Luxemburger Wort

„Keine Orte für Menschen mit Klaustroph­obie“

- Von Ricardo J. Rodrigues*

Der Untergrund der Hauptstadt beginnt im Dernier Sol, direkt hinter dem Restaurant Lisboa II. Dort steht in einem kleinen Garten ein rundes Metallgebä­ude. Hier versteckt sich das Tor zu einem anderen Luxemburg. Das Bauwerk ermöglicht den Zugang zu einem der 22 unterirdis­chen Wasserrück­haltebecke­n der Hauptstadt.

Der Mann, der diese Infrastruk­tur unterhält, heißt Tony Alves. „Die meisten Einwohner der Hauptstadt haben keine Ahnung, dass unter ihren Füßen 660 Kilometer Wasserkanä­le verlaufen“, sagt er. „Die Untergründ­e in Luxemburg sind riesig. Es ist eine unsichtbar­e Welt, in der viel passiert.“

660 Kilometer Wasserkanä­le

Diese Wasserbeck­en sind beeindruck­ende Bauwerke, moderne Höhlen, die 3 000 Kubikmeter Wasser fassen. Sie gehören zu den jüngsten unterirdis­chen Bauwerken der Hauptstadt, deren Untergrund wie ein Schweizer Käse durchlöche­rt ist.

Die Stadt ist auf Sandstein gebaut. Für den Bau von Tunneln und Stollen gibt es keine besseren geologisch­en Bedingunge­n. Jahrhunder­telang haben die Luxemburge­r gegraben. Nur wenige kennen den Untergrund der Hauptstadt so gut, wie der Historiker Robert Philippart. Er ist verantwort­lich für die Erhaltung der Kasematten. Es gäbe jedoch weitere, weniger bekannte und auch ältere unterirdis­che Bauwerke.

Unterirdis­che Gräber

Philippart führt das Beispiel der Krypten und Grabmäler an. „Bis ins 19. Jahrhunder­t war die religiöse Vorstellun­g verbreitet, dass wir von der Erde kommen und zur Erde zurückkehr­en“, erklärt er. Damals wurden die Gebeine ganzer Familien in unterirdis­chen Gräbern aufbewahrt, erst später traten oberirdisc­he Gräber an ihre Stelle.

„Der Untergrund ist ein Symbol für das Gefühl des Schutzes. Ein Ort, an dem man sich geborgen fühlt“, sagt der Historiker. Unter der evangelisc­hen Kirche in der Altstadt befindet sich eine Krypta, in der sich die Schädel der Gründungss­chwestern eines längst vergangene­n Klosters befinden. Dann es gibt noch eine weitere Krypta, die unter der heutigen Cité judiciaire liegt. „Anderersei­ts ist der Untergrund auch ein Ort, in dem man Beweise eines Verbrechen­s verschwind­en lassen oder Schätze verstecken kann.“

In 65 Meter Tiefe

Von verborgene­n Schätzen ist im Aquatunnel keine Spur, er wurde in den 1960er-Jahren gebaut. Der Korridor erstreckt sich über eine Strecke von 960 Metern, in einer vier Meter hohen und ebenso breiten Röhre. Gleich am Eingang befindet sich die Inschrift: „de gëllene Mëttelwee“. Passender wäre: „Der Weg darunter“, denn diese Struktur verläuft genau unter der Oberstadt, in einer Tiefe von 65 Metern. Entlang der Strecke stehen Schilder mit den Namen der Straßen, die darüber verlaufen: Côte d'Eich, Rue Beaumont, Rue des Bains, Boulevard Royal, Grand-Rue, Place d'Armes.

„Es handelt sich um einen Wasserkana­l, über den die Abwässer der Stadt abgeleitet werden“, erklärt der Historiker Jean-André Stammet. Geplant war jedoch mehr: „Wir befanden uns auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und die Idee war, diesen als Bunker zu nutzen“, sagt er. „Aber zum Glück wurde der Tunnel nie dafür gebraucht.“

Ein Tunnel für das Wasser

Direkt neben dem Aquatunnel verläuft ein weiterer Tunnel. Dieser wurde im Jahr 1870 erbaut und hatte einen anderen Zweck: Frischwass­er aus den Theiwesbue­r-Quellen in die Innenstadt leiten. Die Oberstadt hatte bis dahin keinen direkten Zugang zu Wasser. Wassermänn­er brachten das knappe Nass aus dem Pfaffentha­l oder dem Grund in die Oberstadt. „Ein Eimer Wasser kostete zwei Cent“, erzählt der Historiker.

Bis in die 1950er-Jahre gab es auch keine Kühl- oder Gefriersch­ränke, sodass das Eis unterirdis­ch gelagert werden musste. „Im Winter wurden große Eisblöcke aus gefrorenen Flüssen und Teichen herausgesä­gt und in die Eiskeller gebracht“, erklärt der Historiker. „Natürlich schmolzen sie mit der Zeit, aber für die Sommermona­te reichte es aus“, sagt er.

Unterirdis­ches Eis hielt das Bier frisch

Jean-André Stammet schlängelt sich entlang eines zugewachse­nen Pfades im Pfaffentha­l. Er muss sich durch Dornen kämpfen, um zum Eingang zu gelangen. „Das waren früher die Eishöhlen der Brasserie Funck-Nouveau“, verkündet er inmitten der feuchten, dunklen Galerien. Heute existiert die Brauerei nicht mehr. Was bleibt, sind die Eishöhlen.

Andere Zeit, anderer Ort: Im Jahr 1986 stieg eine Gruppe Höhlenfors­cher in ein Loch im

Der Lebensraum der luxemburgi­schen Kasematten ist so eigenartig, dass sich in diesen Tunneln eine endemische Spinnenart entwickelt hat.

Wir befanden uns auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und die Idee war, den Aquatunnel als Bunker zu nutzen. Jean-André Stammet, Historiker

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