„Lokomotive“mit Witz und Haltung
Der2 1. August 1968: Truppen des Warschauer Pakts besetzen die Tschechoslowakei, die damals noch ein gemeinsamer Staat von Tschechen und Slowaken ist, und beenden den „Prager Frühling“. Die um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“bemühte Regierung des Reformkommunisten Alexander Dubcek wird entmachtet. Zu jenen, die in dieser Situation gewaltlosen Widerstand leisten, gehört ein Oberst der tschechoslowakischen Armee. Als er von der Invasion erfährt, eilt er in Zivilkleidung auf den Prager Wenzelsplatz, auf dem sich bereits tausende Demonstranten den russischen Panzern in den Weg stellen. Er besteigt das Podest der Wenzelsstatue und verurteilt den Einmarsch mit scharfen Worten. Später kommt er in Uniform wieder, klettert auf einen russischen Panzer und fordert die Besatzung zur Rückkehr in die Sowjetunion auf.
Der Offizier, der in diesen Tagen wiederholt versucht, mit den russischen Soldaten ins Gespräch zu kommen, heißt Emil Zátopek. Dank seiner großen sportlichen Erfolge genießt er in der Tschechoslowakei höchste Popularität, die er nun zu nutzen versucht. Er hat auch das im Juni 1968 veröffentlichte „Manifest der 2000 Worte“, mit dem prominente Bürger der Tschechoslowakei auf Reformen drängten, unterzeichnet. Zátopeks Handeln – in Interviews pocht er auf die Souveränität der CSSR und fordert sogar den Ausschluss der Sowjetunion von den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko – ist freilich zum Scheitern verurteilt. Man bezichtigt ihn illegaler Aktionen und wirft ihn aus der Armee und aus der Partei. Er muss sich als Müllmann und später als Wanderarbeiter im Bergbau durchschlagen, entgeht aber wegen seiner früheren sportlichen Verdienste einer Haftstrafe.
Zátopeks Leistungen als Langstreckenläufer sind in der Tat einzigartig. Dabei ist ihm keineswegs in die Wiege gelegt, noch zu Lebzeiten – 1999, als der Tschechische Olympische Ausschuss sein 100-jähriges Bestehen feiert – zum „Olympiateilnehmer des Jahrhunderts“gewählt zu werden. Er wird am 19. September 1922 in Kaprivnice als siebentes von acht Kindern eines Schreiners geboren. Emil vermeidet in jungen Jahren weitgehend sportliche Aktivitäten, gilt aber als fleißiger und begabter Schüler – er spricht später übrigens viele Fremdsprachen, nämlich Französisch, Englisch, Russisch, Deutsch, Ungarisch, Spanisch, Finnisch, Indonesisch und Serbokroatisch.
Die von seinen Eltern angestrebte Ausbildung zum Lehrer scheitert an den Hochschulgebühren, Emil erlernt stattdessen bei den Bata-Werken
in Zlin das Schuhmacherhandwerk und kommt nach einiger Zeit dank seiner Intelligenz in die dortige Forschungsabteilung. Vom Sport will er sich am liebsten drücken, erhält aber vom Arzt nicht die erhoffte Befreiung. Nur auf ausdrücklichen Befehl seines Chefs startet Zátopek 1941 bei einem von den Bata-Werken organisierten örtlichen Betriebslauf. Er wird prompt Zweiter und gewinnt einen Füllfederhalter. „Von da an lief ich einfach weiter“, erzählt er später. Zátopeks Glück ist, dass er in dem wenige Jahre älteren Jan Haluza (19142011), der selbst Läufer und promovierter Jurist ist, einen hervorragenden Trainer findet. Haluza stellt Zátopeks Ernährung und Lebensgewohnheiten radikal um und unterwirft ihn einem harten Training. Nach der Machtergreifung der Kommunisten wird 1950 Haluza wegen seiner regimekritischen Haltung in einem Schauprozess zu sechs Jahren Zwangsarbeit in Uranbergwerken verurteilt, erst nach der Samtenen Revolution von 1989 wird er rehabilitiert und knapp vor seinem Tod – er überlebt seinen Schützling Zátopek um mehr als zehn Jahre – mit einem Orden ausgezeichnet.
Zátopek hat durch Haluza, dessen Verurteilung ihn schockiert und dem er freundschaftlich verbunden bleibt, das Intervalltraining gelernt, das er schon seit Kriegsende allein in einem fast unvorstellbaren Ausmaß praktiziert. Bald stellen sich größere Erfolge ein – nationale Rekorde und Titel, aber auch Spitzenplätze und dann sogar Siege bei internationalen Veranstaltungen. Bei den Olympischen Sommerspielen 1948 in London siegt er mit neuem olympischen Rekord im 10 000-Meter-Lauf, wobei er seine Gegner mit kräftigen Zwischenspurts zermürbt, über 5 000 Meter holt er nach einem mitreißenden Duell mit dem Belgier Gaston Reiff die Silbermedaille. 1950 wird Zátopek auf beiden Langstrecken überlegen Europameister. Schon 1949 hat er den ersten seiner 18 Weltrekorde aufgestellt.
Zátopeks Laufstil ist unverwechselbar: Ständig scheint er dem Zusammenbruch nahe, mit schmerzverzerrtem Gesicht, heraushängender Zunge und geballten Fäusten dreht er seine Runden, sein Keuchen trägt ihm den Beinamen „tschechische Lokomotive“ein. Sein eigener Kommentar dazu ist typisch für Emil Zátopek: „Ich habe mir gesagt, das ist nicht Eiskunstlauf oder Turnen, da gibt es keine Haltungsnoten. In der Leichtathletik gewinnt, wer vorne ist. Lächelnd oder mit verbissenem Gesicht wie ich.“Ein anderes Mal meint er: „Ich bin nicht talentiert genug, um beim Laufen auch noch lächeln zu können.“
Der humorvolle Tscheche gestaltet sein brutales Training mit vielen Intervallen und Zwischenspurts und seine Ernährung nach eigenem Gutdünken. Sein Lieblingsessen sind Haferflocken, Bohnen, Erbsen und Linsen, dazu trinkt er Bier. Später erzählt er: „Ich war beim Armeesportklub, und in der Armee trank keiner Mineralwasser.“Hinter seinen Erfolgen steht sein eiserner Wille, kein Betreuerstab mit findigen Sportmedizinern.
Emil Zátopek betreibt Sport mit Leidenschaft, nicht aus finanziellen Überlegungen, obwohl ihm seine Erfolge sicher ein gutes Auskommen sichern: „Ein Athlet kann nicht mit Geld in seinen Taschen laufen. Er muss mit Hoffnung in seinem Herzen und Träumen in seinem Kopf laufen.“
Keiner kann sich so quälen wie er, und jahrelang ist dem 1,82 m großen Athleten mit 72 kg „Kampfgewicht“auch kein anderer gewach
„Von da an lief ich einfach weiter“
Ein Athlet kann nicht mit Geld in seinen Taschen laufen. Er muss mit Hoffnung in seinem Herzen und Träumen in seinem Kopf laufen. Emil Zátopek
sen. Zátopek lässt die Weltrekorde purzeln, sammelt zahlreiche Titel und Medaillen und bleibt sechs Jahre über 10 000 Meter – als erster Athlet läuft er diese Strecke unter 29 Minuten – ungeschlagen.
Vor den Olympischen Sommerspielen 1952 in Helsinki setzt Zátopek ein bemerkenswertes Zeichen gegenüber der Staatsführung. Als sein Landsmann Stanislav Jungwirth nicht für die Spiele nominiert werden soll, weil dessen Vater wegen des Verteilens regimekritischer Schriften verhaftet worden ist, droht Zátopek mit einem Startverzicht. Ein solcher Schritt ist gewagt, denn erst zwei Jahre zuvor hat man einen Großteil der erfolgreichen Eishockeymannschaft der CSSR wegen „staatsgefährdender Hetze“zu langjährigen Strafen verurteilt. Doch da Zátopek ungeheuer populär ist und man von ihm Medaillen und einen Prestigegewinn erhofft, kann er tatsächlich Jungwirths Teilnahme durchsetzen.
Bei den Spielen in Helsinki vollbringt Emil Zátopek ein davor noch nie gelungenes und in Zukunft kaum mehr wiederholbares Kunststück: Er gewinnt Gold über 5 000 Meter, 10 000 Meter und – als Debütant auf dieser Distanz – im Marathon. Als er mit dem neuen olympischen Rekord von 2:23:03,2 das Marathonziel passiert – unter dem tosenden Beifall von fast 70 000 Zuschauern –, hat der sonst so verbissen wirkende Zátopek ein feines Lächeln im Gesicht. Seine Erkenntnis: „Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf Marathon.“
In seiner Heimat wird er nach den Spielen triumphal gefeiert, zum Major befördert und mit dem Orden der Republik ausgezeichnet. Wegen seines Einsatzes für Stanislav Jungwirth zitiert man ihn zwar auch wegen „Insubordination“ins Innenministerium, die Anschuldigung wird aber wegen seiner sportlichen Erfolge fallengelassen.
Am 24. Oktober 1948 hat Zátopek die Speerwerferin Dana Ingrová geheiratet, mit der ihn, wie er auf seine heitere Art erzählt, einiges verbindet: „Meine Frau ist am gleichen Tag wie ich geboren, sie hat am gleichen Tag wie ich eine olympische Goldmedaille gewonnen und, stellen Sie sich vor, sie hat auch am gleichen Tag wie ich geheiratet.“Es ist der 24. Juli 1952, als Emil Zátopek und Dana Zátopková, jeweils mit olympischem Rekord, fast gleichzeitig den Olympiasieg erringen, er über 5 000 Meter, sie im Speerwerfen. Diesen Erfolg können die beiden am 25. August 1954 bei der Europameisterschaft in Bern wiederholen, als Emil über 10 000 Meter siegt und Dana wieder den Speer am weitesten wirft. Für gute Freunde ergänzt Zátopek sein Autogramm gerne mit der Zeichnung eines Mannes, der vor einer Frau mit Speer davonläuft. Er erklärt, er sei deshalb so schnell gelaufen, um nicht vom Speer seiner Frau getroffen zu werden.
Die „Corrida Internacional de São Silvestre“in der brasilianischen Stadt São Paulo gibt es seit 1925, sie wird aber erst durch das Antreten und den neuen Streckenrekord von Emil Zátopek im Jahr 1953 zum weltweit berühmtesten Silvesterlauf. Der Tscheche gewinnt aber nicht nur dank seiner Leistungen, sondern auch wegen seines Sportsgeistes und seines Schwejkschen Witzes die Herzen der Menschen in aller Welt. Große Konkurrenten werden ihm zu engen Freunden, zum Beispiel Gaston Reiff, dessen Grab er als alter Mann noch besucht, der Deutsche Herbert Schade, der Brite Gordon Pirie oder der Franzose Alain Mimoun.
Auch Emil Zatopek bleibt von Krankheiten und Verletzungen nicht verschont. Auf die Olympischen Sommerspiele 1956 in Melbourne kann er sich nicht gut vorbereiten. Er strebt die Titelverteidigung im Marathon an, kann sich aber nur als Sechster ins Ziel kämpfen. Im Jahr darauf lässt er seine Karriere ausklingen. Seine berufliche Laufbahn als Offizier hat ihm viel Gelegenheit zum Training gegeben. Seit 1950 ist er im Prager Verteidigungsministerium tätig, wo er bis 1968 bis zum Oberst aufsteigt und unter anderem Konzepte zur körperlichen Ertüchtigung der Soldaten ausarbeitet. Er erhält, oft mit seiner Frau, aus dem Ausland viele Einladungen zu großen Sportveranstaltungen und nimmt sie auch gerne an.
Sozialismus ja, aber mehr Freiheiten
Dem Sozialismus steht Zátopek durchaus positiv gegenüber, er wünscht sich aber mehr demokratische Freiheiten und hat, wie ein Zitat belegt, auch eine religiöse Seite: „Wir sollten eigentlich jeden Morgen Karl Marx lesen, damit wir unsere Regierung besser verstehen. Ich tue das nicht, denn meine Lektüre ist die Bibel. Darin finde ich Kraft, das zu tun, was ich für richtig halte. Alles in der Welt ist vergänglich, nicht aber die seelische Kraft der Verbindung mit Gott.“
Sein Haltung im Jahr 1968 bedeutet eine Zäsur für sein Leben, er wird vom neuen Regime degradiert und diffamiert, muss niedrigste Arbeiten verrichten. Seine oft wochenlangen Einsätze fern von Prag, wo er einmal sogar auf offener Straße von Armeeangehörigen verprügelt wird, führen zu familiären Konflikten und Alkoholismus. Erst nach öffentlicher Selbstkritik, die ihm die Dissidentenbewegung übel nimmt, bekommt er wieder einen erträglichen Job im Sport-Dokumentationszentrum in Prag, laut seiner eigenen Aussage als eine Art „Sportspion“. Mit politischen Äußerungen hält er sich nun zurück, 1982 tritt er in den Ruhestand.
Nach der Samtenen Revolution im Herbst 1989 wird der bisherige Dissident Václav Havel Präsident des Landes. Am 11. März 1990 kommt es zur offiziellen Rehabilitierung von Zátopek, seine Popularität und das mediale Interesse an ihm steigen wieder sprunghaft an. In seinem eigenhändig gebauten Haus im Prager Stadtteil Troja verbringt er seinen Lebensabend und erlebt noch viele Ehrungen und Einladungen. Durfte er vorher nur eingeschränkt ins Ausland reisen, so ist er nun häufig als gern gesehener Gast in Europa und Übersee unterwegs. Am 22. November 2000 erliegt Emil Zátopek im Prager Armeespital den Folgen eines Gehirnschlages. In Läuferkreisen hat ihn neben seinen unglaublichen Leistungen vor allem ein Ausspruch in seinem farbigen Deutsch unsterblich gemacht: „Vogel fliegt – Fisch schwimmt – Mensch läuft.“
Dana Zátopková, die kinderlos geblieben ist, stirbt am 3. März 2020 im 98. Lebensjahr in Prag. Auch sie, die vom Handball zur Leichtathletik gekommen ist, würde am 19. September ihren 100. Geburtstag feiern. Ihre sportliche Karriere hat ihr 1952 Olympiagold, 1960 Olympiasilber und zweimal (1954 und 1958) den Titel Europameisterin beschert. Bis 2018 nimmt sie als Ehrengast bei vielen Leichtathletik-Veranstaltungen am öffentlichen Leben teil und fällt immer wieder durch Aussagen, die von viel Lebensweisheit zeugen, auf.
2016 sagt sie in einem Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk, angesprochen auf ihren Vater, der zwei Jahre in Nazi-Konzentrationslagern inhaftiert war und zum Glück überlebte: „Ich kann bis heute nicht so gut darüber sprechen. Menschen können große Verwüstungen anrichten, aber diese darf man nicht in die eigene Seele eindringen lassen. Es ist besser, zu vergeben.“
Bleibend aktuell ist ihre damalige Warnung vor bedenklichen Entwicklungen im Spitzensport: „Ich habe natürlich die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro von Anfang bis Ende im Fernsehen verfolgt. Aber ich muss sagen: Der Sport als Kern der Spiele soll dabei im Mittelpunkt stehen. Wir müssen mittlerweile mehr denn je aufpassen, damit der Sport nicht zu einer Zirkusveranstaltung verkommt.“