Von der Leyen kann, wenn sie will
In ihrer Rede zur Lage der Union findet die EU-Kommissionschefin starke Worte zum Krieg gegen die Ukraine – eine Analyse
Ein Blick auf die EU-Kommissionspräsidentin genügt, um das Hauptthema ihrer diesjährigen Rede zur Lage der EU zu kennen: Ursula von der Leyen trägt am gestrigen Mittwoch in Straßburg eine gelbe Jacke über einem blauen Kleid. Eine Überraschung ist es nicht: Der Krieg in der Ukraine bestimmt die derzeitige Lage der Europäischen Union.
Und das Thema liegt der CDUPolitikerin besonders am Herzen. Wer die Deutsche seit ihrem Amtsantritt 2019 etwas zu zaghaft, selbstdarstellerisch und oberflächlich fand, erlebt seit dem 24. Februar eine ganz neue Kommissionspräsidentin: kämpferisch, führungsstark und entschlossen.
Das spiegelt sich auch in ihrer diesjährigen Rede zur Lage der EU wider: Die üblichen Floskeln und unnötig aufgeblasenen Ankündigungen sucht man zu Beginn der Rede vergebens. Die Analyse der Kommissionschefin ist scharf, der Ausblick realistisch, aber hoffnungsvoll und der Weg, den von der Leyen in ihrer Rede zeichnet, ungewohnt klar – auch wenn die Zeiten schwierig sind.
Denn derzeit „steht viel auf dem Spiel“, sagt sie sofort zu Beginn. „Nicht nur für die Ukraine – sondern für ganz Europa und für die ganze Welt. Wir werden auf die Probe gestellt. Und zwar von denen, die jede Art von Spaltung zwischen uns ausnutzen wollen.“
„Dies ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine“, weiß von der Leyen und macht klar, warum die Front im Donbass jeden Europäer betrifft: „Dies ist ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft. Hier kämpft Autokratie gegen Demokratie.“
Europa reagiert überraschend gut Und in diesem Kampf schneidet die Europäische Union überraschend gut ab, so von der Leyen. Die Reaktion der Union auf den Krieg war – anders als bei früheren Krisen – sehr prompt: „Bei der Finanzkrise vor fünfzehn Jahren haben wir Jahre gebraucht, um dauerhafte Lösungen zu finden. Während der weltweiten Pandemie eine Dekade später hat es nur Wochen gedauert. Doch in diesem Jahr haben wir, kaum hatten die russischen Truppen die ukrainische Grenze überschritten, geeint, entschlossen und schnell reagiert.“
Für zusätzliche Emotion sorgte die Anwesenheit der ukrainischen
First Lady Olena Selenska im Straßburger Plenarsaal. „Die Ukraine ist stark, weil Menschen wie Ihr Mann, Präsident Selenskyj, in Kiew geblieben sind, um den Widerstand anzuführen – und Sie, liebe First Lady, sind mit Ihren Kindern an seiner Seite geblieben. Sie haben der gesamten Nation Mut gegeben. Und wir haben in den vergangenen Tagen gesehen, was die Tapferkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer alles bewirken kann“, rief von der Leyen ihr zu.
Neben dem Mut der Ukrainer und Ukrainerinnen lobt die Kommissionschefin auch die Entschlossenheit der Europäischen Union, um ihren Kampf für Freiheit zu unterstützen. „Vom ersten Tag an hat Europa an der Seite der Ukraine gestanden“, sagt sie. „Mit Waffen. Mit finanzieller Unterstützung. Mit der Aufnahme von Flüchtlingen. Und mit den schärfsten Sanktionen, die die Welt je gesehen hat.“
Diese hätten – anders als oft behauptet – auch bereits ihre Wirkung gezeigt, so von der Leyen weiter: „Der russische Finanzsektor kämpft ums Überleben. Drei Viertel des russischen Bankensektors sind durch unsere Sanktionen von den internationalen Märkten abgeschnitten. Fast eintausend internationale Unternehmen haben das
Land verlassen.
Die russische Industrie liegt am Boden.“
Die EU werde dabei nicht locker lassen, versichert die Kommissionschefin weiter: „Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass die Sanktionen von Dauer sein werden.“
Von der Leyen macht mea culpa
Im Namen der Westeuropäer räumt von der Leyen im gleichen Zusammenhang Fehler in der Russlandpolitik ein. „Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen – in Polen, in den baltischen Staaten und in ganz Mittel- und Osteuropa. Sie warnen uns seit Jahren, dass Putin nicht aufhören wird.“Doch anstatt darauf zu hören, hätten sich westeuropäische Staaten in eine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland manövriert, die uns „teuer zu stehen kommt“.
Und so ist die Brücke zu dem geschlagen, worauf die meisten Zuhörer seit Langem mit Spannung warten: Nämlich auf den Maßnahmenkatalog der EU-Kommission, um die derzeitige Energiekrise und der damit verbundenen Preisexplosion zu lösen. Überraschungen gibt es allerdings kaum – die Ankündigungen folgen dem, was in den vergangenen Wochen in Brüssel teils bereits breit durchdiskutiert wurde – einige neue Details
gibt von der Leyen dennoch preis.
So sollen zur Entlastung der Verbraucher übermäßige Gewinne von Energiefirmen in der EU künftig abgeschöpft und umverteilt werden. Ein Gesetzesvorschlag gegen die hohen Energiepreise soll sowohl Produzenten von erneuerbarem Strom als auch Gas- und Ölkonzerne treffen. „Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern“, so von der Leyen.
Der Gesetzesvorschlag sieht von der Leyen zufolge vor, dass übermäßige Gewinne vieler Stromproduzenten an Verbraucher verteilt werden sollen, um sie bei den hohen Kosten zu entlasten. Der Strompreis wird derzeit vom hohen Gaspreis getrieben und auch Produzenten von billigerem Strom – etwa aus Sonne, Wind, Atomkraft oder Kohle – können diesen zu den hohen Preisen verkaufen. Firmen, die Elektrizität nicht aus Gas herstellen, sollen einen Teil dieser Gewinne abgeben. Laut einem Entwurf sollen Einnahmen ab 180 Euro pro Megawattstunde an den Staat gehen. Aus diesem Geld sollten Entlastungsmaßnahmen finanziert werden. Die luxemburgische Regierung sagte bislang, sie würde eine derartige Maßnahme mittragen, fragt sich aber gleichzeitig, inwiefern der luxemburgische Bürger davon profitieren würde, da es im Land kaum Stromproduzenten gibt.
Aber auch Gas- und Ölkonzerne sollten von der Leyen zufolge ihren Beitrag leisten über eine Krisenabgabe. Laut dem Entwurf sollen sie auf Profite des laufenden Jahres, die 20 Prozent über dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahre lagen, eine Solidaritätsabgabe von 33 Prozent zahlen.
Dazu kommen Maßnahmen, um den Stromverbrauch der EU-Länder insgesamt zu senken. Laut einem Entwurf soll der Stromverbrauch zu Spitzenzeiten verpflichtend um mindestens fünf Prozent gesenkt werden. Dafür sollen die EU-Länder Anreize schaffen. „Wenn wir die Nachfrage in Spitzenzeiten verringern, wird die Versorgung länger halten und dies die Preise senken“, sagt von der Leyen dazu ihrer Rede. Langfristig verspricht die EU-Kommissionschefin eine „tiefe und umfassende Reform“des europäischen Energiemarktes.
Wichtig sei dabei der Zusammenhalt, so von der Leyen zusammenfassend. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Putin mit Mut und Solidarität zum Scheitern bringen werden und Europa am Ende die Oberhand gewinnt.“
Nach diesem – nach Ansicht des fast gesamten Parlaments – sehr überzeugenden ersten Teil ihrer Rede, fällt von der Leyen dann in alte Reflexe zurück. Sie klappert jeden denkbaren Bereich der EUPolitik ab und listet die Maßnahmen auf, die ihre Behörde schon ergriffen hat, sowie jene, die sie noch zu ergreifen bedenkt.
Besonders viel Tiefe gibt es dabei kaum: Interne Krisen, wie der fundamentale Streit mit den Regierungen in Ungarn und Polen über die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien werden nur sehr abstrakt abgehandelt. Eine richtige Vision, um die bereits sichtbare nächste wirtschaftliche und soziale Krise auf EU-Ebene abzufedern, wurde nicht einmal angedeutet.
Als Manon Aubry, die Chefin der EU-Linken, dann in der anschließenden Debatte Ursula von der Leyen mit einem Stapel Energierechnungen von verzweifelten Wählern konfrontiert, erwidert die Kommissionschefin, dass Aubry diese Bitte nach Moskau schicken solle. Die Antwort offenbart einen blinden Fleck der Kommissionschefin: In der – wohlgemerkt richtigen – geopolitischen Analyse der Kommissionschefin fehlt es derzeit an Feinfühligkeit für die soziale Not vieler Europäer. „Es hat total an sozialer Empathie gefehlt“, analysiert auch der luxemburgische Sozialdemokrat Marc Angel.
Dafür verliert sich von der Leyen in einer unendlich langen Aufzählung an Taskforces, die neu gegründet werden. Dabei werden auch längst angekündigte Reformen gerne neu verpackt. Kurz: Die üblichen Floskeln und unnötig aufgeblasenen Ankündigungen nehmen wieder überhand. Dabei hatte Ursula von der Leyen kurz davor gezeigt, dass sie es auch anders kann.
Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen – in Polen, in den baltischen Staaten und in ganz Mittelund Osteuropa. Ursula von der Leyen