1,92 Sekunden in der Gefahrenzone
Zum Prozessauftakt um tödliche Polizeischüsse im April 2018 in Bonneweg setzt ein Gutachter den Rahmen
1,92 Sekunden lang beschleunigt ein Mercedes-Fahrer, der sich am 11. April 2018 in Bonneweg einer Polizeikontrolle entziehen will, seinen Wagen in Richtung eines Polizisten. Nach 2,19 Sekunden reißt der Fahrer das Steuer herum, um den Polizisten und dessen Dienstwagen zu umfahren. Das ist exakt der Augenblick, in dem der Beamte seinen ersten Schuss auf den Fahrer abgibt.
Die Kugel durchschlägt die Windschutzscheibe des Mercedes und trifft den 51-Jährigen in der Brust. 0,33 Sekunden später gibt der Polizist einen zweiten Schuss ab. Dieses Projektil durchschlägt das Beifahrerfenster und schlägt in der Schulter des Fahrers ein. Ein dritter Schuss trifft den hinteren Teil des Wagens. Das hat am Dienstag ein Unfallgutachter zum Prozessauftakt im Verfahren gegen den wegen Totschlags angeklagten, inzwischen 26-jährigen ehemaligen Polizeibeamten der Kriminalkammer vorgerechnet.
Drei Beamte haben zuvor versucht, den Autofahrer im Dernier Sol in Höhe des Bonneweger Schwimmbads zu kontrollieren. Zwei Polizisten steigen aus dem Dienstwagen aus, der Mercedesfahrer flüchtet allerdings durch den Kreisverkehr in Höhe der Obdachlosenunterkunft. Der dritte Polizist beschleunigt den Dienstwagen um den Block und stellt sich dem Fluchtfahrer 313 Meter entfernt an der Kreuzung der Rue des Ardennes mit der Rue Sigismond in den Weg.
Der damals 22-jährige Beamte M. stoppt seinen Wagen mitten in der Kreuzung. Während Blaulicht und Sirene weiter laufen, steigt er aus, gibt dem Fluchtfahrer Haltezeichen. Dieser macht eine abrupte Vollbremsung, die eine sieben Meter lange Bremsspur hinterlässt. Dann setzt der Fahrer, dessen Blutalkoholwert laut späterer Autopsie bei 1,8 Promille liegt, seinen Mercedes kurz zurück und gibt Vollgas nach vorn – in Richtung des Polizisten und dessen Streifenwagens.
Ab diesem Punkt wird es kompliziert. Denn es gibt drei mögliche Szenarien, wie sich die ausgesprochen brenzlige Situation weiter entwickelt haben könnte. Und es obliegt der hauptstädtischen Kriminalkammer binnen der kommenden drei Prozesswochen festzustellen, welches der drei Szenarien mit größter Wahrscheinlichkeit
und ihrer Überzeugung nach den Tatsachen entspricht.
Denn das macht den Unterschied, ob der Polizist M. den 51jährigen Fahrer tatsächlich in Notwehr erschossen hat oder nicht. Falls keine Notwehr zurückbehalten wird, erwartet den jungen Mann, der den Polizeidienst inzwischen quittiert hat, eine Verurteilung wegen Totschlags.
M. selbst bestätigt zum Prozessauftakt indes den tödlichen Schuss in die Brust des Opfers abgegeben zu haben, das allerdings in absoluter Notwehr.
Die drei Szenarien unterscheiden sich, wie der Experte dem Gericht
vorträgt, nur in einem einzigen Detail: die Position des Schützen beim tödlichen ersten Schuss. „Es ist nicht möglich, zu sagen, der Beschuldigte stand genau an diesem Punkt“, setzt der Experte den Rahmen. „Es gibt nur Berechnungen – und es gilt festzustellen, welche wahrscheinlicher ist als die anderen.“
Drei Schüsse – einer ist relevant
Das erste Szenario erfüllt, wie Experte, Richter und Verteidigung im Gerichtssaal übereinstimmen, die Bedingungen einer Notwehrsituation. Der Polizist hat sich auf das Auto zubewegt und befand sich dem Experten zufolge bei der Schussabgabe dann in unmittelbarer Nähe des rechten Vorderrades des Mercedes. Somit war M. in imminenter Lebensgefahr, als der Fluchtfahrer seinen Wagen aus dem Stand auf eine Geschwindigkeit von rund 30 km/h beschleunigte.
Beim zweiten Schuss durch das Seitenfenster habe er sich ganz klar außerhalb des Ausweichbereiches befunden, beim dritten sei er längst außer jeder Gefahr gewesen – wobei der Experte wiederholt auf die äußerst geringe Zeit zwischen den Schüssen hinweist. „Aufgrund dessen ist es sicher eine Überlegung wert, sich zu fragen, ob er nur einmal die Entscheidung getroffen hat, das Feuer zu eröffnen und dann drei Schüsse abgegeben hat, oder ob jeder Schuss eine Einzelentscheidung war“, gibt der Experte zu bedenken. Das zu bewerten, überschreite jedoch seine Kompetenzen.
Szenario zwei stellt den Polizisten M. weiter vom Mercedes weg, näher an das querstehende Polizeiauto.
Und der Beamte dreht sich mit dem Fluchtwagen, als er die Schüsse abgibt. „In diesem Szenario hätte der Beamte den tödlichen Schuss zu einem Zeitpunkt abgegeben, ohne unausweichlich in Gefahr zu sein“, führt der Experte aus. M. befand sich dann nicht in einer Gefahrensituation. Das dritte Szenario, das laut den
Es gibt nur Berechnungen – und es gilt festzustellen, welche wahrscheinlicher ist als die anderen. Gutachter im Prozess