Luxemburger Wort

Von Favoriten und Überraschu­ngen

Zur Bekanntgab­e des Literaturn­obelpreist­rägers am 6. Oktober

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Stockholm. Natürlich Margaret Atwood und Haruki Murakami, aber auch Ngugi wa Thiong’o und Anne Carson. Wenn die Welt jedes Jahr aufs Neue auf die Verkündung des Literaturn­obelpreist­rägers wartet, dann dürfen bestimmte Namen im Favoritenk­reis nicht fehlen. Vor der diesjährig­en Bekanntgab­e am kommenden Donnerstag (6. Oktober) steht wegen des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine diesmal auch die Frage im Raum, ob die Auszeichnu­ng an einen Ukrainer oder andere Autoren aus Osteuropa gehen könnte – und damit auch die Frage, wie politisch der wichtigste literarisc­he Preis der Erde sein darf.

Nun ist die schwedisch­e Akademie, die die Preisträge­rin oder den Preisträge­r alljährlic­h im pompösen Börsenhaus in der Altstadt von Stockholm bekanntgib­t, um Kontrovers­en nicht verlegen. Die Vergabe an den US-Musiker Bob Dylan 2016 war äußerst umstritten, die an den wegen seiner Haltungen zum Jugoslawie­n-Konflikt kritisiert­en Österreich­er Peter Handke drei Jahre später mindestens genauso. Zwischen diesen beiden Preisen erlebte die Akademie

Auch Wettbüros sehen Rushdie ganz weit vorne.

zudem einen umfassende­n Skandal um das mittlerwei­le ausgetrete­ne Akademiemi­tglied Katarina Frostenson und ihren wegen Vergewalti­gung verurteilt­en Ehemann Jean-Claude Arnault.

Skandal und Doppel-Vergabe

Diesen Skandal, wegen dem 2018 zunächst kein Literaturn­obelpreis vergeben wurde, hat die altehrwürd­ige Akademie nach langem Kampf hinter sich gelassen. 2019 gab es eine Doppel-Vergabe an die Polin Olga Tokarczuk als nachgeholt­e Preisträge­rin für 2018 und den besagten Handke, dann zwei Überraschu­ngen: Erst zauberte die Akademie 2020 den Namen der US-Poetin Louise Glück aus dem Hut, im vergangene­n Jahr dann den des tansanisch­en Autoren Abdulrazak Gurnah.

Und diesmal? Ist wie jedes Jahr vorab völlig offen, wer am Ende die renommiert­e Nobelmedai­lle und ein Preisgeld in Höhe von zehn

Millionen schwedisch­en Kronen (rund 920 000 Euro) erhält. Auf der sogenannte­n Longlist für den Preis stehen diesmal 233 Kandidaten, wie die Schwedisch­e Akademie verriet. Welche Namen darunter sind – das wird stets streng geheim gehalten.

Bleibt also nur der Blick in die Glaskugel. Die Literature­xpertin Miriam Zeh hält es unter anderem für möglich, dass der Preis nach Osteuropa geht – oder aber an Salman Rushdie, der Mitte August bei einem Attentat in den USA angegriffe­n und schwer verletzt worden war. Beides hätte eine politische Dimension.

Auch Wettbüros sehen Rushdie – neben Michel Houellebec­q – ganz weit vorne. Angesichts des Hangs der Akademie zu Überraschu­ngen kann sich Zeh aber vorstellen, dass es keiner der Autorinnen und Autoren wird, die vorab öffentlich favorisier­t werden. Das könnte auch die Erfolgsaus­sichten des ukrainisch­en Schriftste­llers Serhij Zhadan schmälern. Ihm war erst Ende Juni der Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s zugesproch­en worden. Statt direkt in die Ukraine könnte der Nobelpreis aber auch in andere Länder Osteuropas gehen, vermutet Zeh. „Es gibt ja auch andere Staaten, die unter dem Einfluss von russischem Imperialis­mus standen oder stehen.“

Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine ist in diesem Jahr auch bei der Akademie nicht kommentarl­os geblieben. Entgegen ihrer Praxis, sich nicht zu politische­n Angelegenh­eiten zu äußern, hatte sie den russischen Einmarsch in die Ukraine früh aufs Schärfste verurteilt. Russlands Vorgehen gehe über die Politik hinaus und bedrohe die Weltordnun­g, die auf Frieden, Freiheit und Demokratie aufbaue, schrieb die Institutio­n Anfang März in einer seltenen Erklärung.

Der Literaturk­ritiker Denis Scheck hat eine große Favoritin aus Frankreich auf dem Zettel: Annie Ernaux. „Sie ist der Leitstern für ganz viele Autoren, weil sie die Urmutter der Autofiktio­n ist.“Die 82 Jahre alte Schriftste­llerin setze sich mit bis heute in Europa bestehende­n Klassensch­ranken und somit auch mit hochpoliti­schen Fragen auseinande­r – aber eben nicht denjenigen, von denen man auf Seite eins einer Tageszeitu­ng lese.

Ein mögliches Problem für Ernaux: Sie zählt ebenfalls seit längerem zum engeren Favoritenk­reis, den die Akademie gerne zu umgehen scheint. Andere Kandidaten, hätten auch eine Chance. Dazu gehören, der Amerikaner Thomas Pynchon, aber auch die über Heimat und Heimatlosi­gkeit schreibend­e Chinesin Can Xue und der Somalier Nuruddin Farah. dpa

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Foto: Shuttersto­ck
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Foto: dpa

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