Virtuoser Geschichtenerzähler
Elegant, melancholisch und ein wenig altmodisch – so könnte man Javier Marías’ Literatur charakterisieren
Wenn die Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr in etwa einem Monat mit Spanien als Ehrengast eröffnet, wird die Stimme eines Schriftstellers fehlen: Javier Marías. Der spanische Autor und Übersetzer schrieb Romane, Essays und Meinungsartikel – bis vor wenigen Jahren eine wöchentliche Kolumne in der größten spanischen Tageszeitung „El País“, in der er Fußballspiele kommentierte und sich über „Los tontos“, berühmte Dummköpfe, echauffierte. Am 11. September verstarb der politisch unabhängige Romancier.
„Nun, es ist gewinnbringender, eine Meinung zu äußern, um Applaus zu erhalten, als zum kritischen Denken anzuregen ...!“, so das Credo von Javier Marías, dem lauter Applaus von jeher unheimlich war. Sein feinsinniger Humor war charakteristisch für seine weitausholenden Erzählungen und Glossen. Insgesamt 17 Romane veröffentlichte Marías. Zu seinen größten Erfolgen zählen neben „Mein Herz so weiß“(1993), „Morgen in der Schlacht denk an mich“(1994) und „Alle Seelen“(1989). Sein Werk wurde in über 40 Sprachen übersetzt.
In seinen Glossen nahm der in der Öffentlichkeit bescheiden auftretende Literat die Debatte um „Cancel Culture“vorweg und nahm kein Blatt vor den Mund. Er wetterte gegen Populisten wie Boris Johnson und sprach sich schon Jahre vor der Debatte gegen die Zensur von Klassikern in Schulen und an Universitäten aus: „Das Problem ist nicht, dass es überall schreiende und aufrührerische Idioten gibt, die Zensur und Vetos verlangen, sondern dass sie beachtet werden. (...) Beschwerden werden (...) sogar zur Bibel angeführt, gegen die ,ihr religiöser Standpunkt’ eingewandt wird. Da es das religiöse Buch schlechthin ist, weiß ich nicht, was die Nörgler vorhaben (...)“.
Aus einem antifaschistischen Elternhaus stammend (sein Vater war Republikaner und wurde vom Franco-Regime verfolgt), begleitete das Franco-Erbe und die Wut auf die lange unter den Teppich gekehrte Vergangenheit sein literarisches Schreiben.
Mit Javier Marías hat Spanien seinen bedeutendsten Gegenwartsschriftsteller verloren.
Marías studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Madrid, wo er auch als Dozent lehrte. Während seines Studiums war er zwar zeitweilig Mitglied des „Comité de Acción Revolucionaria“. Ein linkspolitischer Aktivist war Marías jedoch nicht, blieb aber ein Gegner der konservativen Partei. So lehnte er 2012 während der Regierung Rajoy den ihm zugedachten nationalen Literaturpreis ab. 1983 folgte er dem Ruf als Professor für spanische Literatur an die Universität Oxford.
Lange galten seine Bücher als zu sperrig und schwer verkäuflich. Ein Durchbruch gelang ihm 1992 mit seinem Roman „Mein Herz so weiß“(„Corazón tan blanco“). Die deutsche Übersetzung wurde mehr als eine Million Mal verkauft. – „Ein geniales Buch!“urteilte damals Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett und verhalf dem Werk damit in Deutschland zum Erfolg.
In seinen Romanen verbinden sich epische Betrachtungen über die Abgründe der menschlichen Natur mit Reflexionen über Moral, Geschichte und Politik. Zeit seines Lebens war Shakespeare sein erklärtes Vorbild. In zahlreichen seiner Romane finden sich Shakespeare-Zitate im Titel – seine Romane wimmeln jedoch auch von intertextuellen Bezügen auf Borges oder Cervantes. Obwohl er die Frauen in seinem Werk besang, waren sein Stil und letztlich sein Frauenbild altmodisch. Hier blieb Marías ein Kind seiner Zeit.
Vielgerühmt sind die Anfänge von Marías Erzählungen. Unvergessen der Anfangssatz von „Mein Herz so weiß“, mit dem er bereits in den ersten Zeilen seines Romans einen Spannungsbogen aufbaut und hohe Erwartungen weckt, die er dann wie ein virtuoser Klavierspieler bis zum Ende der Partitur einhält. Die Ausgangssituation dieses Romans hat Marías bereits in seiner Erzählung „Auf der Hochzeitsreise“1991 (erschienen in der Zeitschrift „El balcón“) publiziert. „Die fragliche Szene wird in diesem Roman weitergeführt, während sie hier abgebrochen wird und damit eine andere Auflösung erlaubt, welche den Text eben in eine Erzählung verwandelt. Sie ist ein Beweis dafür, dass die gleichen Seiten nicht die gleichen Seiten sein können, wie Borges besser als jeder andere in seinem Stück ,Pierre Menard, Verfasser von El Quijote’ lehrte“, schreibt Marías 1995 in einem Vorwort zu der Kurzgeschichte,
dem Fundament seines Erfolgsromans.
Eindrucksvoll an „Mein Herz so weiß“sind vor allem die Schilderungen von Juan, einem Dolmetscher, und dessen Gespür für die unheilvolle Macht der Sprache. So dicht wie Marías hat wohl kaum jemand über die Schwierigkeiten, die Verantwortung und Tücken des Übersetzerjobs und die Wirkungsmacht der Sprache – insbesondere in diplomatischen Zusammenhängen – geschrieben.
Einer seiner späten und von der Kritik sehr kontrovers beurteilten Romane, „Berta Isla“, handelt von einer Ehe, die von Anfang an auf Lügen, Betrug und Selbstbetrug beruht. – Eine Spionagegeschichte, auf dem Mythos von Penelope und Odysseus fußend, erzählt in seinem eleganten Stil und labyrinthischen Satzkonstruktionen – in weiten Teilen aus der ahnungslosen Ich-Perspektive von Berta, der Ehefrau des Geheimagenten, mit deren Anfangssatz er die Erwartungen hoch hängt: „Eine Zeit lang war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war, so wie man im Schlaf nicht weiß, ob man denkt oder träumt, ob man noch den Verstand hat oder ihn vor Erschöpfung verloren hat. Manchmal glaubte sie an ein Ja, manchmal an ein Nein, und manchmal beschloss sie, nichts zu glauben und ihr Leben mit ihm oder mit einem Mann, der wie er war und älter als er, weiterzuleben.“Der Roman lebt von den Grautönen und der Unsicherheit rund um die Phänomenologie des Wartens: ein Leben mit einem Schatten.
„Nicht leben oder sterben, sondern dauern ist vielleicht das heroischste am Menschen“, so der melancholische Freund Xavier Comellas in einem Brief an Marías in der Kurzgeschichte „Alles Übel kehrt zurück“(in „Als ich sterblich war“, dtv).
Am 11. September verstarb Javier Marías im Alter von 70 Jahren wenige Tage vor seinem 71. Geburtstag an einer Lungenentzündung infolge einer Corona-Infektion. Zumindest sein im Frühjahr 2021 in Spanien veröffentlichtes Werk „Tomás Nevinson“wird diesen Herbst zur Buchmesse auf Deutsch vom Fischerverlag präsentiert.
So eindrucksvoll wie Marías hat wohl kaum jemand über die Verantwortung und Tücken des Übersetzerjobs und die Wirkungsmacht der Sprache geschrieben.
„Berta Isla“erzählt von einer Ehe, die von Anfang an auf Betrug und Selbstbetrug beruht.