Die Schulen des Grauens
Wenn Kanada heute den „Nationalfeiertag der Wahrheit und Aussöhnung“begeht, werden im ganzen Land Gedenkmärsche und Zeremonien stattfinden, um an das traurige Schicksal von schätzungsweise 6 000 indigenen Kindern zu erinnern, die im Auftrag des kanadischen Staates und unter der Obhut der katholischen Kirche ihr Leben ließen. Dabei werden alte Wunden im kollektiven Gedächtnis der First Nations aufgerissen, die trotz Entschuldigungen von Premier Justin Trudeau und Papst Franziskus noch lange nicht verheilt sind. Zwar wurden mittlerweile erste Schritte – wie die Einführung des „Nationalfeiertags der Wahrheit und Aussöhnung“und Entschädigungszahlungen für die Opfer – in Richtung Versöhnung unternommen. Doch das reicht noch lange nicht.
Zur Erinnerung: In den katholischen Umerziehungsinternaten – den sogenannten Residential Schools – sollte die indigene Identität und Sprache ausgelöscht werden. Die Ureinwohner Kanadas sollten sich in die Gesellschaft der weißen Kolonialisten einfügen und „zivilisiert“werden. So wurden ab 1880 indigene Kinder ihren Familien entrissen, um sie in den „Schulen“zwangsweise an die vermeintlich überlegene, westliche Kultur anzupassen. Generationen indigener Kinder wurden dabei traumatisiert. Ihren Eltern drohte Gefängnis, wenn sie ihre Sprösslinge nicht freiwillig brachten. Viele von ihnen verfielen dem Alkohol. Ab dem Ende der 1960er-Jahre entzog der Staat der Kirche dann schrittweise die Leitung der Umerziehungsinternate. Das letzte schloss aber erst 1996. 2015 kam der Bericht der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“zum Schluss, dass es sich dabei um einen „kulturellen Genozid“gehandelt hat, bei dem der Staat und die katholische Kirche Hand in Hand agierten. Bis heute ist jedoch unklar, wie viele der rund 150 000 indigenen Kinder in den Residential Schools genau starben. Es waren aber auf jeden Fall Tausende. Davon zeugen auch hunderte unmarkierte Kindergräber, die rund um die katholischen Umerziehungsinternate entdeckt wurden – nicht die letzten Funde einer schaurigen Vergangenheit.
Der Papst-Besuch Ende Juli war nur ein Anfang. Eine Entschuldigung und das Tragen von Federschmuck, genügen jedoch nicht. Die Anerkennung des Leids ist wichtig. Aber ebenso wichtig sind nun die Konsequenzen. So könnte die katholische Kirche – und auch der kanadische Staat – etwa viel zur Aufklärung der Missstände beitragen, wenn Dokumente aus den Archiven öffentlich zugänglich gemacht würden. Dabei geht es etwa um Meldelisten, um Namen, Jahrgänge und Heimatreservate zuordnen zu können. Vertreter der Indigenen beklagen, dass nicht alle angeforderten Akten ausgehändigt werden. Außerdem lagern im Vatikan noch immer zahlreiche indigene Kulturgegenstände. Ihre Herausgabe wäre ein Zeichen des guten Willens. Stattdessen deckt die katholische Kirche Täter von damals, statt sie konsequent zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Versöhnung wird also eine Herkulesaufgabe bleiben. Und dabei geht es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung. Denn viele Überlebende des Schulsystems und ihre Kinder leben bis heute in prekären Verhältnissen.
Die Versöhnung wird eine Herkulesaufgabe bleiben.