„Wenn der Zug verschwindet, scheint das Dorf zu sterben“
Ulflingen. Es ist Samstagmorgen und wenn nicht ein treuer Kunde am Tresen säße, wäre das Café Orion in Ulflingen leer. In den zwei Jahrzehnten, in denen Isabel Ferreira das Lokal betreibt, hat sie so etwas noch nie gesehen: „Wir sind zehn Meter vom Bahnhof entfernt und jedes Mal, wenn der Zug ankam, wussten wir, dass wir ein volles Haus haben würden“, sagt sie. „Vor allem an Samstagen, wenn die Leute in Scharen kamen, um im Wald zu wandern oder Fahrradtouren zu machen.“
Bis zum 27. August kam jede Stunde mindestens ein Zug aus der Hauptstadt an – und der war bis auf den letzten Platz gefüllt. Seither kommt jedoch kein Zug mehr. Der Teileinsturz des Schüttburgtunnels zwischen Kautenbach und Wilwerwiltz verändert das Leben der Menschen im Norden des Landes.
Die Linie 10, die vom Hauptbahnhof in Luxemburg nach Liège (B) durch das Ösling führt, ist nun auf einem Großteil der Strecke stillgelegt. Von Norden nach Süden verkehrt der Zug nur zwischen Ulflingen und Clerf. In der Gegenrichtung halten die Züge in Kautenbach, so dass Wilwerwiltz, Drauffelt, Clerf und Ulflingen keinen Zugang per Bahn zur Hauptstadt haben. Es wurden Ersatzbusse eingesetzt, aber eine Fahrt, für die früher eine Stunde benötigt wurde, dauert jetzt doppelt so lang.
Schlafen im Airbnb
Für viele Menschen ist dies eine Tragödie. „Die Menschen hier sind sehr wütend“, sagt die Besitzerin des Orions. „Ich habe Kunden, die in der Hauptstadt arbeiten und kein Auto haben. Früher brauchten sie etwas mehr als eine Stunde für den Weg zur Arbeit. Heute brauchen sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln drei Stunden. Stellen Sie sich vor, wie das ist: drei Stunden hin, drei Stunden zurück und acht Stunden auf der Arbeit. Das sind 14 Stunden. Das ist doch kein Leben.“
Eine Gruppe von Einheimischen beschloss, die Koffer zu packen. „Sie waren täglich meine Kunden. Jetzt müssen sie unter der Woche ein Airbnb mieten, damit sie arbeiten können. Dann kommen sie für das Wochenende zurück“, sagt Isabel Ferreira.
Die gebürtige Portugiesin kam im Dezember 1972 als Sechsjährige mit dem Zug nach Luxemburg. Sie erinnert sich an die Abenteuerlust, die sie auf dieser Zugfahrt verspürte und die für ein Kind in diesem Alter riesig war.
„Wir mussten in Paris umsteigen, um nach Luxemburg zu kommen. Und wir haben nicht einmal in der Stadt angehalten, sondern sind gleich weiter nach Ulflingen gefahren. Es war Winter und der erste Eindruck, den ich hatte, war, wie warm die Häuser waren. Alles war geheizt“, erinnert sich Ferreira.
Es überraschte sie, dass so ein kleines Dorf immer so voller Leben war. „Das lag daran, dass sich jedes Mal, wenn der Zug ankam, ein lebhaftes Räderwerk von Menschen bildete. Aber jetzt kommt er nicht mehr und das macht alles zunichte. Als Person fühlt man sich kleiner und vergessener“, sagt sie.
Bis mindestens Dezember gesperrt
Der luxemburgische Kunde am Tresen beschließt, sich am Gespräch zu beteiligen. Er erzählt von den drei Stunden, die er letzte Woche brauchte, um zu einem Termin im Krankenhaus in der Hauptstadt zu gelangen. Ferreira hat wieder das Sagen. „Das hören Sie jeden Tag. Im Süden des Landes hätte so ein Einsturz für Furore gesorgt. Aber hier im Norden trifft es nicht so viele und es ist leicht, ignoriert zu werden. Ich verstehe, dass die Strecke nicht befahren werden kann, aber es gibt viele Betroffene im Handel, im Tourismus und in den Schulen. Und das Schlimmste ist diese Isolation. Wenn der Zug weg ist, scheint das Dorf zu sterben“.
An Bahnhöfen, an denen der Zug nicht mehr hält, hat die nationale Eisenbahngesellschaft CFL Plakate angebracht, die darauf hinweisen, dass der Verkehr bis zum 11. Dezember eingestellt wird.
Der Unfall ereignete sich am 27. August, als die Linie 10 bereits eine Woche lang wegen Wartungsarbeiten gesperrt war. Es müssen nicht nur die Trümmer des Tunnels, der auf einer Länge von vier Metern eingestürzt ist, beseitigt werden, sondern auch eine solide Struktur aufgebaut werden. Der Schüttburgtunnel ist 240 Meter lang und wurde 1863 gebaut. Derzeit laufen mehrere geologische Untersuchungen, um die Ursachen des Einsturzes zu klären.
Der Ersatzverkehr läuft. Die Busse fahren von Clerf nach Ettelbrück, mit Halt in Drauffelt und Wilwerwiltz. Wer von Ulflingen im äußersten Norden des Landes in die Hauptstadt reisen möchte, musste bis gestern mit dem Zug nach Clerf, mit dem Bus nach Ettelbrück und dort zurück auf die Bahnstrecke. Ab heute soll es Besserung geben.
Eines der großen Probleme, über die sich die Bevölkerung beklagt, ist die enorme Zunahme des Straßenverkehrs auf der N7. Das hat auch Isabel Ferreira bemerkt. „Wer ein Auto hat, wird jetzt nicht mehr die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Und wissen Sie, was das Problem ist? Die Leute gewöhnen sich daran, das Auto zu nehmen und dann ist es schwierig, diese Gewohnheit wieder aufzugeben. Ich wette, dass wir noch viele Staus haben werden, selbst wenn die Bahnstrecke wieder freigegeben wird“, seufzt sie.
Auch auf die Tourismusbranche im Norden hat der Einsturz massive Auswirkungen. Yves Radelet ist der Namensgeber des wohl beliebtesten Restaurants im Ösling.
Der belgische Chefkoch, ein Vorreiter der Molekularküche im Großherzogtum, zog in
Isabel Ferreira betreibt das Café Orion in Ulflingen. den Norden des Landes, nachdem er mehr als ein Jahrzehnt eine Küche in der Hauptstadt geleitet hatte. Sein Restaurant wurde von Gault & Millau ausgezeichnet. Doch vor zehn Jahren hatte er die Nase voll von der SterneWelt und beschloss, einen Bauernhof in Drauffelt zu kaufen. In den vergangenen fünf Jahren hat er dort seine Kunst ausgeübt. Radelet kocht ausschließlich mit lokalen Zutaten.
Gähnende Leere auf dem Campingplatz
Der Honig kommt von nebenan, die Milchprodukte von einem Bauernhof in Kalborn und dann gibt es die Geräte, die er mit einem 3D-Drucker herstellt, um Gerichte zu servieren oder verschiedene Formen zu kreieren. Berühmt sind etwa die Käsesorten, die er in Form der luxemburgischen Landkarte modelliert.
Serviert wird nur dreimal die Woche: Freitag und Samstag zum Abendessen und Sonntag zum Mittagessen. Er bietet Gerichte à la carte an, aber es ist sein Degustationsmenü, das die Massen nach Drauffelt lockt. Das Restaurant von Yves Radelet bietet Platz für 70 Gäste und ist in der Regel immer voll besetzt. Der eingestellte Zugverkehr hat jedoch alles verändert.