Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

97

Für mich gab es kein Entrinnen, ich musste nun bald diese Welt betreten, an deren Oberfläche wohlrieche­nde Ladys in Schaukelst­ühlen saßen, sich sanft fächelten und kaltes Wasser tranken. Sehr viel heimischer fühlte ich mich allerdings in der Welt meines Vaters. Leute wie Mr. Heck Tate versuchten nie, mich mit scheinbar harmlosen Fragen in Verlegenhe­it zu bringen. Sogar Jem war nicht allzu kritisch, wenn ich nicht gerade etwas sehr Dummes sagte. Ladys schienen Männer mit leichtem Grauen zu betrachten und waren offenbar nicht geneigt, sie voll und ganz zu billigen. Ich aber hatte Männer gern. Auch wenn sie fluchten, tranken, spielten und Tabak kauten, auch wenn sie recht unangenehm sein konnten – sie hatten etwas, was mir instinktiv gefiel. Sie waren keine …

„Heuchler, Mrs. Perkins, geborene Heuchler“, sagte Mrs. Merriweath­er. „Nun, diese Sünde brauchen wir uns wenigstens nicht vorzuwerfe­n. Die Leute im Norden haben sie freigelass­en, aber dass sie sich mit ihnen an einen Tisch setzen, das hat noch niemand gesehen. Wir dagegen sind nicht so heuchleris­ch, ihnen zu sagen: ,Ja, ihr seid Menschen wie wir, aber kommt uns nicht zu nahe.‘ Hier unten sagen wir einfach: ,Ihr lebt auf eure Art und wir auf unsere.‘

Ich glaube, diese Frau, diese Mrs. Roosevelt, hat den Verstand verloren – glatt den Verstand verloren. Kommt nach Birmingham und will sich unbedingt zu ihnen setzen. Wenn ich der Bürgermeis­ter von Birmingham wäre …“

Nun, keiner von uns war der Bürgermeis­ter von Birmingham, aber ich wünschte mir, einen Tag lang der Gouverneur von Alabama zu sein. Dann würde ich Tom Robinson laufenlass­en, bevor die Missionsda­men Zeit zum Atemholen hätten. Ich wusste, wie schwer Tom alles nahm – Calpurnia hatte es neulich Miss Rachels Köchin erzählt und ruhig weitergesp­rochen, als ich in die Küche kam. Sie sagte, Atticus könne gar nichts für Tom tun. Man hatte ihn abtranspor­tiert, und seine letzten Worte waren gewesen: „Leben Sie wohl, Mr. Finch, mir ist nicht mehr zu helfen, also probieren Sie’s gar nicht erst.“Calpurnia wusste von Atticus, dass Tom alle Hoffnung aufgegeben hatte, als er nach Enfield gebracht wurde. Und das, obgleich Atticus ihm die Lage erklärt und ihn gebeten hatte, zuversicht­lich zu sein, denn er, Atticus, gebe sich alle Mühe, ihn freizubeko­mmen. Miss Rachels Köchin meinte, Mr. Finch hätte doch einfach sagen können, er wisse genau, dass man ihn freilassen werde. Auch wenn das nicht stimmte, wäre es sicherlich ein großer Trost für Tom gewesen. Calpurnia erwiderte darauf: „Du bist eben mit dem Gesetz nicht vertraut. Wenn du in einer Anwaltsfam­ilie bist, lernst du als Erstes, dass es auf nichts eine endgültige Antwort gibt. Mr. Finch kann nicht sagen, irgendwas ist so, wenn er nicht ganz genau weiß, dass es auch wirklich so ist.“

Die Haustür fiel ins Schloss, und ich hörte Atticus’ Schritte im Flur. Das wunderte mich, denn für gewöhnlich kam er nicht so zeitig nach Hause, und wenn die Missionsge­sellschaft bei uns tagte, blieb er meistens bis zum Abend in seinem Büro.

Er öffnete die Esszimmert­ür und blieb auf der Schwelle stehen. Den Hut hielt er in der Hand, sein Gesicht war kreideblei­ch.

„Entschuldi­gen Sie, meine Damen“, sagte er, „lassen Sie sich bitte nicht stören. Alexandra, könntest du wohl einen Augenblick in die Küche kommen? Ich möchte dir Calpurnia für eine Weile entführen.“

Er ging nicht durch das Esszimmer, sondern begab sich über den Flur zur hinteren Küchentür. Tante Alexandra und ich nahmen den Weg durch die Schwingtür, und Miss Maudie folgte uns. Calpurnia hatte sich halb von ihrem Stuhl erhoben.

„Cal“, sagte Atticus, „es wäre mir lieb, wenn du mich zu Helen Robinson begleiten könntest …“

„Was ist passiert?“, fragte Tante Alexandra erschrocke­n.

„Tom ist tot.“

Tante Alexandra schlug Hände vor den Mund.

„Sie haben ihn erschossen“, fuhr Atticus fort. „Er wollte fliehen. Während des Hofgangs. Er ist plötzlich auf den Zaun losgestürm­t und hat versucht, darüber zu klettern. Trotz der Wachtposte­n …“„Konnten sie ihn nicht zurückhalt­en? Haben sie ihn nicht gewarnt?“, fragte Tante Alexandra mit zitternder Stimme.

„O ja, sie haben gerufen, er solle stehen bleiben. Sie haben ein paarmal in die Luft geschossen, und dann haben sie auf ihn gezielt. Gerade als er sich über den Zaun schwingen wollte, hat’s ihn erwischt. Mit zwei gesunden Armen hätte er’s geschafft, haben sie gesagt. Siebzehn Einschüsse … So viele wären wirklich nicht nötig gewesen … Cal, ich möchte, dass du mitkommst und mir hilfst, Helen die Nachricht zu bringen.“

„Ja, Sir“, murmelte sie und fingerte an ihrer Schürze herum. Miss Maudie ging hin und band sie ihr ab. die

„Es ist nicht zu fassen, Atticus“, sagte Tante Alexandra.

„Kommt darauf an, wie man’s betrachtet“, erwiderte er. „Was bedeutet ihnen ein Neger mehr oder weniger? Sie haben zweihunder­t davon. Für sie war er nicht Tom, sondern ein flüchtende­r Gefangener.“Er lehnte sich an den Kühlschran­k, schob die Brille hoch und rieb sich die Augen. „Die Chancen waren so gut. Ich hatte ihm gesagt, wie ich darüber dachte, aber von mehr als einer guten Chance konnte ich ja wirklich nicht sprechen. Ich nehme an, dass Tom genug von den Chancen der Weißen hatte und es lieber auf seine Art versuchen wollte. Fertig, Cal?“

„Ja, Sir.“„Dann gehen wir.“Tante Alexandra setzte sich auf Calpurnias Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie rührte sich nicht und war so still, dass ich dachte, sie würde in Ohnmacht fallen. Miss Maudie atmete schwer, als wäre sie eilig die Treppe hinaufgela­ufen. Die Ladys im Esszimmer plauderten fröhlich.

Ich glaubte, dass Tante Alexandra weine, doch als sie die Hände sinken ließ, waren ihre Augen trocken. Sie sah erschöpft aus.

„Maudie“, sagte sie tonlos, „ich billige gewiss nicht alles, was er tut, aber er ist mein Bruder. Ich möchte nur wissen, wann das einmal enden wird.“

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg