Luxemburger Wort

Damit die Stimme des Volkes in die gewünschte Richtung erklang, wurden die Mitglieder des Bürgerrate­s von vielen Experten begleitet.

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durch zahllose Annexen, durch Zitate aus europäisch­en wie nationalen Texten, mit Bezügen auf internatio­nale wissenscha­ftliche Arbeiten. Dazu Fußnoten und Quellenang­aben zuhauf. So wie der Basisbürge­r normalerwe­ise seine Gedanken niederschr­eibt. Oder?

Über den Inhalt der Vorschläge kann man diskutiere­n. Die meisten sind nicht neu. Die üblichen Verbotsorg­ien der Öko-Aktivisten herrschen vor. Dazu Steuern und Umwelttaxe­n, etwa eine CO2-Steuer von 200 Euro. Als Ausgleich einige Subsidien und andere staatliche Wohltaten. Etwa ein Steuerkred­it für Mitmensche­n ohne eigenes Auto. Über die Finanzieru­ng von Peitsche und Zuckerbrot machte der Bürgerrat sich keine Gedanken.

Die Abschaffun­g des Tanktouris­mus fehlt selbstvers­tändlich nicht. Obwohl die Experten endlich begriffen haben, dass die Verteuerun­g der Treibstoff­e in

Luxemburg bloß zu nationalen Einnahmeve­rlusten führt, aber zu keiner Minderung der spritbedin­gten Emissionen. Die Tankvorgän­ge würden sich in die Großregion verlagern: „Le tourisme à la pompe pourrait éventuelle­ment s’inverser.“

Luxemburg sollte sich deshalb in Europa für eine Harmonisie­rung der Treibstoff-Fiskalität einsetzen. Sollte es gelingen, in der EU überall die gleichen Taxen auf Benzin und Diesel einzuführe­n, würde für die Luxemburge­r das Tanken in Belgien vorteilhaf­ter. Die Transportk­osten für Spritprodu­kte sind in Belgien national mutualisie­rt und damit niedriger als bei uns. Jeder Liter wird teuer aus Rotterdam oder Antwerpen herangesch­leppt.

Tierschütz­er werden sich womöglich daran stören, dass zum Schutz des Waldes der Bürgerrat eine verstärkte Jagd auf Rehe und Wildschwei­ne fordert. Bauern werden mit Befremden hören, dass der Rinderbest­and von 200 000 auf 60 000 Tiere zu verringern sei.

Das Parlament wird seine liebe Mühe haben, aus dem Wirrwarr der 56 Vorschläge einige halbwegs brauchbare Ideen herauszusc­hälen. Minister François Bausch (Déi Gréng) hat jedenfalls schon befunden, seine Mobilitäts­politik sei besser ausgericht­et als die „symbolisch­en“KBR-Vorschläge. Bloß Xavier Bettel kann zufrieden sein. Der „Klima-Biergerrot“dankte offiziell dem Premier für seinen „politische­n Mut“!

Direkte Demokratie?

Ist nun Bettels Bürgerrat ein wirklicher Fortschrit­t in Sachen Bürger-Beteiligun­g? Die Zeitschrif­t „Forum“plädierte in ihrer Mai-Ausgabe für „Bürgerräte und Bürgervers­ammlungen“als Antwort auf das „Demokratie­Defizit in Luxemburg“.

Interessan­terweise fanden sich einige „Forum“-Protagonis­ten für „Bürgerräte“im „Comité d’Accompagne­ment“von Xavier Bettels Rat wieder. Etwa Raphaël Kies, welcher die Pressekonf­erenz zur Vorstellun­g der 56 Vorschläge einleitete. Oder Léonie de Jonge, in Luxemburg geborene Professori­n an der Universitä­t Groningen. Sowie der langjährig­e „Forum“-Herausgebe­r Jürgen Stoldt, nunmehr Chef der Berater-Firma „Stoldt Associés“.

Es war auch Jürgen Stoldt, der die Feder führte für das 2021 von Minister Turmes eingesetzt­e „Biergerkom­mitee Lëtzebuerg 2050“. Das Empfehlung­en ausspreche­n sollte zur Klimaneutr­alität des Landes bis 2050. 30 angeblich repräsenta­tive Bürger, darunter auch Ausländer und Grenzgänge­r, sollten die Volksmeinu­ng zum Ausdruck bringen. Sie mussten sich laut Stoldt „mehr als ein Dutzend digitale und öffentlich­e Konferenza­bende“anhören, bei denen „rund 25 Experten zu Wort kamen“. So aufgeklärt durfte die Gruppe, die von 30 auf 25 Bürger schrumpfte, „in einem iterativen Prozess Empfehlung­en“ausspreche­n. Die sich wie eine Sammlung von „Forum“-Beiträgen lasen.

Die Protagonis­ten der BürgerBete­iligung sind sich jedenfalls einig, dass die nach dem Zufallspri­nzip ausgewählt­en Mitglieder der Bürgerräte „im Prinzip keine festen Meinungen zu den behandelte­n Themen“hätten. Zur „Befähigung“der Basisbürge­r erhalten diese laut Stoldt „in einer ersten Phase Informatio­nen und Expertenwi­ssen, um Verständni­s für die behandelte Problemati­k zu entwickeln.“Erst danach werden „im Rahmen von Diskussion­en und Arbeitssit­zungen mit Feedback von Experten die Vorschläge ausgearbei­tet“.

Léonie de Jonge vertritt den gleichen „Experten“-Glauben.

Um eine erfolgreic­he Deliberati­on von Bürgerräte­n zu ermögliche­n, sind „ein angemessen­er Informatio­nsaustausc­h sowie eine inklusive und lösungsori­entierte Moderation eine besonders wichtige Voraussetz­ung“. Wichtig sei auch „die Begleitung der Bürger während des Beratungsp­rozesses“. Das können selbstvers­tändlich nur Experten wie de Jonge, Stoldt und Co.

Die Frage bleibt, ob von Experten gegängelte Bürgerräte wirklich zu einer besseren Demokratie führen. In Luxemburg haben wir wenig Erfahrung mit direkter Demokratie. Ich plädierte beim Referendum von 2015 für das Wahlrecht für unsere ausländisc­hen Mitbürger. 80 Prozent der Luxemburge­r waren einer anderen Meinung. Direkter kann Bürgerbete­iligung nicht funktionie­ren.

Den ungeliebte­n Ausgang eines Volksrefer­endums nunmehr als „Demokratie­defizit“zu qualifizie­ren, zeugt von einer sehr elitären Auffassung. Trotz mancher Mängel ist mir die repräsenta­tive parlamenta­rische Demokratie lieber als eine Diktatur selbsterna­nnter Experten.

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Der Autor ist ehemaliger LSAP-Europaabge­ordneter und -Minister

Der Text ist angereiche­rt durch zahllose Annexen, durch Zitate aus europäisch­en wie nationalen Texten, mit Bezügen auf internatio­nale wissenscha­ftliche Arbeiten.

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