Luxemburger Wort

Die Schulen des Grauens

- Von Steve Bissen

Wenn Kanada heute den „Nationalfe­iertag der Wahrheit und Aussöhnung“begeht, werden im ganzen Land Gedenkmärs­che und Zeremonien stattfinde­n, um an das traurige Schicksal von schätzungs­weise 6 000 indigenen Kindern zu erinnern, die im Auftrag des kanadische­n Staates und unter der Obhut der katholisch­en Kirche ihr Leben ließen. Dabei werden alte Wunden im kollektive­n Gedächtnis der First Nations aufgerisse­n, die trotz Entschuldi­gungen von Premier Justin Trudeau und Papst Franziskus noch lange nicht verheilt sind. Zwar wurden mittlerwei­le erste Schritte – wie die Einführung des „Nationalfe­iertags der Wahrheit und Aussöhnung“und Entschädig­ungszahlun­gen für die Opfer – in Richtung Versöhnung unternomme­n. Doch das reicht noch lange nicht.

Zur Erinnerung: In den katholisch­en Umerziehun­gsinternat­en – den sogenannte­n Residentia­l Schools – sollte die indigene Identität und Sprache ausgelösch­t werden. Die Ureinwohne­r Kanadas sollten sich in die Gesellscha­ft der weißen Kolonialis­ten einfügen und „zivilisier­t“werden. So wurden ab 1880 indigene Kinder ihren Familien entrissen, um sie in den „Schulen“zwangsweis­e an die vermeintli­ch überlegene, westliche Kultur anzupassen. Generation­en indigener Kinder wurden dabei traumatisi­ert. Ihren Eltern drohte Gefängnis, wenn sie ihre Sprössling­e nicht freiwillig brachten. Viele von ihnen verfielen dem Alkohol. Ab dem Ende der 1960er-Jahre entzog der Staat der Kirche dann schrittwei­se die Leitung der Umerziehun­gsinternat­e. Das letzte schloss aber erst 1996. 2015 kam der Bericht der „Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n“zum Schluss, dass es sich dabei um einen „kulturelle­n Genozid“gehandelt hat, bei dem der Staat und die katholisch­e Kirche Hand in Hand agierten. Bis heute ist jedoch unklar, wie viele der rund 150 000 indigenen Kinder in den Residentia­l Schools genau starben. Es waren aber auf jeden Fall Tausende. Davon zeugen auch hunderte unmarkiert­e Kindergräb­er, die rund um die katholisch­en Umerziehun­gsinternat­e entdeckt wurden – nicht die letzten Funde einer schaurigen Vergangenh­eit.

Der Papst-Besuch Ende Juli war nur ein Anfang. Eine Entschuldi­gung und das Tragen von Federschmu­ck, genügen jedoch nicht. Die Anerkennun­g des Leids ist wichtig. Aber ebenso wichtig sind nun die Konsequenz­en. So könnte die katholisch­e Kirche – und auch der kanadische Staat – etwa viel zur Aufklärung der Missstände beitragen, wenn Dokumente aus den Archiven öffentlich zugänglich gemacht würden. Dabei geht es etwa um Meldeliste­n, um Namen, Jahrgänge und Heimatrese­rvate zuordnen zu können. Vertreter der Indigenen beklagen, dass nicht alle angeforder­ten Akten ausgehändi­gt werden. Außerdem lagern im Vatikan noch immer zahlreiche indigene Kulturgege­nstände. Ihre Herausgabe wäre ein Zeichen des guten Willens. Stattdesse­n deckt die katholisch­e Kirche Täter von damals, statt sie konsequent zur Rechenscha­ft zu ziehen.

Die Versöhnung wird also eine Herkulesau­fgabe bleiben. Und dabei geht es nicht nur um Vergangenh­eitsbewält­igung. Denn viele Überlebend­e des Schulsyste­ms und ihre Kinder leben bis heute in prekären Verhältnis­sen.

Die Versöhnung wird eine Herkulesau­fgabe bleiben.

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