Linken-Ikone gegen rechten Scharfmacher
Richtungswahl in Brasilien: Ex-Präsident Lula will Amtsinhaber Bolsonaro entthronen
Manchmal vergisst man, dass es am Sonntag in Brasilien nur um das Präsidentenamt geht. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, Luiz Inácio Lula da Silva und Amtsinhaber Jair Bolsonaro, stehen nicht nur an den beiden Enden der politischen Skala. Sie stellen den jeweiligen Opponenten zugleich als das größte Übel dar, das Brasilien unweigerlich in den Abgrund führen würde. Das war bei der letzten Debatte vor der Wahl am späten Donnerstagabend wieder zu beobachten. Beide Kandidaten standen sich spinnefeind gegenüber und überzogen sich wechselseitig mit Vorwürfen und Beleidigungen. Die Wahl gleicht einer offenen Feldschlacht, bei der auch die Anhänger beider Lager schon Wähler der anderen Seite angegriffen und getötet haben. Inhaltliche Fragen sind dabei schon lange auf der Strecke geblieben.
Angst vor Gewaltausbruch
Vor allem Bolsonaro geizt nicht mit Beleidigungen, Lügen, Hetze und unterschwelligen Aufrufen zur Gewalt, sollte Lula gewinnen, was die Umfragen nahelegen. Der linke Ex-Präsident sei ein „Trinker“, „Ex-Knacki“und „Kommunist“.
Vor allem als letzterer sei er ein „Wiedergänger des Teufels“, der bekämpft gehört. Experten und ein erheblicher Teil der Bevölkerung fürchten Gewalt schon am Sonntag, sollte Bolsonaro verlieren. In einer ohnehin an vielen Ecken in Flammen stehenden Welt deutet sich Brasilien als der nächste Brandherd an.
Dabei bringt vor allem der Amtsinhaber seine Bataillone in Stellung: Die evangelikalen Pfingstkirchen, wo Pfarrer in ihren Predigten gegen Lula geifern. Ein fanatisches Heer von Anhängern, von denen ein Großteil mittlerweile dank Bolsonaros Lockerung der Waffengesetze bewaffnet ist. Letztlich kokettierte er immer mit der Loyalität von Polizei und Streitkräften. Das kommt nicht von ungefähr. Wie kein anderer Präsident seit der Demokratisierung Brasiliens hat Bolsonaro seine Regierung militarisiert. „Mehr als 6 000 Militärs bekleiden Posten in Ministerien, viele sind Entscheidungsträger“, sagt der Politologe Oliver Stuenkel vom Think-Tank Fundaçao Getúlio Vargas. Dazu gehören auch Minister und vor allem Vizepräsident und Ex-General Hamilton Mourão.
Es ist völlig unklar, ob Bolsonaro eine Niederlage hinnehmen oder die Ergebnisse wie Donald Trump nach dessen Wahlniederlage mittels eines Sturms auf das Parlament im Januar 2021 zu drehen versuchen würde. Je klarer der Sieg Lulas, desto kleiner die Chance für den Ultrarechten, diese anzufechten.
Lula, Ex-Präsident und Kandidat der linken Arbeiterpartei PT, liegt laut der jüngsten Umfrage des Umfrageinstituts Datafolha mit 50 Prozent der Stimmen klar vor dem radikal rechten Demokratieverächter Bolsonaro (36 Prozent). Damit würde Lula sich den Wahlsieg in der ersten Runde sichern. Allerdings gibt es einen beträchtlichen Teil von „schweigenden Wählern“, die für den Amtsinhaber stimmen, das aber nicht sagen wollen. So erscheint eine Stichwahl am 30. Oktober als das wahrscheinlichste Szenario.
Sehnsucht nach alten Zeiten
Lula setzte im Wahlkampf auf einen demokratischen Gegenentwurf zu Bolsonaro. Er appellierte an die Zeiten, als er Brasilien zwischen 2003 und 2011 regierte und die Menschen, wie er sagt, „friedlicher und glücklicher“waren. Damals gelang es Millionen, der Armut zu entkommen.
Tatsächlich waren es rückblickend goldene Jahre: Die Weltmärkte fragten Soja, Mais, Weizen, Fleisch, Öl und Gas aus Brasilien massiv nach. Das Devisenkonto schwoll an. Die Wirtschaft boomte, das größte Land Lateinamerikas stieg vom Schwellenland zum Land der Zukunft auf und war nach Lulas Amtszeit die sechstgrößte Volkswirtschaft. Am Ende der ersten Amtszeit Bolsonaros steht Brasilien auf Platz 13. Der Hunger ist zurück, 33 der 215 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer werden nicht mehr satt. Auch mit dieser Sehnsucht nach den alten Zeiten erklärt sich Lulas Aufwind.
Dabei hat Bolsonaro nichts unversucht gelassen, zu seinem Herausforderer aufzuschließen. Der Amtsinhaber baute das Nothilfeprogramm „Auxílio Brasil“(„Hilfe für Brasilien“) aus, erhöhte die Zuwendungen um 50 Prozent und verlängerte es bis nach der Wahl. In diesem Rahmen erhalten bedürftige Familien monatlich mehr als 115 Euro Hilfe. Es gibt zudem Gutscheine für Kochgas und Direkthilfen für Taxi- und Lkw-Fahrer. Dafür gab Bolsonaro acht Milliarden Dollar an Staatsgeldern aus. Genutzt hat es anscheinend nicht viel.
Je klarer der Wahlsieg Lulas, desto kleiner die Chance für den Ultrarechten, diese anzufechten.
„Anti-Bolsonaro-Bündnis“
Das mag auch daran liegen, dass es dem Linkskandidaten zugleich gelang, eine breite Allianz zu schmieden. In einer Art „Anti-Bolsonaro-Bündnis“finden sich zehn Parteien aus dem progressiven Spektrum, mehrere frühere Präsidentschaftskandidaten und einflussreiche Politiker wie Ex-Zentralbankpräsident Henrique Meirelles. Lulas größter Trumpf aber ist Geraldo Alckmin, ein konservativer Politiker, der Vizepräsident werden soll. Mit Alckmin streckt Lula die Hand zur klassischen konservativen Elite aus, die mit dem ordinären Rechtsaußen Bolsonaro nichts anfangen kann.
Zuletzt konnte Lula auch die frühere Umweltministerin Marina Silva an seine Seite holen. Sie grün
Der Hunger ist zurück, 33 der 215 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer werden nicht mehr satt
dete mit ihm die Arbeiterpartei PT, war fünf Jahre Ministerin in seinen Regierungen, bevor sie frustriert aufgab. Lula interessierte sich damals wenig für nachhaltige Umweltpolitik. Ihre neuerliche Unterstützung für Lula macht seine Wendung zu einem klimaaffinen Kandidaten glaubhaft. Silva steht überdies bei jungen Wählerinnen und Wählern hoch im Kurs. Und letztlich ist sie auch eine Evangelikale, die Lula zumindest ein paar Stimmen aus dieser immer stärker wachsenden Wählerschaft bringen kann.
In den jüngsten Umfragen baute Ex-Präsident Lula von der linken Arbeiterpartei PT seinen Vorsprung weiter aus. Er würde demnach in der ersten Wahlrunde auf 50 Prozent der Stimmen kommen, Bolsonaro gerade mal auf 36 Prozent.