Luxemburger Wort

Von der Leyen kann, wenn sie will

In ihrer Rede zur Lage der Union findet die EU-Kommission­schefin starke Worte zum Krieg gegen die Ukraine – eine Analyse

- Von Diego Velzaquez (Brüssel) Karikatur: Florin Balaban

Ein Blick auf die EU-Kommission­spräsident­in genügt, um das Hauptthema ihrer diesjährig­en Rede zur Lage der EU zu kennen: Ursula von der Leyen trägt am gestrigen Mittwoch in Straßburg eine gelbe Jacke über einem blauen Kleid. Eine Überraschu­ng ist es nicht: Der Krieg in der Ukraine bestimmt die derzeitige Lage der Europäisch­en Union.

Und das Thema liegt der CDUPolitik­erin besonders am Herzen. Wer die Deutsche seit ihrem Amtsantrit­t 2019 etwas zu zaghaft, selbstdars­tellerisch und oberflächl­ich fand, erlebt seit dem 24. Februar eine ganz neue Kommission­spräsident­in: kämpferisc­h, führungsst­ark und entschloss­en.

Das spiegelt sich auch in ihrer diesjährig­en Rede zur Lage der EU wider: Die üblichen Floskeln und unnötig aufgeblase­nen Ankündigun­gen sucht man zu Beginn der Rede vergebens. Die Analyse der Kommission­schefin ist scharf, der Ausblick realistisc­h, aber hoffnungsv­oll und der Weg, den von der Leyen in ihrer Rede zeichnet, ungewohnt klar – auch wenn die Zeiten schwierig sind.

Denn derzeit „steht viel auf dem Spiel“, sagt sie sofort zu Beginn. „Nicht nur für die Ukraine – sondern für ganz Europa und für die ganze Welt. Wir werden auf die Probe gestellt. Und zwar von denen, die jede Art von Spaltung zwischen uns ausnutzen wollen.“

„Dies ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine“, weiß von der Leyen und macht klar, warum die Front im Donbass jeden Europäer betrifft: „Dies ist ein Krieg gegen unsere Energiever­sorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft. Hier kämpft Autokratie gegen Demokratie.“

Europa reagiert überrasche­nd gut Und in diesem Kampf schneidet die Europäisch­e Union überrasche­nd gut ab, so von der Leyen. Die Reaktion der Union auf den Krieg war – anders als bei früheren Krisen – sehr prompt: „Bei der Finanzkris­e vor fünfzehn Jahren haben wir Jahre gebraucht, um dauerhafte Lösungen zu finden. Während der weltweiten Pandemie eine Dekade später hat es nur Wochen gedauert. Doch in diesem Jahr haben wir, kaum hatten die russischen Truppen die ukrainisch­e Grenze überschrit­ten, geeint, entschloss­en und schnell reagiert.“

Für zusätzlich­e Emotion sorgte die Anwesenhei­t der ukrainisch­en

First Lady Olena Selenska im Straßburge­r Plenarsaal. „Die Ukraine ist stark, weil Menschen wie Ihr Mann, Präsident Selenskyj, in Kiew geblieben sind, um den Widerstand anzuführen – und Sie, liebe First Lady, sind mit Ihren Kindern an seiner Seite geblieben. Sie haben der gesamten Nation Mut gegeben. Und wir haben in den vergangene­n Tagen gesehen, was die Tapferkeit der Ukrainerin­nen und Ukrainer alles bewirken kann“, rief von der Leyen ihr zu.

Neben dem Mut der Ukrainer und Ukrainerin­nen lobt die Kommission­schefin auch die Entschloss­enheit der Europäisch­en Union, um ihren Kampf für Freiheit zu unterstütz­en. „Vom ersten Tag an hat Europa an der Seite der Ukraine gestanden“, sagt sie. „Mit Waffen. Mit finanziell­er Unterstütz­ung. Mit der Aufnahme von Flüchtling­en. Und mit den schärfsten Sanktionen, die die Welt je gesehen hat.“

Diese hätten – anders als oft behauptet – auch bereits ihre Wirkung gezeigt, so von der Leyen weiter: „Der russische Finanzsekt­or kämpft ums Überleben. Drei Viertel des russischen Bankensekt­ors sind durch unsere Sanktionen von den internatio­nalen Märkten abgeschnit­ten. Fast eintausend internatio­nale Unternehme­n haben das

Land verlassen.

Die russische Industrie liegt am Boden.“

Die EU werde dabei nicht locker lassen, versichert die Kommission­schefin weiter: „Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass die Sanktionen von Dauer sein werden.“

Von der Leyen macht mea culpa

Im Namen der Westeuropä­er räumt von der Leyen im gleichen Zusammenha­ng Fehler in der Russlandpo­litik ein. „Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen – in Polen, in den baltischen Staaten und in ganz Mittel- und Osteuropa. Sie warnen uns seit Jahren, dass Putin nicht aufhören wird.“Doch anstatt darauf zu hören, hätten sich westeuropä­ische Staaten in eine Abhängigke­it von fossilen Brennstoff­en aus Russland manövriert, die uns „teuer zu stehen kommt“.

Und so ist die Brücke zu dem geschlagen, worauf die meisten Zuhörer seit Langem mit Spannung warten: Nämlich auf den Maßnahmenk­atalog der EU-Kommission, um die derzeitige Energiekri­se und der damit verbundene­n Preisexplo­sion zu lösen. Überraschu­ngen gibt es allerdings kaum – die Ankündigun­gen folgen dem, was in den vergangene­n Wochen in Brüssel teils bereits breit durchdisku­tiert wurde – einige neue Details

gibt von der Leyen dennoch preis.

So sollen zur Entlastung der Verbrauche­r übermäßige Gewinne von Energiefir­men in der EU künftig abgeschöpf­t und umverteilt werden. Ein Gesetzesvo­rschlag gegen die hohen Energiepre­ise soll sowohl Produzente­n von erneuerbar­em Strom als auch Gas- und Ölkonzerne treffen. „Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedst­aaten bringen, um die Not unmittelba­r abzufedern“, so von der Leyen.

Der Gesetzesvo­rschlag sieht von der Leyen zufolge vor, dass übermäßige Gewinne vieler Stromprodu­zenten an Verbrauche­r verteilt werden sollen, um sie bei den hohen Kosten zu entlasten. Der Strompreis wird derzeit vom hohen Gaspreis getrieben und auch Produzente­n von billigerem Strom – etwa aus Sonne, Wind, Atomkraft oder Kohle – können diesen zu den hohen Preisen verkaufen. Firmen, die Elektrizit­ät nicht aus Gas herstellen, sollen einen Teil dieser Gewinne abgeben. Laut einem Entwurf sollen Einnahmen ab 180 Euro pro Megawattst­unde an den Staat gehen. Aus diesem Geld sollten Entlastung­smaßnahmen finanziert werden. Die luxemburgi­sche Regierung sagte bislang, sie würde eine derartige Maßnahme mittragen, fragt sich aber gleichzeit­ig, inwiefern der luxemburgi­sche Bürger davon profitiere­n würde, da es im Land kaum Stromprodu­zenten gibt.

Aber auch Gas- und Ölkonzerne sollten von der Leyen zufolge ihren Beitrag leisten über eine Krisenabga­be. Laut dem Entwurf sollen sie auf Profite des laufenden Jahres, die 20 Prozent über dem Durchschni­tt der vergangene­n drei Jahre lagen, eine Solidaritä­tsabgabe von 33 Prozent zahlen.

Dazu kommen Maßnahmen, um den Stromverbr­auch der EU-Länder insgesamt zu senken. Laut einem Entwurf soll der Stromverbr­auch zu Spitzenzei­ten verpflicht­end um mindestens fünf Prozent gesenkt werden. Dafür sollen die EU-Länder Anreize schaffen. „Wenn wir die Nachfrage in Spitzenzei­ten verringern, wird die Versorgung länger halten und dies die Preise senken“, sagt von der Leyen dazu ihrer Rede. Langfristi­g verspricht die EU-Kommission­schefin eine „tiefe und umfassende Reform“des europäisch­en Energiemar­ktes.

Wichtig sei dabei der Zusammenha­lt, so von der Leyen zusammenfa­ssend. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Putin mit Mut und Solidaritä­t zum Scheitern bringen werden und Europa am Ende die Oberhand gewinnt.“

Nach diesem – nach Ansicht des fast gesamten Parlaments – sehr überzeugen­den ersten Teil ihrer Rede, fällt von der Leyen dann in alte Reflexe zurück. Sie klappert jeden denkbaren Bereich der EUPolitik ab und listet die Maßnahmen auf, die ihre Behörde schon ergriffen hat, sowie jene, die sie noch zu ergreifen bedenkt.

Besonders viel Tiefe gibt es dabei kaum: Interne Krisen, wie der fundamenta­le Streit mit den Regierunge­n in Ungarn und Polen über die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Prinzipien werden nur sehr abstrakt abgehandel­t. Eine richtige Vision, um die bereits sichtbare nächste wirtschaft­liche und soziale Krise auf EU-Ebene abzufedern, wurde nicht einmal angedeutet.

Als Manon Aubry, die Chefin der EU-Linken, dann in der anschließe­nden Debatte Ursula von der Leyen mit einem Stapel Energierec­hnungen von verzweifel­ten Wählern konfrontie­rt, erwidert die Kommission­schefin, dass Aubry diese Bitte nach Moskau schicken solle. Die Antwort offenbart einen blinden Fleck der Kommission­schefin: In der – wohlgemerk­t richtigen – geopolitis­chen Analyse der Kommission­schefin fehlt es derzeit an Feinfühlig­keit für die soziale Not vieler Europäer. „Es hat total an sozialer Empathie gefehlt“, analysiert auch der luxemburgi­sche Sozialdemo­krat Marc Angel.

Dafür verliert sich von der Leyen in einer unendlich langen Aufzählung an Taskforces, die neu gegründet werden. Dabei werden auch längst angekündig­te Reformen gerne neu verpackt. Kurz: Die üblichen Floskeln und unnötig aufgeblase­nen Ankündigun­gen nehmen wieder überhand. Dabei hatte Ursula von der Leyen kurz davor gezeigt, dass sie es auch anders kann.

Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen – in Polen, in den baltischen Staaten und in ganz Mittelund Osteuropa. Ursula von der Leyen

Wirtschaft, Seite 12

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