„Schulschwänzen nützt dem Klima nicht“
Bergsteigerlegende Reinhold Messner und seine Frau Diane über Neider, den Tod und Greta Thunberg
Zusammen mit seiner 35 Jahre jüngeren Frau Diane (DM) aus Luxemburg hat Bergsteigerlegende Reinhold Messner (RM) ein Buch über den Sinn des Lebens und den Verzicht geschrieben. Im Interview sprechen die Messners unter anderem über toxische Menschen, die ihnen ihr Liebesglück nicht gönnen, die Verantwortung, die Reinhold Messner für den Tod seines jüngeren Bruders trägt, und ihren Ärger über junge Klimaaktivisten.
Reinhold Messner, Ihr neues Buch, das Sie mit Ihrer Frau geschrieben haben, trägt den Titel „Sinnbilder“. Darin schreiben Sie, dass es wichtig ist, allem, was man tut, einen Sinn zu geben. Welchen Sinn hat das Extrembergsteigen?
RM: Weil das Extrembergsteigen so gefährlich und nutzlos ist, muss man ihm einen Sinn geben, sonst ist es nicht machbar.
Reicht das als Sinngebung, um sein Leben zu riskieren?
RM: Nein. Die Sinnfrage war – teilweise ist sie es noch immer – in unserer Kultur eine religiöse Frage. Denn bis vor rund 200 Jahren hat die Kirche postuliert, dass der Sinn von oben kommt. Während meiner Volksschulzeit war der Sinn des Lebens, in den Himmel zu kommen. Und dann kam da so ein junger Bursche daher und fragte: „In welchen Himmel?“Das war damals eine Revolte in einem Südtiroler Bauerntal!
Es gibt aber auch andere Möglichkeiten als das Bergsteigen, um gegen Bevormundung zu protestieren …
RM: Natürlich. Die Sinnstiftung ist eine ganz individuelle Angelegenheit. Es liegt an mir, welchem Tun ich Sinn einhauche. Die Kirche sagt: Gott hat uns die Seele eingehaucht. Ich habe mir durchs Klettern selber Sinn eingehaucht, eine Protesthaltung gegen jede Bevormundung.
Diane Messner, Sie haben Ihren heutigen Mann vor vier Jahren zufällig in einem seiner Museen kennengelernt. Wie haben Sie sich in einen 35 Jahre älteren Mann verliebt?
DM: So wie sich jeder andere Mensch auch verliebt. Der Altersunterschied mag manchen ungewöhnlich vorkommen. Für mich ist das Interpretationssache. Wir merken ihn nicht wirklich. Optisch natürlich schon, aber vom Wesen her nicht.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Unachtsamkeit und Gutgläubigkeit ließen es immer wieder zu, dass sich toxische Menschen in unser Leben mischten.“Wer genau muss sich damit angesprochen fühlen?
DM: Einige Menschen aus unserem unmittelbaren Umfeld und unserer Familie. Es gibt einfach Menschen, die toxisch sind, die negativ sind, die absichtlich verletzen, um sich selbst aufzuwerten. Sie leiden aus unterschiedlichsten Gründen – Bedürfnisse, die nicht erfüllt werden oder Unzufriedenheit – und sie möchten, dass man mitleidet. Sie hätten nichts dagegen gehabt, wenn unsere Beziehung gescheitert wäre. Diesen Menschen haben wir peu à peu Grenzen gesetzt.
Ihr Sohn Simon hat einmal gesagt, dass Sie als Vater „streng“und „abwesend“waren und dass es nicht leicht war, der Sohn einer Legende zu sein. Macht Sie das traurig?
RM: Was er gesagt hat, stimmt so nicht. Ich bin anfangs mit ihm klettern gegangen, auch wenn ich viel unterwegs war. Vielleicht hat Simon das gesagt, weil er auch gerne eine Karriere gehabt hätte, wie ich sie als Politiker und Vortragender gewagt habe.
Wie kam es 1970 zur größten Tragödie Ihres Lebens?
RM: Günther und ich hatten zusammen den Nanga Parbat bestiegen. Beim Abstieg über eine extrem schwierige Route ging es Günther nicht gut. Ich bin öfters ziemlich weit vorausgegangen, um zwischen den Gletscherspalten eine Route für den Abstieg zu finden. Um dem Bruder doppelte und dreifache Wege zu ersparen. Von überall kamen Eislawinen herunter. Als ich zurückkam und ihn nicht mehr fand, wurde mir klar, dass er von einem Eisfall verschüttet worden war.
30 Jahre danach wurden seine sterblichen Überreste gefunden, die Ihre Version stützten. War das für Sie eine große Erleichterung?
RM: Da ich immer wusste, dass meine Version stimmt, war der Fund für mich nicht notwendig für den Beweis.
Fühlen Sie sich für den Tod Ihres Bruders verantwortlich?
RM: Selbstverständlich! Ohne mich wäre mein Bruder nicht am Nanga Parbat gestorben. Er war ursprünglich gar nicht für die Expedition vorgesehen. Als zwei Kameraden ausfielen, hat mich der Expeditionsleiter gefragt, ob ich Ersatz wüsste. Da habe ich meinen Bruder genannt. Günther hat sich sehr gefreut.
Wieso fühlen Sie sich schuldig?
RM: Ich mache mir keine Selbstvorwürfe, aber ich übernehme die Verantwortung für den Tod meines Bruders. Ich war vom letzten Höhenlager zunächst alleine Richtung Gipfel aufgebrochen. Mein Bruder ist mir aus freien Stücken nachgestiegen. Aber ich war der ältere Bruder. Der ältere Bruder passt auf den kleinen Bruder auf. Das ist eine instinktive Angelegenheit.
Waldbrände, Dürren, Gletscherschmelze in den Alpen: Nicht erst seit dem letzten Hitze-Sommer spüren wir die Auswirkungen der Klimaerwärmung. Rächt die Natur sich für das, was wir ihr alles angetan haben?
RM: Nein! Die Natur rächt sich nicht. Die Natur ist nur da, sie ist absichtslos. Wir haben Absichten, Fehler können also nur wir machen. Natürlich, die globale Erwärmung ist ein Problem. Der Mensch hat mit der Aufklärung und durch die Industrialisierung die Möglichkeit erhalten, ganz anders zu produzieren, fossile Brennstoffe zu nutzen und ist so innerhalb von 200 Jahren reich geworden.
Also müssen wir uns nichts vorwerfen?
RM: Doch! Natürlich hätten wir früher anfangen sollen, zu korrigieren. Der Club of Rome hat schon früh vorausgesagt: Es wird eng, also schwierig! Aber es gab immer noch billige Energie und so ist der heutige Wohlstand entstanden. Und jetzt kommen junge Leute, die in diesem großartigen Wohlstand groß geworden sind, und sagen, die Generation vor ihnen war eine verbrecherische! Aber diese paar Generationen haben es doch überhaupt erst ermöglicht, dass die jungen Damen und Herren, die jetzt freitags die Schule schwänzen, protestieren können!
Richtet sich Ihre Wut gegen Greta Thunberg?
RM: Nein, ich meine nicht Greta. Ich meine diese jungen Leute in der Summe. Sie sollen die aktuellen Probleme durchaus ansprechen, aber auch bedenken, aus welcher Position heraus sie es tun. Ich lasse mir von dieser Generation nicht nachsagen, dass wir die Erde mutwillig zerstört haben. Die jungen Leute sollten sich auf die Hinterfüße stellen, lernen und Technologien entwickeln, um im letzten Moment noch die notwendigen Korrekturen zu schaffen. Aber Schule zu schwänzen, nützt nachhaltig nicht. Zur Wahrheit gehört auch: Die Probleme sind nur lösbar, wenn wir Verzicht üben.
Der Altersunterschied ist Interpretationssache. Wir merken ihn nicht. Diane Messner
Es gibt viele junge Leute, die zum Verzicht bereit sind. Sie essen kein Fleisch, sie fliegen nicht. Wollen Sie jungen Menschen die Bereitschaft zum Verzicht absprechen?
RM: Ich habe mit einigen jungen Leuten gesprochen. Wenn man ihnen sagt: „Schaut’s, ihr könnt das und das nur machen, weil ihr in diese Welt, in diesen Reichtum hineingeboren worden seid“, stehen sie auf, weinen und gehen. Sie sind nicht bereit, ernsthaft darüber zu reden.
Die jungen Leute sollten sich auf die Hinterfüße stellen. Reinhold Messner
Reinhold und Diane Messner: „Sinnbilder“ab 28. September, S. Fischer-Verlag, 192 Seiten, ISBN: 9783103971699, 22€.
Freie verlegt, in Viertel wie Jardim Europa, wo ein Haus so groß ist wie ein Wohnblock und uniformierte Dienstmädchen den Hund ausführen. Die Nobelviertel geben auch den Bildern und den BilligKlamotten einen gehobenen Anstrich.
100 Looks am Tag
Fast jeden Tag sind im Jardim Europa Models bei der Arbeit zu sehen. Fernanda und Lidya kommen zweimal in der Woche hierher, wo die Straßen nach europäischen Ländern benannt sind, in die Rua Suécia. Fernanda und Lidya defilieren in engen Jeans und knappen Tops auf dem Bürgersteig wie auf einem Laufsteg, posen vor Mauern und Toren der Häuser. Sie teilen sich einen Fotografen, Lidyas Ehemann. Während die eine sich in dem Campingzelt umzieht, führt die andere vor der Kamera Outfits vor.
Die Masse macht’s wie im Brás auch bei den Fotos: Die Models fotografieren im Durchschnitt bis zu 100 Looks am Tag, wie Paloma, die selbsternannte „Lady des Brás“, erzählt. „Nur dann lohnt es sich.“Für ein Foto bekommen sie und die anderen je nach Qualität, Location, Accessoires und Beliebtheit in sozialen Netzwerken durchschnittlich bis zu 70 Reais (umgerechnet rund 15 Euro). Paloma, die mehr als 100 000 Follower auf Instagram vorweisen kann, verdient nach eigenen Angaben bis zu 20 000 Euro im Monat.
Dabei sind Fernanda, Lidya und Paloma quasi jeweils ihre eigene Ein-Frau-Agentur, die vielzählige Aufgaben übernimmt und sich vom Outfit bis zum Instagram-Auftritt um fast alles kümmert. „Das ist ermüdend, aber macht Spaß“, sagt Fernanda. Der Basar-ähnliche Brás und die prekären Arbeitsbedingungen stehen nicht nur in Gegensatz zum reichen Jardim Europa, sondern auch zum Glamour der Mode und dem Schein der sozialen Medien.
Aber all dies passt zu São Paulo, der Wirtschaftslokomotive Brasiliens und Südamerikas, die wie New York niemals schläft, wo die Menschen kreativ sind und sich durchschlagen. Man merkt hier schnell: São Paulo hat etwa im Vergleich zu Rio de Janeiro einen anderen, beschleunigten Rhythmus.
„Wer eine Nahaufnahme sieht, sieht nicht das Gerenne dahinter“, sagt Paloma. Und auch nicht die Konflikte mit den Anwohnern, zu denen es bisweilen kommt. „Wir verstehen, dass es sich um eine künstlerische Arbeit handelt, und die Teilnehmerinnen an den FotoSessions haben ihr Recht ausgeübt, sich als Bürger frei zu bewegen“, hieß es in einer Mitteilung der Anwohnergemeinschaft.
Andererseits hätten sich einige Anwohner unwohl gefühlt, weil die Fassade ihres Hauses zur Schau gestellt wird, was in dem reichen Viertel ein Sicherheitsrisiko darstellen könnte. „Fotos vor der Tür von jemandem zu machen, ist auch kompliziert, nicht wahr?“, sagt Fernanda verständnisvoll. „Wir akzeptieren das und versuchen, so wenig Aufhebens wie möglich zu machen.“
Auch die Hausnummer würden sie nicht fotografieren, in den Veröffentlichungen erscheint als Ort Brás. Dennoch seien Kolleginnen schon mit Wasser vertrieben, belästigt und auch überfallen worden. Die größte Herausforderung stellt für Fernanda und Lidya aber die Unterdrückung eines menschlichen Bedürfnisses bis zum Abend dar: Eine öffentliche Toilette gibt es in der Rua Suécia weit und breit nicht. dpa