Klassenausflug mit Kopftuch
An den französischen Schulen wird das Kopftuchverbot immer häufiger verletzt
Für die elfte Klasse des SimoneWeil-Gymnasiums stand Mitte September ein Ausflug in die historische Bibliothek von Paris auf dem Programm. Was als einfache Exkursion begann, endete allerdings fast in einem Drama. Denn eine 17-jährige Schülerin setzte ihr Kopftuch auf, sobald sie das Schulgebäude im Marais-Viertel verlassen hatte. Als die Lehrerin darauf hinwies, dass das Verbot, die religiöse Kopfbedeckung zu tragen, auch bei Ausflügen gelte, widersprach das Mädchen heftig und rief seinen Bruder an. „Ich werde dich fertig machen. Du wirst sehen, was dir passiert“, bedrohte der 22-Jährige die Lehrerin am Telefon. Als er kurz darauf tatsächlich zur historischen Bibliothek kam, nahm die Polizei ihn fest. „Wenn jemand meine Schwester anfasst oder sie auffordert, das Kopftuch abzunehmen, töte ich ihn“, drohte er erneut.
Der Zwischenfall passt zu einem Bericht des interministeriellen Ausschusses zur Bekämpfung von Kriminalität und Radikalisierung. Das Dokument warnt vor einer Zunahme religiöser Tendenzen unter Musliminnen und Muslimen in französischen Schulen. Das gilt nicht nur für das Kopftuch, das Mädchen auf dem Gang zwischen zwei Unterrichtsstunden aufsetzen, sondern auch für Gebete, die auf der Toilette gesprochen werden. Im letzten Vierteljahr wurden mehr als 600 solcher Verstöße gezählt, darunter knapp ein Viertel wegen religiöser Kleidung – mit einem deutlichen Anstieg im Vergleich zu den Monaten davor.
Das Tragen religiöser Symbole ist seit 2004 in der Schule verboten. Die staatlichen Bildungseinrichtungen sollen laizistisch sein, also frei von religiösen Einflüssen. Deshalb ist das Kopftuch ebenso untersagt wie die Kippa oder ein großes Kreuz um den Hals. Doch was auf dem Papier steht, wird nicht immer befolgt. Bereits 2004 hatte der ehemalige Schulinspektor Jean-Pierre Obin für das Bildungsministerium einen Bericht verfasst, in dem er islamistische Tendenzen in 61 Schulen in Problemvierteln zusammenfasste. Der frühere Lehrer beschrieb, wie sich muslimische Schülerinnen und Schüler in der Kantine, auf dem Pausenhof und sogar auf der Toilette von „NichtGläubigen“absondern. Wie Eltern und Kinder den Weihnachtsbaum aus dem Schulgebäude verbannt sehen wollen und wie sich Mädchen mit vorgeschobenen Chlorallergien dem Schwimmunterricht entziehen. Seither habe sich die Situation noch verschlechtert, sagt Obin.
„Gut eingeübte Rhetorik“
Dem Bericht des interministeriellen Ausschusses zufolge bedienen sich radikale Muslime der Videoplattform TikTok und des Kurznachrichtendienstes Twitter, um muslimische Jugendliche über anonyme Konten dazu aufzufordern, ihre Religion auch in der Schule zu zeigen. So werden Schülerinnen dazu animiert, die Abaya, ein langes Gewand, zu tragen. Auf TikTok gibt es für die Mädchen zudem Anleitungen, wie sie ihre Haare mit einem breiten Haarband verhüllen können, um das Kopftuchverbot zu umgehen. Die Anstifter fordern die Schülerinnen und Schüler dazu auf, in die Konfrontation mit ihren Lehrern zu gehen und ihnen eine Diskriminierung der Muslime vorzuhalten. „Man wirft uns vor, Mädchen mit nacktem Bauch reinzulassen und die Abaya abzulehnen. Das ist eine gut eingeübte Rhetorik, die es vorher nicht gab“, berichtet Carole Zerbib vom Pariser Voltaire-Gymnasium der Zeitung „Le Parisien“.
Wie sehr die Laizität, die strenge Trennung von Religion und Staat, gerade in der Schule gefährdet ist, zeigte vor zwei Jahren die Ermordung des Lehrers Samuel Paty.
Man wirft uns vor, Mädchen mit nacktem Bauch reinzulassen und die Abaya abzulehnen. Das ist eine gut eingeübte Rhetorik, die es vorher nicht gab. Carole Zerbib vom Pariser VoltaireGymnasium
Der 47-Jährige hatte im Staatsbürgerunterricht in der achten Klasse das Thema Meinungsfreiheit behandelt und dabei die Mohammed-Karikaturen der Satirezeitung „Charlie Hebdo“gezeigt. 2015 hatten wegen dieser Zeichnungen Islamisten einen Anschlag auf „Charlie Hebdo“verübt und elf Menschen erschossen. Auch für Paty waren die Karikaturen tödlich: Er wurde auf dem Nachhauseweg in Conflans-Sainte-Honorine, einem bürgerlichen Vorort von Paris, von einem 18-jährigen Islamisten enthauptet.
Seit dem Attentat hat sich die Selbstzensur der Lehrerinnen und Lehrer, die Obin bereits 2004 beschrieb, noch verstärkt. Jeder zweite gibt an, im Laufe seiner Karriere heikle Themen ausgeklammert oder sich eine Reaktionen verkniffen zu haben. „Man muss diskutieren, seine Worte abwägen. Das ist ein ständiger Kampf“, berichtet ein Lehrer des Simone-Weil-Gymnasiums, der anonym bleiben will, dem „Parisien“. „Viele Kollegen sagen nichts mehr, weil sie genug haben und sich wehrlos fühlen.“