Bekämpft die EZB tatsächlich die Inflation?
Die erneute Erhöhung des Leitzinses wird sicherlich nicht ohne Konsequenzen bleiben
Am 8. September hat die Europäische Zentralbank (EZB) entschieden, den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte zu erhöhen – als Reaktion auf die steigende Inflation in der Eurozone. Unter anderem wurde dieser weitere Schritt der EZB damit begründet, dass ein höherer Inflationsdruck auch durch die negative Entwicklung des Euro/DollarWechselkurses entstanden sei.
Die erneute Erhöhung des Leitzinses wird sicherlich nicht ohne Konsequenzen bleiben. Sie führt aller Wahrscheinlichkeit nach zu steigenden Kreditzinsen für Schuldner (1), ob einfache Bürger, Unternehmen oder Staaten. Für junge Menschen, die sich erst vor kurzem verschuldet haben und nicht von einem fest verzinslichten Darlehen profitieren, wird die Zinslast steigen und ihr verfügbares Einkommen senken. Diese Mehrbelastung führt also unweigerlich zu einer Reduzierung ihrer Kaufkraft. So sieht sich mancher Haushalt gezwungen, den Gürtel bald enger schnallen zu müssen.
Der Schritt der EZB wird damit rechtfertigt, dass den rezenten Preissteigerungen nur Einhalt geboten werden kann, wenn es schwieriger, sprich teurer, wird, Geld zu leihen. Leitzinssteigerungen könnten zudem dazu führen, dass zukünftige Spekulationen hinsichtlich weiterer Preissteigerungen weniger wahrscheinlich werden sollen.
Ursachen der aktuellen Inflation
In diesem Zusammenhang stellt sich eine zentrale Frage: Was treibt aktuell die Preise? Anders formuliert: Welche Faktoren begünstigen eigentlich die Inflation? Es steht außer Zweifel, dass die Preissteigerungen der letzten Monate zum einen auf die Energieknappheit und zum anderen auf den Ukrainekrieg – und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen – zurückzuführen sind. Die Preise sind also zu einem nicht unwesentlichen Teil energie- und ressourcengetrieben. Dies führt zu indirekten Effekten, weil dadurch auch andere Preise steigen. Starke, ja spektakuläre Preisanstiege bei Öl und Gas haben also die Inflationsspirale angekurbelt. Durch den Krieg bleiben essenzielle natürliche Ressourcen weiterhin knapp und sind spürbar teurer als noch vor einem Jahr.
Schon vor dem Krieg in der Ukraine gab es inflationäre Tendenzen. In der Tat, die durch die Pandemie unterbrochenen Lieferketten führen dazu, dass einige Produkte nur teilweise oder überhaupt nicht geliefert werden konnten. Die Pandemie hat uns einmal mehr vor Augen geführt, wie verletzlich unsere Volkswirtschaften in Sachen nicht-erneuerbare Ressourcen sind.
In den letzten Jahren haben sich etliche Staaten Europas in hohem Maße abhängig von diversen Ländern gemacht, die über beträchtliche Rohstoffreserven verfügen, etwa Metalle, Agrarprodukte oder Energie. Die Krise, die wir aktuell durchleben, verdeutlicht dies einmal mehr und wird die geopolitischen Spannungen anheizen. Es steht außer Zweifel, dass die Inflation im Euro-Raum insbesondere auf ein reduziertes Angebot zurückzuführen ist. Die relative Knappheit an fertigen und halbfertigen Produkten sowie von Rohstoffen ist an Lieferengpässe gekoppelt. All dies treibt die Preise. Zudem werden allerorten Fachkräfte gesucht, was wiederum zu Lohnsteigerungen führt.
Werden die Preissteigerungen aber nicht auch durch eine erhöhte Nachfrage gefördert? Beispielsweise durch zu leicht vergebene Kredite in den letzten Jahren oder durch eine Mobilisierung ungewollter, durch die Pandemie entstandene Ersparnisse?
Allgemein ist die Inflation das Ergebnis zwei grundverschiedener Vektoren. Grundursache kann die Nachfrage selbst sein, weil sie stärker wächst als das Angebot. Der Ursprung des Preisanstiegs kann aber auch in der relativen Verknappung des globalen Angebots liegen. Inflation kann auch aus der Mischung der beiden eben genannten Gründe erwachsen.
Traditionelle Geldpolitik hinterfragen
Die angebotsbedingte, durch höhere Energie- und Kraftstoffpreise bedingte Inflation kann nicht mit der herkömmlichen Geldpolitik der Zentralbanken bekämpft werden. Angesichts der aktuellen Inflationsentwicklung gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zwischen Europa und den USA. In Europa erklärt sich mehr als die Hälfte der Inflation durch die Steigerung der Energie- und Kraftstoffpreise. Die Kerninflation, die sich angeblich auf die Entwicklung der Verbraucherpreise beschränkt, liegt in den USA bei weitem höher.
Die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Ist die Kerninflation ein gutes Maß, um die nachfragebedingte Inflation zu berechnen? Ganz sicherlich nicht, wenn die Endpreise für Verbraucher in weiten Teilen von der Verteuerung der Rohstoffe bestimmt werden.
Vor diesem Hintergrund muss die Relevanz einer klassischen Geldpolitik hinterfragt werden, die darin besteht, je nach Bedarf Leitzinsen anzuheben, herabzusetzen oder unverändert zu lassen. Kann also die Steigerung des Leitzinses, die erwartungsgemäß zu einer Verteuerung der Kreditzinsen führt, die Kerninflation wirksam eindämmen?
In welchem Umfang ist die Kerninflation selbst ein Produkt der Verteuerung der Energiepreise? Besteht nicht die Gefahr, dass die Wirtschaft (Betriebe und Konsumenten) in doppeltem Maße Kaufkraftverluste einbüßen wird? Einerseits durch höhere Energie- und Treibstoffpreise, andererseits durch die Verteuerung von Krediten. Bei Haushalten – man denke insbesondere an Immobilienkredite für junge Menschen – entstehen infolgedessen Kaufkraftverluste. Zudem reduzieren höhere Zinssätze die Gewinnspannen der Unternehmen.
Klärungsbedarf erfordert
Mit Blick auf die herkömmliche Wirtschaftstheorie darf man annehmen, dass die Anhebung des
Leitzinses auf ein höheres Niveau einer Verankerung der Inflationserwartungen dient. Damit soll ja frühzeitig eine LohnPreis-Spirale vermieden werden. Der Spielraum, über den die Entscheidungsträger im Rahmen der Inflationsbekämpfung verfügen, hängt allerdings davon ab, ob die Öffentlichkeit einen Verlauf der Inflation erwartet, auf den die Zentralbank mit ihrer Geld- beziehungsweise Zinspolitik auch wirksam einwirken kann. Wir fragen uns allerdings, ob diese Erwartungshaltung gewährleistet ist, wenn der allgemeine Preisanstieg hauptsächlich angebotsbedingt zu sein scheint.
Sollte die Inflation nicht oder kaum nachfragebedingt, sondern fast ausschließlich ressourcengetrieben sein, sollte es sich also um eine klassische Angebotskrise handeln, dann könnte jede Leitzinserhöhung ihre Wirkung verfehlen. Es könnte zu einem weiteren Kaufkraftverlust der Haushalte und für viele Betriebe zu unerwünschten Kostensteigerungen kommen – möglicherweise verbunden mit einer etwaigen Rezession.
Es liegt uns wahrlich fern, die Entscheidungen der EZB grundlos zu kritisieren. Wir haben lediglich versucht zu hinterfragen, ob in diesem Falle Erhöhungen des Leitzinses wirklich wirksam sind.
Führen diese zu einer Aufwertung des Euro-Kurses und damit zu einer Abschwächung der importierten Inflation (Preissteigerungen bei Öl, bei Gas und bei Metallen ...), so tragen sie dazu bei, weitere Preissteigerungen einzudämmen oder die Inflation gar abzuschwächen. Dies wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Preisstabilität, dem hehren Ziel der EZB. Oder nutzt die EZB die Gelegenheit, um der Politik des „billigen“Geldes ein Ende zu bereiten, die ja auf Dauer Unternehmen künstlich am Leben hält, welche aus Produktivitätsgründen nicht rentabel, sprich überlebensfähig sind? Solche Unternehmen werden in der englischsprachigen Fachliteratur übrigens als „Zombie-Firms“bezeichnet.
Gelingt dies aber kaum oder gar nicht, so können Leitzinserhöhungen einen konjunkturellen Einbruch herbeiführen. Deshalb erscheint es uns so wichtig, dass die Hintergründe und potenziellen Auswirkungen geldpolitischer Beschlüsse der breiten Öffentlichkeit ausführlicher erklärt werden; insbesondere, weil solche Entscheidungen durchaus folgenreiche Effekte auf den allgemeinen Wohlstand haben können.
Der Schritt der EZB wird damit rechtfertigt, dass den rezenten Preissteigerungen nur Einhalt geboten werden kann, wenn es schwieriger, sprich teurer, wird, Geld zu leihen.
André Bauler (DP) ist Volkswirt und Vorsitzender der parlamentarischen Finanz- und Haushaltskommission; Patrice Pieretti ist Professor und Forscher für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Luxemburg. (1) Wohlgemerkt, dass Geschäftsbanken keinen vernünftigen Grund für eine Anhebung ihrer Zinssätze für Kreditempfänger haben, wenn sie über Liquiditätsüberschüsse verfügen.