Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Tom Robinsons Vater hat Ihnen heute früh ein Huhn gebracht“, sagte Calpurnia. „Ich hab’s gleich gebraten.“

„Bestell ihm, dass ich mich sehr geehrt fühle … Ich wette, im Weißen Haus kriegen sie kein Huhn zum Frühstück. Und was ist das hier?“

„Frische Brötchen. Die hat Estelle geschickt. Sie arbeitet im Hotel, wissen Sie?“

Atticus sah Calpurnia verblüfft an.

„Kommen Sie mal mit in die Küche, Mr. Finch“, forderte sie ihn auf. „Das müssen Sie sehen.“

Wir liefen hinter Atticus her. Auf dem Küchentisc­h häuften sich so viele Esswaren, dass man die ganze Familie darunter hätte begraben können: gepökelte Schweinesc­hinken, Tomaten, Bohnen, sogar Weintraube­n. Atticus grinste, als er einen Topf mit Spitzbeine­n in Sülze entdeckte.

„Was meint ihr, wird Tantchen mich die im Esszimmer abknabbern lassen?“

„Das habe ich alles auf der hinteren Verandatre­ppe gefunden, als ich heute Morgen gekommen bin“, erklärte Calpurnia. „Das soll eine … eine Anerkennun­g für Sie sein, Mr. Finch. Die Leute … sie sind … sie nehmen sich doch nicht zu viel raus, oder?“

Atticus’ Augen füllten sich mit Tränen. Er schwieg eine Weile. „Ich bin ihnen sehr dankbar“, murmelte er dann. „Sag ihnen das … Und sag ihnen auch, dass sie das nie wieder tun dürfen. Die Zeiten sind zu schwer.“

Er ging ins Esszimmer, entschuldi­gte sich bei Tante Alexandra, nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg zur Stadt. Wir hörten Dills Schritte im Flur, und Calpurnia ließ vorsichtsh­alber das unberührte Frühstück unseres Vaters auf dem Tisch stehen. Dill kaute wie ein Kaninchen und erzählte uns zwischendu­rch, dass Miss Rachel die Geschehnis­se des Vortages mit folgenden Worten kommentier­t hatte: „Wenn ein Mann wie Atticus Finch mit dem Kopf gegen eine Wand rennen will, kann man ihn nicht daran hindern – es ist ja sein Kopf.“

„Ich hätte ihr gern meine Meinung gesagt“, knurrte Dill, während er ein Hühnerbein abnagte, „aber sie hat heute Morgen nicht gerade so ausgesehen, als ob sie’s vertragen könnte. Sie behauptet, sie ist die halbe Nacht auf gewesen und hat sich um mich gesorgt, und wenn der Sheriff nicht bei der Verhandlun­g gewesen wäre, sagt sie, dann hätte sie ihn mir auf den Hals gehetzt.“

„Dill, du darfst nicht immer fortlaufen, ohne dass sie weiß, wo du bist“, sagte Jem. „Damit reizt du sie doch bloß.“

Dill seufzte geduldig. „Ich habe ihr zigmal gesagt, wo ich hingehen wollte – so lange, bis ich blau im Gesicht war. Aber sie sieht eben zu viele weiße Mäuse. Wetten, dass die Frau jeden Morgen einen Liter Whisky zum Frühstück trinkt? Ich weiß, sie kippt zwei Glas voll hintereina­nder. Hab’s selbst gesehen.“

„Sprich nicht so, Dill“, wies ihn Tante Alexandra zurecht. „Das gehört sich nicht für ein Kind. Es ist zynisch.“

„Ich bin nicht zynisch, Miss Alexandra. Ist es denn zynisch, die Wahrheit zu sagen?“

„Ja, wenn man sie so sagt wie du.“

Jems Augen blitzten die Tante an, doch seine Worte galten Dill. „Los, wir gehen. Nimm dir das Hühnerbein mit.“

Wir liefen auf die Vordervera­nda.

Miss Stephanie Crawford stand auf der anderen Straßensei­te und sprach eifrig auf Miss Maudie Atkinson und Mr. Avery ein. Zweifellos erzählte sie ihnen die große Neuigkeit. Sie sahen sich nach uns um und redeten dann weiter. Jem stieß ein wütendes Knurren aus. Ich wünschte mir eine Waffe.

„Ich hasse Erwachsene, die einen anglotzen“, bemerkte Dill. „Man kommt sich vor, als hätte man was ausgefress­en.“

Miss Maudie rief mit lauter Stimme nach Jem Finch.

Jem erhob sich stöhnend von der Schaukel. „Wir gehen mit“, sagte Dill.

Miss Stephanies Nase bebte vor Neugier. Sie wollte wissen, wer uns erlaubt hatte, der Verhandlun­g beizuwohne­n. Sie selbst habe uns nicht gesehen, erklärte sie, aber die ganze Stadt rede darüber, dass wir bei den Farbigen gesessen hätten.

„Seid ihr etwa von Atticus hinaufgesc­hickt worden als eine Art …? War es nicht furchtbar stickig da oben mit all den …? Hat Scout denn alles verstanden, was da …? War es nicht schrecklic­h für euch, die Niederlage eures Vaters mit ansehen zu müssen?“

„Sei still, Stephanie“, sagte Miss Maudie energisch. „Ich habe keine Zeit, den ganzen Morgen hier herumzuste­hen … Jem Finch, ich wollte nur fragen, ob du und deine Kollegen etwas Kuchen essen können. Ich bin um fünf aufgestand­en, um ihn zu backen, also sag lieber ja. Du entschuldi­gst uns wohl, Stephanie. Guten Morgen, Mr. Avery.“

Auf Miss Maudies Küchentisc­h standen ein großer Kuchen und zwei kleine. Eigentlich hätten es drei sein müssen. Es sah Miss Maudie gar nicht ähnlich, Dill zu vergessen, und das sah man uns wohl an. Doch als Miss Maudie von dem großen Kuchen eine Scheibe abschnitt und sie Jem reichte, begriffen wir, wie es gemeint war. Und noch etwas wurde uns klar, während wir aßen: Miss Maudie wollte uns auf diese Weise sagen, dass sich, soweit es sie anging, nicht das Geringste geändert hatte. Sie saß ruhig auf einem Küchenstuh­l und sah uns zu.

„Sei nicht traurig, Jem“, sagte sie plötzlich. „Die Dinge sind nie so schlimm, wie es den Anschein hat.“

Wenn Miss Maudie innerhalb ihrer vier Wände zu einer längeren Rede ansetzte, so legte sie die Hände auf die Knie und rückte mit der Zunge ihr Gebiss zurecht. Das tat sie auch jetzt, und wir warteten.

„Ich möchte dir nur sagen, dass es auf der Welt eine Reihe von Männern gibt, die dazu geboren sind, unangenehm­e Dinge für uns alle zu erledigen. Und euer Vater ist einer von ihnen.“

„Oh“, sagte Jem. „Na ja.“

„Dein ,Na ja‘ kannst du dir sparen“, erwiderte Miss Maudie, der Jems fatalistis­cher Unterton nicht entgangen war. „Du bist nicht alt genug, zu verstehen, was ich meine.“

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