Zurück auf Los
So einen Entwurf für ein Grundgesetz hat es noch nie gegeben. Experten sprachen bereits vom modernen und avantgardistischen Vorbildcharakter der chilenischen Verfassung, der Strahlkraft weit über Lateinamerika hinaus haben könnte. Umweltschutz, das Recht auf Abtreibung, soziale Standards und Rechte von Ureinwohnern sollten fest verankert werden. Geschrieben wurde sie von linken politischen Kräften und Mitgliedern der Zivilgesellschaft, Juristen und Verfassungsexperten. Die professionellen Politiker spielten nur eine Nebenrolle. Doch der mit hohen Erwartungen ausgearbeitete Entwurf ist mit klarer Mehrheit abgewiesen worden. Ein absolutes No-Go für die Opfer der Militärdiktatur und die Hunderttausenden Demonstranten, die 2019 auf die Straße gingen, um nachhaltige Veränderungen einzufordern!
Denn damit bleibt die derzeitige Verfassung, die noch aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (19731990) stammt, weiterhin in Kraft, auf die viele Menschen zurecht die wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten in Chile zurückführen. Steht sie doch für einen zügellosen Neoliberalismus ohne Schranken für private Unternehmen und einen schwachen Staat, der die soziale Daseinsfürsorge im Bildungs- und Gesundheitssystem vernachlässigt.
Das chilenische Referendum macht aber auch deutlich, dass ähnlich wie im Fall des dreifachen Neins zu den vorgeschlagen Verfassungsänderungen von Blau-Rot-Grün in Luxemburg im Jahr 2015, die Wähler eher selten die Fragen beantworten, die auf dem Zettel stehen. Stattdessen geraten sie auch immer zu einer Vertrauensabstimmung über die jeweilige Regierung. Und die Beliebtheit von Linkspräsident Gabriel Boric ist seit dessen Wahl dramatisch gesunken. Rückblick: 2020 hatten noch knapp 80 Prozent der Wähler bei einem Plebiszit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Im Mai 2021 errang das linke Parteienbündnis „Frente Amplio“dann die Mehrheit der Sitze im Verfassungskonvent. Und Ende 2021 wurde mit Boric ein linker Präsident gewählt. Doch seitdem haben sich die Vorzeichen geändert, es gab einen wirtschaftlichen Abschwung, der für die politische Opposition einen idealen Nährboden für Angstmacherei und Warnungen vor einer „kommunistischen Diktatur“bot.
Chiles Präsident muss nun auf die gemäßigten Linken und die moderaten Rechten zugehen, um einen neuen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, der Aussicht auf Erfolg hat. Denn diesen Fehler müssen sich Boric und seine Gefolgsleute ankreiden lassen: Sie haben die Bedenken der Gemäßigten von Anfang an außer Acht gelassen, statt sie mit ins Boot zu holen. In der naiven Vorstellung, dass eine komfortable Mehrheit bei den vorangegangenen Urnengängen ihnen auch automatisch eine Mehrheit bei einem Verfassungsreferendum einbringen würde. Nun müssen sie Wasser in ihren Wein schütten. Denn in einem Punkt ist sich die große Mehrheit der Chilenen einig: Die Pinochet-Verfassung beizubehalten, ist keine Option. Ansonsten wird der Kampf um ein neues Grundgesetz schon bald wieder auf der Straße ausgetragen werden.
Das PinochetGrundgesetz beizubehalten, ist keine Option.