Der Bösewicht macht ernst
Nach seinem Sieg gegen den Titelverteidiger steigt Tennisprofi Nick Kyrgios bei den US Open zum Favoriten auf
Was hat Nick Kyrgios nicht schon alles geboten bei den US Open? Er war der Störenfried, der Streithansel, der Provokateur. Auch Rowdy und Rüpel. Manchmal der Klassenclown, der Mätzchenmacher. Gerne der lümmelhafte, verzogene, desinteressierte Tennis-Millionär. Bei den Grand-SlamFestspielen 2018 stieg sogar ein Schiedsrichter von seinem Stuhl herab, um dem lustlosen Australier eine Motivationsrede zu halten.
Neuerdings hat Kyrgios aber die vielleicht verblüffendste Rolle in seinem turbulenten, niemals langweiligen Leben als Tennis-Nomade eingenommen: Nach den wilden Flegeljahren, all den kleinen und großen Skandalen, den Sperren und Strafen, tritt der australische Bad Boy nunmehr als ernsthafter, ziemlich seriöser Profi auf.
Genie und Wahnsinn
Und zwar mit durchschlagendem Erfolg: Nach seinem Finaleinzug im ehrwürdigen Grand-Slam-Tempel von Wimbledon mausert sich der früher zwischen Genie und Wahnsinn schwankende Australier aktuell auch zum Mitfavoriten bei den Offenen Amerikanischen Meisterschaften in Flushing Meadows.
Der Erfolg in Wimbledon hat mich hungrig gemacht. Nick Kyrgios
Als Kyrgios Sonntagnacht den Nummer-Eins-Mann und Titelverteidiger Daniil Medvedev mit 7:6 (13:11), 3:6, 6:3 und 6:2 abserviert hatte, stellte er sich anschließend in leicht aufreizender Pose mitten hinein ins größte Tennisstadion der Welt – und ließ nach dezenter Aufforderung noch einmal den Beifallssturm auf sich einprasseln. Es sah aus, als wolle er den Massen sagen: Schaut her, habt ihr nicht bekommen, was ihr sehen wolltet.
Kyrgios ist beileibe noch nicht der gezähmte Widerspenstige, der vollkommen geläuterte Bösewicht. Er hat noch seine Kyrgios-Momente, etwa, als er in seinem Zweitrundenmatch im Big Apple in Richtung seiner Entourage spukte und sie wüst beschimpfte. Oder als er im Duell mit Turnierfavorit Medvedev einen Ball an die obere Begrenzung der Werbebande jagte, viel hatte da nicht zu einem Wirkungstreffer in Richtung der Zuschauer und einer Disqualifikation gefehlt.
Doch viel öfter ist Kyrgios dieser Tage der begeisternde Gladiator, der serienweise die verrücktesten und unmöglichen Schläge von seinem Racket zaubert. Kyrgios gibt nur noch sehr sporadisch, aber eben nicht mehr nachhaltig, seinen Launen nach. „Der Erfolg in Wimbledon hat mich hungrig gemacht. Ich spüre, wie viel Spaß es macht, in den größten Arenen die größten Gegner zu haben. Und zu gewinnen. Ich will hier den ganzen Weg gehen.“
Gegen Medvedev leistete sich Kyrgios auch eine dieser Szenen, die für seine magische Unberechenbarkeit stehen, für eine fast kindische Provokationslust. Nach einem Passierball des Australiers zu Beginn des dritten Satzes kam Medvedev noch mit Mühe an die Kugel, die hoch in den Himmel aufstieg und hoffnungslos in das Feld des Russen zu fallen schien. Doch da kam Kyrgios angestürmt, weit auf Medvedevs Seite, jagte einen Schmetterball auf den blauen Hardcourt. Kyrgios freute sich, doch nur, bis Schiedsrichterin Eva Asderaki-Moore den Punkt regelkonform an Medvedev gab. Ein Black-out der harmloseren KyrgiosSorte. Später schalt sich der 27-jährige selbst einen „Idioten“: „Das Ding wird jetzt bestimmt im Fernsehen rauf und runter gezeigt.“
John McEnroe, früher selbst mit Regeln und Offiziellen auf Kriegsfuß und doch siebenmaliger Grand-SlamSieger, nannte Kyrgios einst „den talentiertesten Spieler der Erde unter Dreißig“. Er schob allerdings nach, „dass es eben auch das Talent gibt, harte Arbeit in Siege zu verwandeln“.
Absolute Einmaligkeit
Kyrgios versucht gerade diesen Spagat: ernsthafter Berufsspieler zu sein, seriöse Arbeit zu liefern, regelmäßig Trainingsfleiß zu zeigen – aber nicht die ebenso einzigartigen wie exzentrischen Spielmöglichkeiten aufzugeben, die absolute Einmaligkeit als hochbegabter Akteur im großen Tennistheater. „Schafft er es, ein Topprofi zu sein und Nick Kyrgios zu bleiben, hat er das Allerbeste erst vor sich“, sagt der ehemalige Sampras- und Federer-Coach
Paul Annacone, „dann stehen ihm alle Türen offen“.
Kyrgios ist inzwischen der Mann, der seit den French Open die beste Matchbilanz aller Profis hat. Er hat nach knapp vier Monaten auf der Tour in Europa und Nordamerika allerdings auch Heimweh, nach den US Open will er dringend zurück nach Australien jetten. Dass er sich in New York womöglich zum König krönen könnte (er spielt im Viertelfinale gegen den Russen Karen Khachanov), erscheint ihm dabei fast surreal: „Die Stadt macht mich fertig“, sagt Kyrgios, „all diese Menschen, diese Geräusche, dieser Lärm. Ich weiß nicht, wie man hier überhaupt leben kann“.