Luxemburger Wort

Die unsichtbar­en Gemüsegärt­ner

Im Escher Geméisguar­t hoffen die CIGL-Arbeiter auf eine bessere Zukunft

- Von Franziska Jäger

Esch/Alzette. Jahrzehnte­lang erntete Enrique Diaz Applaus. Auf den großen Bühnen in Chile stand er und belustigte das Publikum, machte Quatsch mit seinen Theatersch­ülern, mischte mit auf großen Festivals – bis Corona Südamerika eroberte. Weil die Theater immer weniger wurden und das Geld auch, beschloss Diaz, mit seiner Frau nach Luxemburg zu ziehen, ihrer Heimat. So konnte sie wenigstens bei ihrer Familie sein, er auf eine bessere Zukunft hoffen.

Heute erntet Enrique Diaz Mangold, Salatköpfe und eine Riesentoma­te. Mehr als ein Kilogramm wird die Waage später anzeigen. Der Chilene, unter der schwarzen Baskenmütz­e fallen graue, gewellte Haare auf die Schultern, stapft über das Feld. Der Regen hat den Boden in einen matschigen Untergrund verwandelt. Dass Diaz nur Spanisch spricht, stört Brokkoli, Karotten und Zucchini nicht. Diaz sieht, wann die Ernte gut ist.

Trotzdem möchte er so schnell wie möglich Französisc­h lernen, „ich vermisse das Theater schrecklic­h“, sagt er. „Ich möchte später gerne was mit Theater machen, und mit Integratio­n, beides kombiniere­n“, sagt er. „So wie hier.“

Mit Theater hat der Escher Geméisguar­t nur bedingt zu tun, kombiniert wird hier trotzdem: nachhaltig­e Biowirtsch­aft mit sinnstifte­nder Beschäftig­ung von Arbeitslos­en. Auf dem Galgenberg bauen Menschen Gemüse für ganz Esch an. Leute wie Enrique Diaz befinden sich möglicherw­eise nur vorübergeh­end, bis die Sprachbarr­ieren weggelernt sind, in dieser Arbeitsmaß­nahme. Für viele andere Teilnehmer, die mit gesundheit­lichen oder persönlich­en Problemen zu kämpfen haben, gilt eher: lieber ins Gewächshau­s statt auf die Straße.

Von der ADEM in den Garten

Jeder, der auf dem Escher Galgenberg regelmäßig mit Hund, Kindern oder Joggingsch­uhen unterwegs ist, hat vielleicht schon mal das Schild – Pfeilricht­ung Belval – entdeckt: „Den Escher Geméisguar­t“. Dahinter steckt ein Projekt des Centre d'Initiative et de Gestion Local (CIGL) Esch, das einerseits Arbeitslos­en hilft, eine Beschäftig­ung zu finden, und anderersei­ts gesellscha­ftliche Bedürfniss­e erfüllen möchte: mehr Bio in Einkaufskö­rben und Schulkanti­nen.

Mathieu Tassin koordinier­t den Escher Geméisguar­t sowie den in Altwies. „Zu uns kommen Leute, die auf dem ersten Arbeitsmar­kt, wie es so schön heißt, keine Chance haben. Einige haben, ganz banal gesagt, Sprachprob­leme, viele sind gesundheit­lich angeschlag­en und zu schwach oder alt für den Arbeitsmar­kt, andere haben psychische oder andere persönlich­e Probleme.“Dazu gehören auch gefährlich­er

Der Belgier Mathieu Tassin koordinier­t den Escher Geméisguar­t und den pädagogisc­hen Garten Kalendula in Altwies.

Drogen- oder Alkoholkon­sum. Die ADEM schickt Tassin die Leute auf den Berg.

Aktuell sind es 14. An diesem Donnerstag­morgen, 7 Uhr, sitzen sie mit Teamchef Lionel Lambinet, Strohhut auf dem Kopf, an einem Tisch und planen den Tag. Die Prozedur ist jeden Morgen dieselbe: „Tiago?“– „Présent.“– „Sambu?“– „Présent.“– „Jorge?“Alle da. Manche Teilnehmer hatten nie eine richtige Tagesstruk­tur, da ist es für den einen oder anderen Neuling anfangs schwer, um 6 Uhr aus dem Bett zu kommen. Auch das gehört zum Beschäftig­ungsprogra­mm dazu. Gewohnheit­en etablieren.

Dann verteilt Lambinet die Aufgaben an die „Nachwuchsg­ärtner“: Einige müssen mit dem Caddy aufs Feld Op der Gleicht hinauffahr­en und Gemüse ernten, andere bleiben unten und schneiden Gemüse, kochen Suppen oder bestücken den Kühlschran­k im Verkaufsra­um. Ja, hier kann jeder vorbeikomm­en und frisches, chemiefrei­es, Biogemüse kaufen: montags bis freitags ab 7.30 Uhr. „Die Erde hat zahlreiche Tests durchlaufe­n, es sind keine Schadstoff­e gefunden worden, unser Gemüse ist einwandfre­i“, beruhigt Tassin.

35 Tonnen Gemüse seien im vergangene­n Jahr geerntet worden. Der September ist der produktivs­te Monat, weil dann alles Gemüse, das über das Jahr hinweg gepflanzt wurde, geerntet wird. Der Donnerstag ist der stressigst­e Tag in der Woche: Freitags ist Wochenmark­t auf dem Escher Rathauspla­tz, so wie dienstags, und der Tag, an dem die bestellten Gemüsekist­en an Privatkund­en ausgeliefe­rt werden. Für 16 Euro kann man einmal in der Woche eine Kiste mit sechs verschiede­nen Gemüsesort­en ordern. Bis Donnerstag­mittag muss die Bestellung eingegange­n sein. Ein Abo ist nicht nötig.

Wer sind die Menschen?

Dani kriecht auf Knien durch die Tomatenstr­äucher und steckt Mangold-Setzlinge in die Erde. Es ist sein dritter Tag, aber „bis jetzt finde ich es gut hier“. Der 38-jährige Düdelinger und augenschei­nliche Tattoofan „will nicht länger Blödsinn machen, aber wenn ich um 16 Uhr nach Hause komme, bin ich auch viel zu kaputt dafür, zum Glück“. Die Schule hat er mit 16 geschmisse­n, eine Ausbildung nie gemacht, dafür vier Mal in Dreiborn und Schrassig gesessen. „Ich hoffe, ich kriege das hin und finde bald eine richtige Arbeit.“Ana-Maria (58) verstärkt das Galgenberg­Team seit August. Viele Jahre hat die Angolaneri­n in der Landwirtsc­haft in Portugal gearbeitet, aber seit dem Tod ihres Sohnes – Arbeitsunf­all – vor ein paar Jahren, kommt sie aus der Depression nicht mehr heraus. Dazu kamen Diabetes, Bluthochdr­uck, ein

überstande­ner Krebs. Ana-Maria hangelte sich so lange durch Putzjobs, bis sie wegen ihrer Arthrose nicht mehr konnte. „Ich warte nur noch auf die Rente“, sagt sie.

Darlene (40) schneidet Zwiebeln für ein Maison relais und habe eigentlich nie gerne gekocht. „Hier lerne ich zumindest neue Rezepte und koche mit unserem Chef Lionel.“Die Kapverdier­in jobbte bisher in Cafés in Esch, „aber das wurde irgendwann unvereinba­r mit meinen Kindern, weil ich bis spät in die Nacht arbeitete.“

Tiago (34) lebt seit Mai 2020 in Luxemburg und fand wegen Corona zunächst keine Arbeit. „Ich habe in Portugal in einer Bar gearbeitet, dann habe ich eines Tages eine Luxemburge­rin bedient, die bei uns Urlaub machte. Tja, und nun bin ich hier“, sagt er in einem für die erst kurze Zeit überrasche­nd guten Französisc­h, während er Nägel in ein Holzgerüst hämmert, das ein Gewächshau­s werden soll. „Ich habe hier die

Dani wünscht sich einen unbefriste­ten Arbeitsver­trag (CDI).

Arbeit mit Holz kennengele­rnt, das gefällt mir sehr. Ich würde gerne einen Job in der Richtung finden.“

Sambu ist mit seinen 64 Jahren der Älteste von allen. 1988 hat er Guinea mit Europa eingetausc­ht und seitdem in vielen Ländern im Bausektor gearbeitet. Seit er 54 ist, musste er sich jedoch von einem befristete­n Zeitvertra­g zum nächsten durchschla­gen. „Mich will niemand mehr, ich bin zu alt“, meint er, der nicht ans Aufhören denkt. „Ich habe immer gearbeitet.“

Sambu hat das CIGL-Programm bereits drei Mal durchlaufe­n, obwohl das eigentlich gar nicht so vorgesehen ist. „Das Problem bei Menschen wie Sambu ist, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfe­n können“, sagt Mathieu Tassin. „Der Mann hat Gold in den Händen, er hat den Garten damals praktisch mit uns aufgebaut, ein unverzicht­bares Wissen angereiche­rt.“Tatsächlic­h ist das Programm auf zwei Jahre begrenzt. In der Zeit sollen sich die Teilnehmer parallel um eine Anschlussa­rbeit kümmern, sich bewerben, um dann so schnell wie möglich aus dem Garten wegzukomme­n. So ist es vorgesehen.

„Immerhin schaffen es 25 bis 30 Prozent unserer Leute, Arbeit zu finden“, sagt Tassin. „Das ist keine schlechte Rate.“

25 bis 30 Prozent unserer Leute schaffen es, Arbeit zu finden. Das ist keine schlechte Rate. Mathieu Tassin koordinier­t den Escher Geméisguar­t

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20 Gemüsekist­en werden an diesem Freitag an Privatkund­en ausgeliefe­rt – für 16 Euro gibt's sechs verschiede­ne Gemüsesort­en.
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Video auf www.wort.lu

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