Die unsichtbaren Gemüsegärtner
Im Escher Geméisguart hoffen die CIGL-Arbeiter auf eine bessere Zukunft
Esch/Alzette. Jahrzehntelang erntete Enrique Diaz Applaus. Auf den großen Bühnen in Chile stand er und belustigte das Publikum, machte Quatsch mit seinen Theaterschülern, mischte mit auf großen Festivals – bis Corona Südamerika eroberte. Weil die Theater immer weniger wurden und das Geld auch, beschloss Diaz, mit seiner Frau nach Luxemburg zu ziehen, ihrer Heimat. So konnte sie wenigstens bei ihrer Familie sein, er auf eine bessere Zukunft hoffen.
Heute erntet Enrique Diaz Mangold, Salatköpfe und eine Riesentomate. Mehr als ein Kilogramm wird die Waage später anzeigen. Der Chilene, unter der schwarzen Baskenmütze fallen graue, gewellte Haare auf die Schultern, stapft über das Feld. Der Regen hat den Boden in einen matschigen Untergrund verwandelt. Dass Diaz nur Spanisch spricht, stört Brokkoli, Karotten und Zucchini nicht. Diaz sieht, wann die Ernte gut ist.
Trotzdem möchte er so schnell wie möglich Französisch lernen, „ich vermisse das Theater schrecklich“, sagt er. „Ich möchte später gerne was mit Theater machen, und mit Integration, beides kombinieren“, sagt er. „So wie hier.“
Mit Theater hat der Escher Geméisguart nur bedingt zu tun, kombiniert wird hier trotzdem: nachhaltige Biowirtschaft mit sinnstiftender Beschäftigung von Arbeitslosen. Auf dem Galgenberg bauen Menschen Gemüse für ganz Esch an. Leute wie Enrique Diaz befinden sich möglicherweise nur vorübergehend, bis die Sprachbarrieren weggelernt sind, in dieser Arbeitsmaßnahme. Für viele andere Teilnehmer, die mit gesundheitlichen oder persönlichen Problemen zu kämpfen haben, gilt eher: lieber ins Gewächshaus statt auf die Straße.
Von der ADEM in den Garten
Jeder, der auf dem Escher Galgenberg regelmäßig mit Hund, Kindern oder Joggingschuhen unterwegs ist, hat vielleicht schon mal das Schild – Pfeilrichtung Belval – entdeckt: „Den Escher Geméisguart“. Dahinter steckt ein Projekt des Centre d'Initiative et de Gestion Local (CIGL) Esch, das einerseits Arbeitslosen hilft, eine Beschäftigung zu finden, und andererseits gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen möchte: mehr Bio in Einkaufskörben und Schulkantinen.
Mathieu Tassin koordiniert den Escher Geméisguart sowie den in Altwies. „Zu uns kommen Leute, die auf dem ersten Arbeitsmarkt, wie es so schön heißt, keine Chance haben. Einige haben, ganz banal gesagt, Sprachprobleme, viele sind gesundheitlich angeschlagen und zu schwach oder alt für den Arbeitsmarkt, andere haben psychische oder andere persönliche Probleme.“Dazu gehören auch gefährlicher
Der Belgier Mathieu Tassin koordiniert den Escher Geméisguart und den pädagogischen Garten Kalendula in Altwies.
Drogen- oder Alkoholkonsum. Die ADEM schickt Tassin die Leute auf den Berg.
Aktuell sind es 14. An diesem Donnerstagmorgen, 7 Uhr, sitzen sie mit Teamchef Lionel Lambinet, Strohhut auf dem Kopf, an einem Tisch und planen den Tag. Die Prozedur ist jeden Morgen dieselbe: „Tiago?“– „Présent.“– „Sambu?“– „Présent.“– „Jorge?“Alle da. Manche Teilnehmer hatten nie eine richtige Tagesstruktur, da ist es für den einen oder anderen Neuling anfangs schwer, um 6 Uhr aus dem Bett zu kommen. Auch das gehört zum Beschäftigungsprogramm dazu. Gewohnheiten etablieren.
Dann verteilt Lambinet die Aufgaben an die „Nachwuchsgärtner“: Einige müssen mit dem Caddy aufs Feld Op der Gleicht hinauffahren und Gemüse ernten, andere bleiben unten und schneiden Gemüse, kochen Suppen oder bestücken den Kühlschrank im Verkaufsraum. Ja, hier kann jeder vorbeikommen und frisches, chemiefreies, Biogemüse kaufen: montags bis freitags ab 7.30 Uhr. „Die Erde hat zahlreiche Tests durchlaufen, es sind keine Schadstoffe gefunden worden, unser Gemüse ist einwandfrei“, beruhigt Tassin.
35 Tonnen Gemüse seien im vergangenen Jahr geerntet worden. Der September ist der produktivste Monat, weil dann alles Gemüse, das über das Jahr hinweg gepflanzt wurde, geerntet wird. Der Donnerstag ist der stressigste Tag in der Woche: Freitags ist Wochenmarkt auf dem Escher Rathausplatz, so wie dienstags, und der Tag, an dem die bestellten Gemüsekisten an Privatkunden ausgeliefert werden. Für 16 Euro kann man einmal in der Woche eine Kiste mit sechs verschiedenen Gemüsesorten ordern. Bis Donnerstagmittag muss die Bestellung eingegangen sein. Ein Abo ist nicht nötig.
Wer sind die Menschen?
Dani kriecht auf Knien durch die Tomatensträucher und steckt Mangold-Setzlinge in die Erde. Es ist sein dritter Tag, aber „bis jetzt finde ich es gut hier“. Der 38-jährige Düdelinger und augenscheinliche Tattoofan „will nicht länger Blödsinn machen, aber wenn ich um 16 Uhr nach Hause komme, bin ich auch viel zu kaputt dafür, zum Glück“. Die Schule hat er mit 16 geschmissen, eine Ausbildung nie gemacht, dafür vier Mal in Dreiborn und Schrassig gesessen. „Ich hoffe, ich kriege das hin und finde bald eine richtige Arbeit.“Ana-Maria (58) verstärkt das GalgenbergTeam seit August. Viele Jahre hat die Angolanerin in der Landwirtschaft in Portugal gearbeitet, aber seit dem Tod ihres Sohnes – Arbeitsunfall – vor ein paar Jahren, kommt sie aus der Depression nicht mehr heraus. Dazu kamen Diabetes, Bluthochdruck, ein
überstandener Krebs. Ana-Maria hangelte sich so lange durch Putzjobs, bis sie wegen ihrer Arthrose nicht mehr konnte. „Ich warte nur noch auf die Rente“, sagt sie.
Darlene (40) schneidet Zwiebeln für ein Maison relais und habe eigentlich nie gerne gekocht. „Hier lerne ich zumindest neue Rezepte und koche mit unserem Chef Lionel.“Die Kapverdierin jobbte bisher in Cafés in Esch, „aber das wurde irgendwann unvereinbar mit meinen Kindern, weil ich bis spät in die Nacht arbeitete.“
Tiago (34) lebt seit Mai 2020 in Luxemburg und fand wegen Corona zunächst keine Arbeit. „Ich habe in Portugal in einer Bar gearbeitet, dann habe ich eines Tages eine Luxemburgerin bedient, die bei uns Urlaub machte. Tja, und nun bin ich hier“, sagt er in einem für die erst kurze Zeit überraschend guten Französisch, während er Nägel in ein Holzgerüst hämmert, das ein Gewächshaus werden soll. „Ich habe hier die
Dani wünscht sich einen unbefristeten Arbeitsvertrag (CDI).
Arbeit mit Holz kennengelernt, das gefällt mir sehr. Ich würde gerne einen Job in der Richtung finden.“
Sambu ist mit seinen 64 Jahren der Älteste von allen. 1988 hat er Guinea mit Europa eingetauscht und seitdem in vielen Ländern im Bausektor gearbeitet. Seit er 54 ist, musste er sich jedoch von einem befristeten Zeitvertrag zum nächsten durchschlagen. „Mich will niemand mehr, ich bin zu alt“, meint er, der nicht ans Aufhören denkt. „Ich habe immer gearbeitet.“
Sambu hat das CIGL-Programm bereits drei Mal durchlaufen, obwohl das eigentlich gar nicht so vorgesehen ist. „Das Problem bei Menschen wie Sambu ist, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen können“, sagt Mathieu Tassin. „Der Mann hat Gold in den Händen, er hat den Garten damals praktisch mit uns aufgebaut, ein unverzichtbares Wissen angereichert.“Tatsächlich ist das Programm auf zwei Jahre begrenzt. In der Zeit sollen sich die Teilnehmer parallel um eine Anschlussarbeit kümmern, sich bewerben, um dann so schnell wie möglich aus dem Garten wegzukommen. So ist es vorgesehen.
„Immerhin schaffen es 25 bis 30 Prozent unserer Leute, Arbeit zu finden“, sagt Tassin. „Das ist keine schlechte Rate.“
25 bis 30 Prozent unserer Leute schaffen es, Arbeit zu finden. Das ist keine schlechte Rate. Mathieu Tassin koordiniert den Escher Geméisguart