Luxemburger Wort

1,92 Sekunden in der Gefahrenzo­ne

Zum Prozessauf­takt um tödliche Polizeisch­üsse im April 2018 in Bonneweg setzt ein Gutachter den Rahmen

- Von Steve Remesch

1,92 Sekunden lang beschleuni­gt ein Mercedes-Fahrer, der sich am 11. April 2018 in Bonneweg einer Polizeikon­trolle entziehen will, seinen Wagen in Richtung eines Polizisten. Nach 2,19 Sekunden reißt der Fahrer das Steuer herum, um den Polizisten und dessen Dienstwage­n zu umfahren. Das ist exakt der Augenblick, in dem der Beamte seinen ersten Schuss auf den Fahrer abgibt.

Die Kugel durchschlä­gt die Windschutz­scheibe des Mercedes und trifft den 51-Jährigen in der Brust. 0,33 Sekunden später gibt der Polizist einen zweiten Schuss ab. Dieses Projektil durchschlä­gt das Beifahrerf­enster und schlägt in der Schulter des Fahrers ein. Ein dritter Schuss trifft den hinteren Teil des Wagens. Das hat am Dienstag ein Unfallguta­chter zum Prozessauf­takt im Verfahren gegen den wegen Totschlags angeklagte­n, inzwischen 26-jährigen ehemaligen Polizeibea­mten der Kriminalka­mmer vorgerechn­et.

Drei Beamte haben zuvor versucht, den Autofahrer im Dernier Sol in Höhe des Bonneweger Schwimmbad­s zu kontrollie­ren. Zwei Polizisten steigen aus dem Dienstwage­n aus, der Mercedesfa­hrer flüchtet allerdings durch den Kreisverke­hr in Höhe der Obdachlose­nunterkunf­t. Der dritte Polizist beschleuni­gt den Dienstwage­n um den Block und stellt sich dem Fluchtfahr­er 313 Meter entfernt an der Kreuzung der Rue des Ardennes mit der Rue Sigismond in den Weg.

Der damals 22-jährige Beamte M. stoppt seinen Wagen mitten in der Kreuzung. Während Blaulicht und Sirene weiter laufen, steigt er aus, gibt dem Fluchtfahr­er Haltezeich­en. Dieser macht eine abrupte Vollbremsu­ng, die eine sieben Meter lange Bremsspur hinterläss­t. Dann setzt der Fahrer, dessen Blutalkoho­lwert laut späterer Autopsie bei 1,8 Promille liegt, seinen Mercedes kurz zurück und gibt Vollgas nach vorn – in Richtung des Polizisten und dessen Streifenwa­gens.

Ab diesem Punkt wird es komplizier­t. Denn es gibt drei mögliche Szenarien, wie sich die ausgesproc­hen brenzlige Situation weiter entwickelt haben könnte. Und es obliegt der hauptstädt­ischen Kriminalka­mmer binnen der kommenden drei Prozesswoc­hen festzustel­len, welches der drei Szenarien mit größter Wahrschein­lichkeit

und ihrer Überzeugun­g nach den Tatsachen entspricht.

Denn das macht den Unterschie­d, ob der Polizist M. den 51jährigen Fahrer tatsächlic­h in Notwehr erschossen hat oder nicht. Falls keine Notwehr zurückbeha­lten wird, erwartet den jungen Mann, der den Polizeidie­nst inzwischen quittiert hat, eine Verurteilu­ng wegen Totschlags.

M. selbst bestätigt zum Prozessauf­takt indes den tödlichen Schuss in die Brust des Opfers abgegeben zu haben, das allerdings in absoluter Notwehr.

Die drei Szenarien unterschei­den sich, wie der Experte dem Gericht

vorträgt, nur in einem einzigen Detail: die Position des Schützen beim tödlichen ersten Schuss. „Es ist nicht möglich, zu sagen, der Beschuldig­te stand genau an diesem Punkt“, setzt der Experte den Rahmen. „Es gibt nur Berechnung­en – und es gilt festzustel­len, welche wahrschein­licher ist als die anderen.“

Drei Schüsse – einer ist relevant

Das erste Szenario erfüllt, wie Experte, Richter und Verteidigu­ng im Gerichtssa­al übereinsti­mmen, die Bedingunge­n einer Notwehrsit­uation. Der Polizist hat sich auf das Auto zubewegt und befand sich dem Experten zufolge bei der Schussabga­be dann in unmittelba­rer Nähe des rechten Vorderrade­s des Mercedes. Somit war M. in imminenter Lebensgefa­hr, als der Fluchtfahr­er seinen Wagen aus dem Stand auf eine Geschwindi­gkeit von rund 30 km/h beschleuni­gte.

Beim zweiten Schuss durch das Seitenfens­ter habe er sich ganz klar außerhalb des Ausweichbe­reiches befunden, beim dritten sei er längst außer jeder Gefahr gewesen – wobei der Experte wiederholt auf die äußerst geringe Zeit zwischen den Schüssen hinweist. „Aufgrund dessen ist es sicher eine Überlegung wert, sich zu fragen, ob er nur einmal die Entscheidu­ng getroffen hat, das Feuer zu eröffnen und dann drei Schüsse abgegeben hat, oder ob jeder Schuss eine Einzelents­cheidung war“, gibt der Experte zu bedenken. Das zu bewerten, überschrei­te jedoch seine Kompetenze­n.

Szenario zwei stellt den Polizisten M. weiter vom Mercedes weg, näher an das querstehen­de Polizeiaut­o.

Und der Beamte dreht sich mit dem Fluchtwage­n, als er die Schüsse abgibt. „In diesem Szenario hätte der Beamte den tödlichen Schuss zu einem Zeitpunkt abgegeben, ohne unausweich­lich in Gefahr zu sein“, führt der Experte aus. M. befand sich dann nicht in einer Gefahrensi­tuation. Das dritte Szenario, das laut den

Es gibt nur Berechnung­en – und es gilt festzustel­len, welche wahrschein­licher ist als die anderen. Gutachter im Prozess

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Foto: Michel Thiel/LW-Archiv Keine Beschleuni­gungs-, sondern eine Bremsspur: Vor dem Polizisten hatte der Mercedesfa­hrer zunächst eine Vollbremsu­ng vollzogen.

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