmangel und Preisexplosionen – der Sozialhilfesektor steht vor immensen Herausforderungen. Zweifelsohne werden in naher Zukunft noch mehr Menschen mit finanziellen Sorgen zu kämpfen haben. Umso größer wird der Handlungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen. Tut die Regierung genug oder wäre sie im Kampf gegen die Armut deutlich mehr gefordert? Dass dringend etwas passieren muss, verdeutlicht auch die Präsidentin der „Entente des offices sociaux asbl“, Ginette Jones, im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“. 18 500 Personen – ein Drittel davon Luxemburger – haben sich im Lauf des vergangenen Jahres an eines der 30 Sozialämter des Landes gewandt, 2020 waren es noch knapp über 17 000.
Ginette Jones, ist Armut in Luxemburg eine Realität?
Armut gibt es in jeder Gesellschaft, manchmal ist sie sichtbarer, manchmal sieht man sie weniger im öffentlichen Raum. Aber arme Menschen gibt es immer und überall, Luxemburg bildet da keine Ausnahme. Weil aber nicht jeder das gerne sieht, wird das Phänomen oft kleingeredet oder nicht genug thematisiert. Die Statistiken der vergangenen Jahre belegen jedoch, dass das Armutsrisiko gestiegen ist.
Wie sieht die Realität in den Sozialämtern aus? Und wie hat sie sich im Laufe der Zeit verändert?
Die ganze Gesellschaft hat sich verändert. Als ich vor 40 Jahren als Sozialarbeiterin angefangen habe, gab es ein einziges Gesetz über die Sozialarbeit. Heute gibt es mehrere und noch dazu etliche Regelungen. Der Sozialarbeiter ist geforderter denn je und muss über viel Wissen verfügen, um die Betroffenen richtig zu orientieren. Sie haben ja nicht alle die gleichen Probleme.
Die Lebenssituationen sind ganz individuell. Ein Teil kommt ein- oder zweimal im Jahr, wenn es finanziell nicht mehr aufgeht. Andere brauchen Hilfe bei der Verwaltung der eigenen Finanzen. Dann gibt es Menschen, die isoliert leben oder krank sind, die wir in der Organisation der Pflege unterstützen. Darüber hinaus nehmen Personen unsere Dienste in Anspruch, wenn sie in einer bestimmten Lebenssituation Fragen haben, einen Rat brauchen oder einfach nur reden wollen, weil es eine Krise in der Familie gibt. Es gibt viele Problematiken, die wir handhaben können und für die wir Lösungen finden. Es gibt aber auch Fälle, die wir weiterleiten müssen, weil sie nicht in unserer Kompetenz liegen.
Die Hilfeleistungen gehen demnach über das Finanzielle hinaus, was ja ein geläufiges Vorurteil ist?
Tatsächlich machen finanzielle Leistungen nur einen Teil unserer Arbeit aus. Die Sozialämter sind viel mehr als nur Geldautomaten. Sozialarbeit basiert auf dem Wissen, dass jeder Mensch eigene Ressourcen hat, die es zu mobilisieren gilt. Manchmal reicht wohl eine finanzielle Hilfe, aber meistens braucht es mehr.
Durch das Gesetz von 2009 wurde das Recht auf Sozialhilfe eingeführt. Was bedeutet das in der Praxis?
Früher gab es das sogenannte Armenbüro, bei dem man nach Unterstützung fragte, die allerdings ohne Weiteres abgelehnt werden konnte. Das hat sich durch das neue Gesetz geändert. Wir leben in einem Rechtsstaat und können es uns nicht erlauben, Menschen in Not zu ignorieren. Als Office social sind wir dazu verpflichtet, ein Gespräch zu führen und innerhalb einer Frist von 25 Tagen eine Überprüfung der Situation vorzunehmen. Hilfe können wir nicht einfach verwehren, ohne die Gründe dafür zu motivieren.
Welches sind im Moment die größten Probleme?
Die Wohnungsproblematik hat am deutlichsten zugenommen. Sie war zwar immer schon eine große Sorge, der Unterschied ist jedoch, dass sich die Menschen mit niedrigem Einkommen früher mit staatlicher Unterstützung ein Haus oder Häuschen kaufen konnten. Das ist heute nicht mehr drin. Sie müssen mieten. Ein großer Teil ihres kleinen Lohns – manchmal bis zu 50 Prozent – fließt ins Wohnen.
Im Klartext: Es fehlt an Sozialwohnungen?
Eindeutig. Und das fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Sozialämter. Wir müssen Notunterkünfte
finden, wenn jemand von heute auf morgen auf die Straße gesetzt wird, es ist aber nicht unsere Aufgabe, Wohnungen zu bauen. Initiativen wie Tiny houses, Wohnungshilfe und Agence immobilière sociale (AIS, Anm. d. Red.) könnten deutlich mehr unterstützt werden. Private Immobilienbesitzer sollten gezielt dazu ermutigt werden, ihre Wohnung über diese Wege zu vermieten. Die Sozialämter können diesen wichtigen Teil der Sozialpolitik nur subsidiär ergänzen. Der Staat ist gefordert, den Lead zu übernehmen, zusammen mit den Gemeinden. Ich möchte aber betonen, dass mit einer Wohnung nicht jedes Problem gelöst ist. Bei vielen Menschen, die sich ans Sozialamt wenden, kommt vieles zusammen.
Zum Beispiel?
Ich habe beispielsweise das
Bild einer alleinerziehenden Mutter im Kopf, die in einer beruflichen Übergangsphase steckt, weil ihr befristeter Vertrag ausläuft, die zudem nur einen Mietvertrag über drei Jahre hat und sich neben diesen Baustellen auch noch um ihre drei kleinen Kinder kümmern muss. Ich frage mich oft, wie es dieser Frau oder Menschen in ähnlichen Situationen gelingt, abends die Sorgen beiseitezuschieben, um mit den Kindern Hausaufgaben zu machen. Diese emotionale Unsicherheit, diese zusätzliche Belastung kostet sehr viel Energie. Und auch das ist Armut. Nicht selten wird vergessen, dass hinter Zahlen und Statistiken immer noch Menschen stecken – und oft viel Leid.
Haben es Alleinerziehende besonders schwer?
Zweifelsohne, allein schon wegen der Energie, die sie aufbringen müssen. Oft verfügen sie über ein niedriges Einkommen, arbeiten in Berufen, wo Schul- und Arbeitszeiten nicht miteinander harmonieren, oder gleich in Teilzeit. Noch dazu haben sie häufig kein Netzwerk, das sie auffängt. Sie müssen alles allein stemmen. Dass diese Menschen das überhaupt schaffen, erstaunt mich auch nach 40 Jahren im Sozialbereich noch.
Nun sind die Zeiten noch schwerer geworden. Alles wird teurer. Die Energiepreise explodieren. Hat sich das bereits in den Sozialämtern bemerkbar gemacht oder rechnen Sie mit mehr Zulauf?
Ein großer Rush war bisher nicht spürbar. Das liegt möglicherweise daran, dass die meisten Sozialhilfeempfänger Mieter sind und die Nebenkostenabrechnung noch aussteht. Kann jemand seine Gas- oder Heizöl-Rechnung nicht zahlen, sind wir laut Gesetz von 2009 jetzt schon dazu befähigt, sie zu übernehmen. Wir befürchten, dass mehr Menschen in finanzielle Schwierigkeiten rutschen, wenn Nachzahlungen auf sie zukommen oder die Nebenkosten angehoben werden, weil die Energiepreise steigen.
Zu den neuen Armen gehören scheinbar immer mehr Menschen aus dem Mittelstand. Können Sie das bestätigen?
Aus den gleichen Ursachen haben wir da noch keinen Zuwachs bemerkt. Das Einkommen der unteren Mittelschicht liegt bei etwas über 3 000 Euro. Das wird also bestimmt nicht ausbleiben. Da müssen aber dann andere mitanpacken. Die Sozialämter können nicht alles stemmen.
Und sie sind auch so schon gut ausgelastet…
Mehr als ausgelastet. Einem weiteren Ansturm könnten wir nicht gerecht werden. Wir können nicht die Anlaufstelle für alle Probleme sein, die es in der Gesellschaft gibt. Gute Sozialarbeit ist darüber hinaus zeitaufwendig. Mehr würden wir nicht schaffen. Verschiedene Gemeinden stoßen bereits an ihre Grenzen. Eine Aufstockung des Personals könnte wiederum am großen Mangel an qualifizierten Mitarbeitern scheitern.
Im Juni wurde bei der „Journée du travail social dans les communes“in Mersch auch der Anstieg des bürokratischen Aufwands beklagt?
Die bürokratischen Hürden machen es den Sozialhilfeempfängern tatsächlich nicht gerade leicht. Auch da sind unsere Mitarbeiter gefordert. Stichwort Subvention loyer. Diese Hilfe ist nicht bekannt genug, das haben auch wir in den Sozialämtern festge
stellt. Verschiedene Formulare sind noch dazu kompliziert. Es sind manchmal Kleinigkeiten, an denen die Menschen scheitern. Für bestimmte Hilfen sind dann auch noch verschiedene Verwaltungen zuständig. Kein Wunder, dass da vieles durcheinandergerät und niemand mehr durchblickt.
Die Regierung muss im Kampf gegen die Armut handeln und mehr tun.
Gerade die Reform des Revis-Gesetzes soll die Dinge verkompliziert haben?
Das stimmt. Unsere Mission ist durch das Sozialhilfe-Gesetz von 2009 klar und transparent: Das Sozialamt ist als öffentliche Einrichtung dazu verpflichtet, jedem zu helfen, der Hilfe benötigt und eine für ihn angepasste Lösung zu finden. Seit der Reform des Revis, früher RMG, wurden die Regionalbeauftragten für soziale Eingliederung (ARIS, Anm. d. Red.) des Office national d'inclusion sociale (ONIS, Anm. d. Red) als externe Verwaltung in die Sozialämter integriert, um den Zugang zu Informationen zu erleichtern.
Weil ihre Prozedur aber eine andere ist, kam es nicht zu den gewünschten Verbesserungen, vielmehr treten wir uns ein bisschen gegenseitig auf die Füße. In Sachen Revis-Gesetz müsste deshalb erneut nachgebessert werden. Vieles, was früher nicht kompliziert war, ist es jetzt.
Wie könnte man verhindern, dass noch mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft geraten?
Das klingt vielleicht etwas naiv, aber: durch eine menschliche Gesellschaft, in der die Menschen miteinander zu tun haben, nett zueinander sind und merken, wenn es dem Nachbarn nicht gut geht. Das mag banal klingen, aber diese kalte Gesellschaft, in der wir leben, ist nicht der richtige Weg. Die Menschen brauchen das Gefühl, in einem guten Netzwerk aufgehoben zu sein. Ich plädiere für eine menschliche Gesellschaft. Wir sind noch dazu heute mit viel mehr Sprachen und sogar anderen Alphabeten konfrontiert. Eigene Übersetzer wären sinnvoll. Das erste Gespräch ist das Eingangstor zu einer guten Begleitung. Wenn sich die Menschen nicht ausdrücken können oder unsere Mitarbeiter sie nicht verstehen, ist das ein schlechter Start für eine effiziente Sozialarbeit.
Und konkreter auf die Arbeit der Regierung bezogen?
Die Regierung muss im Kampf gegen die Armut handeln und mehr tun, zusammen mit der Sozialhilfe und zusammen mit den Betroffenen. Es muss wieder verstanden werden, was Sozialarbeit ist. Wir dürfen nicht nur über Budgets, Formulare und Prozeduren reden. Gelegentlich hört man ja, dass Sozialhilfeempfänger nur „e Fouss hannebäi“bräuchten. Nein, wir Sozialarbeiter müssen dem einzelnen Menschen dabei helfen, mit seinen Ressourcen wieder Fuß zu fassen und so verhindern, dass Armut von Generation