Wer die Nachtigall stört
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Er unterbrach sich und sah uns an. „Vielleicht interessiert es euch, dass einer der Geschworenen gehörig bearbeitet werden musste, denn anfangs hat er energisch einen glatten Freispruch verlangt.“
„Wer?“, fragte Jem erstaunt. Atticus zwinkerte ihm zu. „Das darf ich nicht verraten, ich sage nur so viel, dass es einer eurer Freunde aus Old Sarum war.“
Jem schnappte nach Luft. „Ein Cunningham? Wirklich ein … Ich habe keinen von ihnen erkannt … Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“„Einer ihrer Verwandten. War eine Art Eingebung, dass ich ihn nicht abgelehnt habe. Als wenn ich’s geahnt hätte. Ich hätte ihn ablehnen können und hab’s dann doch nicht getan.“
„Heiliger Bimbam“, sagte Jem ehrfurchtsvoll. „Eben versuchen sie noch, ihn umzubringen, und einen Augenblick später kämpfen sie darum, ihn freizukriegen … Aus den Leuten werde ich nicht schlau, solange ich lebe.“
Man müsse sie eben kennen, meinte Atticus. Die Cunninghams wären niemandem zur Last gefallen, hätten nichts angenommen und nichts weggenommen, seit sie in die Neue Welt eingewandert seien. Zu ihren guten Eigenschaften gehöre ferner, dass sie rückhaltlos zu einem jeden stünden, der sich ihre Achtung erworben habe. Er glaube – nein, das sei zu viel gesagt –, er vermute, sie hätten ihren Rückzug in jener Nacht mit erheblichem Respekt vor den Finchs angetreten. „Hätten wir zwei von der Sorte gehabt, dann wären sich die Geschworenen nie einig geworden.“„Du hast also tatsächlich einen Mann als Geschworenen zugelassen, der dich in der Nacht davor umbringen wollte?“, fragte Jem. „Wie konntest du nur so was riskieren, Atticus? Das verstehe ich einfach nicht.“
„Bei Licht besehen war das Risiko gar nicht so groß. Wenn ich einen Mann, der für schuldig stimmen will, durch einen anderen ersetze, der die gleiche Absicht hat, dann macht das doch keinen Unterschied, nicht wahr? Andererseits besteht ein kleiner Unterschied zwischen einem Mann, der für schuldig stimmen will, und einem anderen, der etwas schwankend geworden ist. Er war der Einzige auf der Liste, dessen Urteil nicht von vorn herein feststand.“
„Wie ist dieser Mann denn mit Mr. Walter Cunningham verwandt?“, erkundigte ich mich.
Atticus stand auf, reckte sich und gähnte. Nicht dass er die Absicht gehabt hätte, schlafen zu gehen; er wollte uns nur bedeuten, dass er sich nach seiner Zeitung sehnte. Er hob sie auf, faltete sie und tippte mir damit auf den Kopf. „Mal sehen“, murmelte er vor sich hin. „Ich hab’s. Zweifacher Vetter ersten Grades.“„Zweifach? Wie ist das möglich?“
„Zwei Schwestern heirateten zwei Brüder. Mehr sage ich nicht – sieh zu, dass du’s selbst herauskriegst.“
Ich zerbrach mir den Kopf und kam schließlich zu folgendem Ergebnis: Wenn ich Jem heiratete und wenn Dill eine Schwester hätte, die er heiraten könnte, dann wären unsere Söhne zweifache Vettern ersten Grades. „Du meine Güte“, sagte ich, als Atticus gegangen war, „was sind das für merkwürdige Leute! Hast du das gehört, Tante?“
Tante Alexandra häkelte an einem Teppich, und wenn sie uns auch nicht ansah, so entging ihr doch kein Wort, das wir sprachen. Sie saß in ihrem Stuhl, den Handarbeitskorb neben sich, den Teppich auf dem Schoß. Wie Ladys an glühend heißen Abenden wollene
Teppiche häkeln konnten, war mir ein Rätsel.
„Ich habe es gehört“, erwiderte sie.
Mir fiel der weit zurückliegende Zwischenfall ein, als ich dem jungen Walter Cunningham zu Hilfe geeilt war. Jetzt freute ich mich, dass ich es getan hatte. „Wenn die Schule wieder anfängt, lade ich Walter zum Mittagessen ein“, plante ich. Meinen Beschluss, ihn beim nächsten Wiedersehen zu verprügeln, hatte ich völlig vergessen. „Er kann auch nach der Schule zu uns kommen, und Atticus fährt ihn dann abends nach Old Sarum. Oder er übernachtet bei uns, ja, Jem?“
„Das werden wir sehen“, sagte Tante Alexandra – ein Ausspruch, der in ihrem Mund stets eine Drohung, nie ein Versprechen war.
Überrascht wandte ich mich nach ihr um. „Warum nicht, Tante? Die Cunninghams sind gute Leute.“
Sie schaute mich über ihre Brille hinweg an. „Jean Louise, ich bezweifle durchaus nicht, dass sie gute Leute sind. Aber sie passen nicht zu uns.“
„Sie meint, sie sind ordinär, Scout“, erklärte Jem.
„Was heißt ordinär?“
„Unfein. Sie mögen Fiddle-Musik und solche Sachen.“
„Na, ich auch …“
„Sei nicht albern, Jean Louise“, sagte Tante Alexandra. „Die Sache ist so: Du kannst Walter Cunningham scheuern, bis er glänzt, du kannst ihm Schuhe und einen neuen Anzug anziehen, und doch wird er nie wie Jem aussehen. Außerdem hat die Familie einen Hang zum Trinken, einen gewaltigen Hang sogar. Eine Finch gibt sich mit solchen Leuten nicht ab.“
„Tante“, sagte Jem, „sie ist noch nicht mal neun.“
„Je früher sie’s erfährt, desto besser.“
Tante Alexandra hatte gesprochen. Ich wurde lebhaft an jenen Abend erinnert, an dem sie sich aus unerfindlichen Gründen ebenfalls quergestellt hatte. Das war damals gewesen, als ich die Absicht äußerte, Calpurnia zu Hause zu besuchen. Ich war neugierig, interessiert, wollte einmal Cals Gast sein und sehen, wie sie wohnte, wer ihre Freunde waren. Ich hätte ebenso gut den Wunsch haben können, die andere Seite des Mondes zu sehen. Diesmal war Tante Alexandras Taktik anders, doch ihr Ziel war dasselbe. Vielleicht war sie deshalb zu uns gekommen: Sie wollte uns bei der Wahl unserer Freunde helfen. Nun, ich war entschlossen, es ihr so schwer wie möglich zu machen. „Wenn die Cunninghams gute Leute sind, warum darf ich dann nicht nett zu Walter sein?“„Davon habe ich nichts gesagt. Natürlich sollst du nett und höflich zu ihm sein. Und nicht nur zu ihm, liebes Kind – zu allen. Aber du musst ihn nicht nach Hause einladen.“