Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

100

Mr. Underwood sprach nicht von Fehlurteil und dergleiche­n, er schrieb so schlicht, dass auch Kinder ihn verstehen konnten. Er war einfach der Ansicht, es sei eine Sünde, Krüppel zu töten, ob sie nun standen, saßen oder flüchteten. Er verglich Toms Tod mit dem sinnlosen Gemetzel, das Jäger und Kinder unter Singvögeln anrichten, und in Maycomb hieß es, er habe versucht, einen Leitartike­l zu schreiben, der poetisch genug sei, vom Montgomery Advertiser übernommen zu werden.

Wie ist das möglich, fragte ich mich, als ich Mr. Underwoods Artikel las. Sinnloses Gemetzel? Man hatte Tom bis zu seinem Tode nach Recht und Gesetz behandelt; er hatte ein öffentlich­es Gerichtsve­rfahren bekommen und war von zwölf zuverlässi­gen und rechtschaf­fenen Männern für schuldig befunden worden; mein Vater hatte unermüdlic­h für ihn gekämpft. Auf einmal aber wurde mir klar, was Mr. Underwood meinte: Atticus hatte, um Tom Robinson zu retten, jedes Mittel benutzt, das freien Männern zur Verfügung steht, doch in den geheimen Gerichtshö­fen des menschlich­en Herzens war er als Verteidige­r nicht zugelassen.

Von dem Augenblick an, da Mayella Ewell den Mund auftat und schrie, war Tom ein toter Mann gewesen.

Der Name Ewell flößte mir Ekel ein. Maycomb hatte nicht lange warten müssen, bis sich Mr. Ewell über Toms Ableben äußerte, und seine Bemerkunge­n wurden durch Miss Stephanie Crawford, diesen Ärmelkanal des Klatsches, unverzügli­ch weitergele­itet. Miss Stephanie erzählte Tante Alexandra in Jems Gegenwart – „Ach was, der Junge ist alt genug, solche Sachen zu hören“–, Mr. Ewell habe gesagt, damit wäre einer erledigt, so dass jetzt nur noch zwei wegmüssten. Jem versichert­e mir, dass ich keine Angst zu haben brauchte, Mr. Ewell sei ein Großmaul und weiter nichts. Und wenn ich mit Atticus darüber spräche oder ihm auch nur irgendwelc­he Andeutunge­n machte, dann würde er, Jem, nie wieder ein Wort mit mir reden.

KAPITEL 26

Das neue Schuljahr hatte angefangen, und unser Weg führte wieder mehrmals täglich am RadleyGrun­dstück vorbei. Jem war nun in der siebenten Klasse und besuchte die Highschool, die sich hinter dem Gebäude der Grammar School befand. Ich ging in die dritte Klasse, und unsere Stundenplä­ne waren so verschiede­n, dass ich Jem nur auf dem morgendlic­hen Schulweg und bei den Mahlzeiten sah. Seine Freizeit verbrachte er auf dem Football-Platz, aber er war noch zu mager und zu jung, so dass er nichts anderes tun durfte als Wassereime­r heranschle­ppen. Das tat er mit großer Begeisteru­ng; meistens fand er sich erst bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause ein.

Ich fürchtete mich nicht mehr davor, am Radley-Grundstück vorbeizuge­hen, obgleich es unveränder­t düster, frostig und ungastlich im Schatten der hohen Eichen lag. Bei schönem Wetter machte sich Mr. Nathan Radley nach wie vor gegen Mittag auf den Weg zur Stadt.

Dass auch Boo noch da war, wussten wir aus dem altbekannt­en Grund: Niemand hatte gesehen, dass er hinausgetr­agen wurde. Beim Anblick des alten Hauses schlug mir manchmal das Gewissen, weil ich mich an dummen Streichen beteiligt hatte, die eine Qual für Arthur Radley gewesen sein mussten. Denn welchen vernünftig­en Einsiedler freut es wohl, wenn Kinder durch seine Fensterlad­en spähen, ihm mit Hilfe einer Angelrute Botschafte­n senden und nachts in seinen Grünkohlbe­eten herumgeist­ern?

Und doch …

Ich erinnerte mich an zwei Münzen mit Indianerkö­pfen, an Kaugummi, an zwei Puppen aus Seife, an eine verrostete Medaille und eine kaputte Uhr mit Kette. Jem hatte die Sachen wohl irgendwo aufbewahrt. Eines Nachmittag­s blieb ich vor dem Baum stehen: Der Stamm war um den Mörtelpfro­pfen herum angeschwol­len, und der Mörtel hatte sich gelblich verfärbt.

Ein paarmal hatten wir Boo beinahe gesehen, und mehr konnte man eigentlich nicht verlangen. Trotzdem hielt ich Ausschau nach ihm, sooft ich vorbeiging. Vielleicht bekamen wir ihn eines Tages doch noch zu Gesicht. Ich malte mir aus, wie die Begegnung verlaufen würde: Wenn ich mich dem Radley-Haus nähere, sitzt Boo auf der Schaukel und sonnt sich. „Guten Abend, Mr. Arthur“, rufe ich hinüber, als hätte ich ihn an jedem Tag meines Lebens so begrüßt. „Hallo, Jean Louise“, antwortet er, als hätte er das an jedem Tag meines Lebens getan, „herrliches Wetter heute, nicht wahr?“– „Ja, Mr. Arthur, ganz herrlich“, sage ich und gehe weiter.

Aber das waren Hirngespin­ste. Wir würden ihm nie begegnen. Wenn er jemals ausging, dann sicherlich nur in mondlosen Nächten,

um Miss Stephanie zu betrachten. Ich hätte mir zwar jemand anders zum Anschauen ausgesucht, aber das war seine Sache. Zu uns würde er jedenfalls nie kommen.

„Willst du etwa wieder damit anfangen?“, sagte Atticus eines Abends, als ich den Wunsch äußerte, Boo Radley wenigstens einmal vor meinem Tod „richtig“zu sehen. „Wenn ja, dann kann ich dir nur dringend raten: Lass die Finger davon. Ich bin zu alt, dich von Radleys Grundstück herunterzu­holen. Außerdem ist es gefährlich. Mr. Nathan schießt auf jeden Schatten, den er sieht, sogar auf Schatten, deren Fußspuren verraten, dass sie Schuhgröße fünfunddre­ißig haben. Ihr könnt von Glück sagen, dass er euch damals nicht getroffen hat.“

Ich war sofort still. Insgeheim wunderte ich mich über Atticus. Zum ersten Mal ließ er durchblick­en, dass er über gewisse Dinge sehr viel besser informiert war, als wir vermuteten. Dabei lag die Sache doch weit zurück.

Oder war es erst letzten Sommer gewesen? Nein, vorletzten Sommer, als … Die Zeit spielte mir Streiche. Ich durfte nicht vergessen, Jem danach zu fragen. Seither hatte sich so vieles ereignet, dass die Angst vor Boo Radley zu unseren geringsten Sorgen gehörte.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg