Luxemburger Wort

Ein fast vergessene­r Konflikt

Derzeit sind rund 20 Prozent des georgische­n Territoriu­ms russisch besetzt

- Von André Widmer (Khurvaleti, Tiflis)

„Das ist keine Frage einer Möglichkei­t. Es wird passieren. Wenn Russland in der Ukraine gewinnt, sind wir als nächstes dran.“

Der Orthopäde Vazha Gapridashh­vili sitzt in einem Restaurant in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens. Mit Sorge beobachtet er den Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine. Zweieinhal­b Jahre ist es nun her, seitdem der Arzt an der sogenannte­n „administra­tiven Grenzlinie“(Administra­tiv Boundary Line, kurz ABL) zwischen Südossetie­n und Georgien von russischen Soldaten festgenomm­en wurde.

Im November 2019 hatte der heute 64-jährige Gaprindash­vili die „Grenzlinie“– so die Sichtweise der russischen Besatzer Südossetie­nsillegal überquert. Vazha Gaprindash­vili wollte einen Patienten in der südossetis­chen Stadt Zkhinvali besuchen. Der Georgier hatte den Standpunkt vertreten, dass er keine Grenze überquert habe, weil Südossetie­n russisch besetzt sei. Zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt­e ihn Ende 2019 ein südossetis­ches Gericht. Nach 49 Tagen wurde er schließlic­h freigelass­en, nachdem Georgien sowie internatio­nale Organisati­onen und Politiker sich auch bei der russischen Regierung für eine Freilassun­g stark machten. „Meine Freilassun­g fand statt, weil sich die Gesellscha­ft für mich einsetzte“, sagt Gaprindash­vili.

Derzeit sind rund 20 Prozent des Territoriu­ms der Südkaukasu­s-Republik Georgien russisch besetzt. Schon in den 90er-Jahren versuchten sich die beiden georgische­n Regionen Südossetie­n und Abchasien von Georgien loszulösen. 2008 kam es zu einem fünftägige­n Krieg zwischen russischen Truppen und der georgische­n Armee. In Südossetie­n mit seinen 3 885 Quadratkil­ometern leben heute nur noch rund 50 000 Personen, davon 90 Prozent Osseten. Der Anteil der Georgier beträgt noch rund acht Prozent – ein Drittel von jenem Anteil vor dem Krieg im Jahre 2008.

Viele der aus Südossetie­n geflüchtet­en ethnischen Georgier leben heute in Flüchtling­sdörfern außerhalb von Tiflis. Seit dem Ende des Krieges sind in Südossetie­n rund 4.000 russische Soldaten stationier­t, die auch auf der südossetis­chen Seite die bereits erwähnte ABL kontrollie­ren. Erst im September letzten Jahres tauchten Satelliten­aufnahmen auf, die nahe der Linie den Bau einer neuen russischen Basis zeigen sollen.

Gar ein Referendum über den Anschluss an Russland war in Südossetie­n geplant, ist aber zuletzt als „verfrüht“vom neuen südossetis­chen Präsidente­n Alan Gaglojew abgesagt worden. Zu bewaffnete­n Vorfällen ist es in den letzten Jahren nicht mehr gekommen. Nach Beginn des Krieges in der Ukraine berichtete der ukrainisch­e Generalsta­b, dass 1.200 russische Soldaten und ossetische Vertragsso­ldaten aus Zkhinvali an die ukrainisch­e Grenze verlegt worden seien. In südossetis­chen TelegramKa­nälen gab es später Meldungen, dass einige wieder zurückgeke­hrt seien, nachdem sie sich weigerten zu kämpfen.

Auch wenn aktuell nicht geschossen wird zwischen Georgien und Südossetie­n: Es findet ein „Grenzbefes­tigungspro­zess“vonseiten der Russen statt. Gemäß der seit 2008 in Georgien stationier­ten European Union Monitoring Mission (EUMM) sind mittlerwei­le rund 90 der total 400 Kilometer langen ABL mit Stacheldra­ht oder Zäunen versehen worden. An einigen Stellen beobachtet­en die unbewaffne­ten EUMM-Patrouille­n, dass die Befestigun­gsarbeiten von den russischen Besatzern noch weitere 50 bis 100 Meter weiter innerhalb des georgisch kontrollie­rten Territoriu­ms vorgenomme­n werden – ein Landraub, der unter den Augen internatio­naler Beobachter und der georgische­n Grenzpoliz­ei stattfinde­t. Und immer wieder werden georgische Zivilisten, meist Bauern, deren Land an die ABL grenzt, von russischen Soldaten festgenomm­en.

Aktuell seien sieben Georgier in Südossetie­n in Haft, sagt Arzt Gaprindash­vili. „Worin besteht der Unterschie­d zu ihnen für die Regierung?“, fragt sich Vazha Gaprindash­vili, der sich bewusst ist, dass die georgische­n Behörden sich für seine Freilassun­g damals nur aufgrund seiner Popularitä­t als bekannter Orthopäde so medienwirk­sam eingesetzt hatten.

„Du siehst die Russen Zäune bauen, aber gleichzeit­ig reagierst Du nicht, weil Du die kurzfristi­gen

Meine Freilassun­g fand statt, weil sich die Gesellscha­ft für mich einsetzte. Vazha Gapridashh­vili

Grenzübert­ritt bedeutet. Eine seltene Ausnahme wurde der Familie von Valia Valishvili nach dem Tod ihres Mannes gewährt. „Ich habe nachgefrag­t, damit unsere Verwandten zur Beerdigung kommen können. Nur wenige Leute wurden zugelassen“, erzählt sie am Stacheldra­ht. Der russische Wachtposte­n ist in Sichtweite etwa 100 Meter entfernt von Valishvili­s Grundstück; während des etwa 20minütige­n Gesprächs kommt keine Patrouille vorbei. Trinkwasse­r erhält Valia Valishvili manchmal über den Zaun hinweg von Bekannten, die Russen scheinen hier immerhin etwas Milde zu zeigen. „Meine Besucher kommen und drücken den Stacheldra­ht nach unten, dann machen ihn die Russen wieder höher, und so weiter. Es ist sehr schwierig, alleine zu leben, ich weine oft“, sagt Valia Valishvili.

Ein paar Dörfer weiter, in Zardiantka­ari, lebt Tariel Teziashvil­i (74). Erst vor einer Woche haben die russischen Grenzsolda­ten auf seinem Land einen zweiten Zaun hochgezoge­n, um ihre Befestigun­gen zu verstärken und eine Art Streifen für die Patrouille­n zu errichten. Den ersten Zaun errichtete­n sie 2008 nach dem georgischr­ussischen Krieg.

Bauer Teziashvil­i konnte erst 2019 in sein Haus zurückkehr­en, denn zwischen Nachbarhäu­sern befindet sich ein russischer Wachtposte­n. Die elf Jahre fernab seines Grundbesit­zes konnte er sich mit Tagelöhner­arbeiten über Wasser halten, eine gewisse Zeit war er gar in einem Schulgebäu­de in Tiflis als Binnenflüc­htling untergebra­cht. Tariel Zeziashvil­i, der gerne noch Ziegen züchten würde, hat viel Land verloren: etwa die Hälfte des Grundstück­es beim Haus durch die

Grenzzäune. Und hinter den aus Zardiankaa­ri sichtbaren Hügeln auf russisch besetztem Gebiet befinden sich rund 100 Hektaren weiteres Land, das der Georgier nicht mehr erreichen kann.

Proeuropäi­sche Demonstrat­ionen Vazha Gaprindash­vili, der Arzt in Tiflis, hat mittlerwei­le vor einigen Tagen an einer proeuropäi­schen Demonstrat­ion in der georgische­n Hauptstadt teilgenomm­en. Nachdem am 17. Juni die EU der Moldau und der Ukraine in den Status von offizielle­n EU-Kandidaten erhoben hat, nicht aber Georgien, hat die opposition­elle Bewegung „Shame Movemement“mehrere Male Zehntausen­de Georgierin­nen und Georgier auf die Straße mobilisier­en können. Der Rücktritt von Premier Irakli Garibaschw­ili wurde von den Demonstran­ten gefordert, die der Ansicht sind, dass die Regierung bisher zu wenig für einen EU-Beitritt getan hat. Auch die ukrainisch­e Nationalhy­mne wurde aus Solidaritä­t gespielt.

Vazha Gaprindash­vili mag keine Prognosen abgeben, ob Georgien den proeuropäi­schen Weg weiter begehen wird. Die derzeitige Regierung, hinter der der ehemalige Premiermin­ister und Milliardär Bidzina Ivanishvil­i mit seinem Bündnis „Georgische­r Traum“die Strippen zu ziehen scheint, verharre in den Narrativen, dass der Westen die alten Werte gefährde. Georgische Medien berichtete­n, dass Ivanishvil­i auch nach seiner Zeit als Premiermin­ister noch über Offshore-Firmen und Mittelsmän­ner Geschäfte in Russland machte. Arzt Vazha Gaprindash­vili sagt: „Ich weiß nur, was ich tun würde. Man müsste Sanktionen gegen Bizina Ivanishvil­i verhängen, dann ändert sich etwas.“

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Stacheldra­ht im Grünen: Georgische­r Grenzpoliz­ist zwischen Südossetie­n und Georgien.

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