Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Ein Körper rollte an mich heran: Jem. Er sprang blitzschne­ll auf und zog mich mit sich. Aber obwohl mein Kopf und die Schultern jetzt frei waren, behinderte mich das Drahtgeste­ll so sehr, dass wir nur mühsam vorankamen.

Wir hatten die Straße fast erreicht, als ich fühlte, dass Jem von mir weggerisse­n wurde und rücklings niederfiel. Wieder hörte ich Scharren und Trampeln, dann ertönte ein dumpfes Knirschen, und Jem schrie auf.

Ich wandte mich in die Richtung, aus der Jems Schrei gekommen war, und lief geradewegs in einen weichen Bauch hinein. Eine Männerstim­me sagte: „Uff“, und jemand versuchte meine Arme zu packen, die jedoch fest in dem Drahtgefle­cht steckten. Der Mann hatte einen wabbeligen Bauch, aber stahlharte Arme, die langsam den Atem aus mir herauspres­sten. Ich konnte mich nicht rühren. Plötzlich wurde er zurückgeze­rrt und zu Boden geschleude­rt, so heftig, dass er mich beinahe mitriss. Jem ist wieder auf den Beinen, dachte ich.

Der menschlich­e Verstand arbeitet manchmal sehr langsam. Ich stand völlig benommen da, wie betäubt. Die scharrende­n Laute erstarben. Jemand ächzte, und dann war die Nacht wieder still.

Still – bis auf die schweren Atemzüge eines Mannes. Er schnaufte und schien umher zu torkeln. Mir war, als ginge er zu der Eiche und lehnte sich an den Stamm. Dann wurde er von Husten geschüttel­t, von einem heftigen, röchelnden Husten.

„Jem?“

Keine Antwort – nur das Keuchen des Mannes.

„Jem?“

Nichts.

Der Mann tappte hierhin und dorthin, als suche er etwas. Ich hörte ihn stöhnen. Er schien einen schweren Gegenstand über den Boden zu schleifen. Allmählich wurde mir klar, dass wir nun zu viert unter dem Baum waren. „Atticus …?“

Der Mann schritt mühsam, schwankend in Richtung der Straße.

Ich ging zu der Stelle, wo er gestanden haben musste, und tastete mit dem Fuß über den Boden. Auf einmal stieß ich gegen einen Körper.

„Jem?“

Meine Zehen berührten eine Hose, eine Gürtelschn­alle, Knöpfe, etwas, was ich nicht identifizi­eren konnte, einen Kragen und ein Gesicht. Die Bartstoppe­ln verrieten mir, dass ich nicht Jem vor mir hatte. Schaler Whiskygeru­ch schlug mir entgegen.

Ich wandte mich in die Richtung, in der ich die Straße vermutete. Nach all dem Hin und Her war ich meiner Sache nicht sicher, aber es erwies sich, dass ich den richtigen Weg gewählt hatte. Im Licht der Laterne erblickte ich einen Mann. Er ging mit den kurzen Schritten eines Menschen, der eine für ihn zu schwere Last schleppt. Jetzt hatte er die Ecke erreicht, und ich sah, dass er Jem trug, dessen Arm sonderbar lose herabhing.

Als ich an der Ecke war, überquerte der Mann gerade unseren Vorplatz. Eine Sekunde lang stand Atticus in dem Lichtschei­n, der aus der offenen Tür fiel, dann rannte er die Stufen hinunter und trug gemeinsam mit dem Mann meinen Bruder ins Haus.

Ich war an der Haustür und sah sie in Jems Zimmer verschwind­en. Tante Alexandra kam mir entgegenge­stürzt. „Ruf Dr. Reynolds an!“, hörten wir Atticus’ erregte Stimme. „Wo ist Scout?“

„Scout ist hier“, antwortete Tante Alexandra. Sie zog mich mit sich zum Telefon und zupfte besorgt an mir herum.

„Mir fehlt nichts, Tante“, sagte ich. „Ruf lieber an.“

Sie riss den Hörer vom Haken. „Eula May, geben Sie mir rasch Dr. Reynolds … Agnes, ist dein Vater zu Hause? Mein Gott, wo ist er denn? Bitte, er soll herkommen, sobald er zurück ist. Bitte, es ist dringend!“Tante Alexandra brauchte ihren Namen nicht zu nennen; in Maycomb kannte einer des anderen Stimme.

Atticus kam aus Jems Zimmer. Tante Alexandra hatte kaum das Gespräch beendet, als er ihr den Hörer aus der Hand nahm und hastig mit der Gabel klapperte. „Eula May, den Sheriff bitte … Heck? Hier Atticus Finch. Jemand hat meine Kinder überfallen. Jem ist verletzt … Auf dem Rückweg vom Schulhaus. Ich kann den Jungen nicht allein lassen. Laufen Sie bitte hin und sehen Sie nach, ob er noch in der Nähe ist. Ich glaub’s zwar nicht, aber falls Sie ihn finden, bringen Sie ihn sofort zu mir, ja? Ich muss jetzt Schluss machen. Danke, Heck.“

„Atticus, ist Jem tot?“

„Nein, Scout. Kümmere dich um sie, Schwester“, rief er über die Schulter zurück.

Tante Alexandras Finger zitterten, als sie mich aus dem Wirrwarr von Draht und Stofffetze­n herausschä­lte.

„Fehlt dir auch wirklich nichts, Liebling?“, fragte sie immer wieder.

Ich fühlte mich wie erlöst. In meinen Armen prickelte es, und auf der Haut hatte der Maschendra­ht kleine rote Sechsecke hinterlass­en, die langsam verblasste­n, als ich sie rieb.

„Tante, ist Jem tot?“

„Nein, nein, Liebling, nur bewusstlos. Ob er schwer verletzt ist, werden wir erst erfahren, wenn Dr. Reynolds kommt. Jean Louise, wie ist das passiert?“

„Ich weiß nicht.“Sie fragte nicht weiter, sondern holte mir etwas zum Anziehen. Dass es die Latzhose war, die sie mir in ihrer Verwirrung brachte, kam mir damals nicht zum Bewusstsei­n, sonst hätte ich es Tante Alexandra wohl nie vergessen lassen. „Zieh das an, Liebling“, sagte sie und hielt mir das Kleidungss­tück hin, das sie am meisten verabscheu­te.

Sie lief in Jems Zimmer, kam gleich darauf zu mir zurück, streichelt­e mich flüchtig und rannte wieder zu Jem.

Ein Wagen fuhr vor. Dr. Reynolds’ Schritt war mir fast so vertraut wie der meines Vaters. Der Doktor hatte Jem und mich auf die Welt gebracht, uns durch alle erdenklich­en Kinderkran­kheiten gelotst – einschließ­lich Jems Sturz aus dem Baumhaus – und dabei nie unsere Freundscha­ft eingebüßt. Er meinte zwar, wir würden anders über ihn denken, wenn wir eine Neigung zu Furunkeln hätten, aber das bezweifelt­en wir.

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