Luxemburger Wort

Groß, bunt und unverschäm­t

Zürich und Frankfurt feiern die Ausnahme-Künstlerin Niki de Saint Phalle

- Von Christian Saehrendt

Wer kennt sie nicht, die großen bunten Frauenfigu­ren, die trotz ihrer Masse zu schweben scheinen? Mit den Kunststoff­plastiken der Nanas, die von Hannover bis Montreal Museen und öffentlich­e Plätze schmücken, hat sich die französisc­h-schweizeri­sche Künstlerin Niki de Saint Phalle (1930-2002) einen Namen gemacht.

Was genau heißt eigentlich „Nana“? Französisc­he Wörterbüch­er bieten ein ganzes Feld von Bedeutunge­n an. Es beginnt neutral bei „Frau“, geht über „junges Mädchen“und „Göre“bis zur „Mieze“und endet bei „Prostituie­rte“. Es handelt sich also um eine Bezeichnun­g, die stark erotisch aufgeladen ist und mit moralische­n Vorwürfen verbunden ist. Die lange Zeit bekanntest­en Nanas waren eine Romanfigur von Émile Zola aus dem Jahr 1880 und ein Modell des Malers Edouard Manet aus dem Jahr 1877. Zola benutzte die negative Kunstfigur einer Grande Cocotte namens Nana, um die mangelnde Moral der „besseren“Pariser Gesellscha­ft zu denunziere­n. Seine Nana erobert sich triebhaft und durchtrieb­en einen Platz in der Haute Volée und ruiniert alle, die ihr verfallen. Sie ist die „goldene Fliege, die aus dem Kot auffliegt und vergiftet, was sie berührt“. Am Ende verliert sie aber alles und stirbt einsam in Paris.

Mit der Namenswahl für ihre Frauenfigu­ren hat Niki de Saint Phalle also ein schweres und provokativ­es Erbe geschulter­t. Aber es war eine gute Wahl: Nikis Nanas sind übergroß, unübersehb­ar und im Wortsinn unverschäm­t. Sie sind viel zu dick, viel zu gut gelaunt, viel zu bunt! Und dann auch noch dieser anrüchige Name! Als 1974 drei Nanas in Hannover aufgestell­t werden sollten, protestier­ten gleich 18 000 Menschen gegen diese angebliche „Stadtversc­handelung“. Paradoxerw­eise fehlt den Nanas zugleich jede erotische Aura: Bunte Farben bedecken ihre Nacktheit, Gesichter, Frisuren,

Hände und Füße sind nicht zu erkennen oder stark abstrahier­t. Steht dahinter eine bewusste Strategie der Künstlerin? Catharina Hug, Kuratorin im Kunsthaus Zürich, stellt es im Ausstellun­gskatalog so dar. Es handele sich hier um eine „Entsexuali­sierung des nackten Körpers als Selbstermä­chtigung.“Nikis Nanas sind sichtbar, aber entziehen sich jeglichen voyeuristi­schen Bedürfniss­en, sie machen auf sich aufmerksam, sind aber keine Pin-Up-Girls. Dieser Widerspruc­h hat damals wie heute das Publikum irritiert, denn: Die Nanas trotzen einer sexistisch­en Verwertung­slogik, die sonst in Kunst und Werbung allgegenwä­rtig ist.

Zu Lebzeiten wurde Niki von Feministin­nen beargwöhnt und vom akademisch­en Diskurs ausgeschlo­ssen.

Zunächst war sie Model

Zu Lebzeiten wurde Niki von Feministin­nen beargwöhnt und vom akademisch­en Diskurs ausgeschlo­ssen. Die Vorbehalte bezogen sich auf die Medienaffi­nität der Künstlerin, ihre mangelnde akademisch­e Ausbildung, ihre strategisc­he kommerziel­le Ausrichtun­g und letztlich – auf ihren Erfolg. Vielleicht spielte auch ihr gutes Aussehen eine Rolle. Vor Beginn der Kunstkarri­ere war sie als Model tätig gewesen und zierte u.a. im Herbst 1952 das Cover der Vogue.

Sie wusste also, wie man sich in Szene setzt und wie mit Fotografen umzugehen ist. Zudem kam sie auf die Idee, aufblasbar­e Fünf-DollarNana­s zu lizensiere­n. Man würde das heute als pfiffige Merchandis­e-Idee bezeichnen – mittlerwei­le gibt es ja selbst Edvards Munchs „Schrei“als Blow-Up-Mitbringse­l aus dem Museumssho­p. Niki de Saint Phalle war ihrer Zeit diesbezügl­ich weit voraus. Mit einem eigenen Damenparfü­m flankierte sie 1982 ihr Oeuvre auch noch olfaktoris­ch („Duftnote harzig-grün“, heute nicht mehr erhältlich).

So wurde sie zu einer Exponentin jener bunten und eingängige­n 1980er-Jahre-Kunst, zur der auch Keith Haring, Friedensre­ich Hundertwas­ser oder James Rizzi zählten. Diese Art von Kunst war mit ihren Anklängen an die Pop Art, mit ihren einfachen Formen und mit ihrer bunten Fröhlichke­it ideal dafür geeignet, den grauen Betonwüste­n der Städte und tristen White Cubes der Museen wieder Leben einzuhauch­en. Die Nanas im öffentlich­en Raum waren ideale Maßnahmen im Rahmen einer atmosphäri­schen Stadtrepar­atur, Kontrapunk­te zum architekto­nischen Brutalismu­s und zur Ödnis öffentlich­er Grünanlage­n. Von Hannover bis Montreal: Die Aufstellun­g von Nanas waren Versuche, funktional­istische Stadtlands­chaften wieder menschlich­er und freundlich­er zu gestalten.

Besonders beliebt waren die Nanas bei Frauen, wenngleich diese sperrigen weiblichen Figuren damals keinem gängigen Schönheits­ideal entsprache­n – die Body-Positivity-Bewegung von „Big Beautyful Women (BBW)“gab es noch nicht. Eher erinnerten sie an schwangere Versionen der „Venus von Willendorf“, jenes mysteriöse­n Fruchtbark­eitsidols aus der Steinzeit. Imponieren­d war und ist die Raumgreife­nde Weiblichke­it der Nanas, die gleichzeit­ige Schwere und Schwerelos­igkeit der Figuren. In der Kulturgesc­hichte gibt es nur wenige Beispiele für monumental­e Frauenskul­pturen, Denkmäler und Figuren „Großer“Männer hingegen in Massen. Traditione­ll hatten Frauen in konservati­ven Geschlecht­erordnunge­n wenig öffentlich­en Raum einzunehme­n, dieser gehörte den Männern, bis hin zum breitbeini­gen Sitzverhal­ten in der S-Bahn. Die Nachkriegs­moderne mit ihrem Schlankhei­tsideal sorgte erst recht dafür, dass Frauen körperlich immer weniger Raum einzunehme­n hatten. Sie hungerten sich mit kostspieli­gen Diäten dünn, während die Männer prächtige Wirtschaft­swunderbäu­che vor sich hertrugen und ihre Steaks genossen. Niki hingegen nahm sich als Frau den Raum. Sie stellte Riesenfigu­ren auf, führte aufsehener­regende Performanc­es auf, in denen sie mit einem Gewehr auf Bilder schoss, spannte die Medien für sich ein.

Bis 8. Januar 2023 zeigt das Kunsthaus Zürich in einer Retrospekt­ive rund hundert Werke de Saint Phalles. Dabei wird deutlich, wie vielfältig ihr Gesamtwerk ist, das sich keineswegs in den Nanas erschöpft. Die oftmals exzentrisc­h, düster und hintergrün­dig wirkenden Malereien, Zeichnunge­n, Assemblage­n und Aktionen ihres Frühwerks verweisen auf die problemati­sche Familienge­schichte der Künstlerin, zugleich aber auch allgemein auf politische Themen und Geschlecht­errollen. Niki de Saint Phalle wurde im Laufe ihrer Karriere zur Marke und steht bis heute für eine emotionale und lebensfroh­e Kunst, die gerade Kunstlaien gut zugänglich ist. Folglich gilt sie der Fachwelt weithin als kommerziel­l, seicht und kitschig. Doch ganz unabhängig davon, dass sie zu Lebzeiten von Feministin­nen und Intellektu­ellen eher ignoriert wurde, stand die weibliche Selbstermä­chtigung ganz oben auf ihrer Agenda. Als wichtige, internatio­nal tätige Künstlerin des 20. Jahrhunder­ts erreichte sie gerade durch die Verbindung von Kunst und Kommerz eine enorme Breitenwir­ksamkeit. Dass Niki de Saint Phalle auf ihrem Weg stets innovativ, mutig und unabhängig geblieben ist, zeigt diese Ausstellun­g.

Niki de Saint Phalle wurde im Laufe ihrer Karriere zur Marke und steht bis heute für eine emotionale und lebensfroh­e Kunst, die gerade Kunstlaien gut zugänglich ist.

Bis 8. Januar 2023 im Kunsthaus Zürich. www.kunsthaus.ch. Vom 2. Februar bis 31. Mai 2023 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. www.schirn.de

«Et Dieu créa l'homme à Son Image»: Michel Ange, La création d’Adam (15081512), après restaurati­on, Chapelle Sixtine).

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