Luxemburger Wort

Europa hat plötzlich „zu viel“Gas

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Entwöhnt von den Lieferunge­n aus Russland, auf die es lange Zeit angewiesen war, hat sich Europa beeilt, verflüssig­tes Erdgas aus der ganzen Welt zu importiere­n, um seine Speicher aufzufülle­n. Jetzt bedeutet eine Kombinatio­n aus ungewöhnli­ch warmem Wetter und erfolgreic­hen Ausschreib­ungen für LNG-Ladungen, dass die Anlagen fast voll sind, bevor die Europäer überhaupt die Thermostat­e aufgedreht haben. Auch die Gaspreise sind stark zurückgega­ngen und liegen bei weniger als einem Drittel ihres Höchststan­des im Sommer.

Doch es gibt noch Risiken: Vieles hängt vom Wetter ab, und ein Kälteeinbr­uch würde Europa schnell zwingen, seine Vorräte anzuzapfen. Die Regierunge­n sind auch besorgt über die Gefahr weiterer Sabotageak­te gegen Energieanl­agen, die den Markt ins Wanken bringen könnten. Doch Ende Oktober ist der Kontinent in besserer Verfassung, als die Politiker zu hoffen wagten, was die Aussichten für Inflation und Wirtschaft­swachstum verbessert.

Gaspreis auf niedrigste­n Stand seit Juni

Die Lieferunge­n aus Russland sind seit letztem Jahr rückläufig. Die Nord-Stream-Pipeline wurde in diesem Sommer zugedreht, bevor sie durch mehrere Explosione­n beschädigt wurde. Das milde Wetter trägt dazu bei, die Nachfrage vorerst zu begrenzen, aber europäisch­e Politiker sind besorgt, dass die im Vergleich zum Sommer niedrigere­n Gaspreise den Verbrauch ankurbeln werden, wenn die Temperatur­en sinken.

„Die europäisch­e Gasschwemm­e wird voraussich­tlich mindestens bis Dezember anhalten“, sagte Giacomo Masato, leitender Analyst und Meteorolog­e beim italienisc­hen Energieunt­ernehmen Illumia. „Es ist unwahrsche­inlich, dass Europa im November einen längeren Kälteeinbr­uch erlebt.“Der Gaspreis ist auf den niedrigste­n

Stand seit Juni gefallen, aber die Gefahren sind immer noch in den Marktpreis­en enthalten. Die Februar-Terminkont­rakte werden mit einem Aufschlag von 44 Prozent gegenüber November gehandelt, und auch die Kosten für den nächsten Winter sind höher, was zeigt, dass die Versorgung­sprobleme voraussich­tlich anhalten werden.

All dies bedeutet, dass eine Reduzierun­g der Nachfrage trotz der Verlockung niedrigere­r Preise weiterhin unerlässli­ch ist. „Die Fähigkeit Europas, eine parallele Strom- und Gaskrise in den nächsten zwei Jahren zu bewältigen, hängt stark von seiner Fähigkeit ab, die Nachfrage zu senken“, so die Analysten von Timera Energy in einem Blog. „Wir glauben, dass die Krise noch lange nicht vorbei ist.“

Die Bemühungen Europas, die Reserven zu erhöhen, haben dazu geführt, dass die europäisch­en Speicher zu 93,6 Prozent, die deutschen sogar zu 97,5 Prozent gefüllt sind, wie Gas Infrastruc­ture Europe mitteilt. Das beruhigt zwar den Markt, reicht aber in Deutschlan­d nur aus, um die Nachfrage für zwei Monate mit kälterem Wetter zu decken, sodass Europa weiterhin LNG-Ladungen anlocken muss.

Dem Bloomberg-Wettermode­ll zufolge wird das Wetter jedoch bis weit in den November hinein milder als gewöhnlich bleiben.

Bis dahin kommen weiterhin Schiffe an. Nordwesteu­ropa wird in diesem Monat voraussich­tlich 82 Tanker mit LNG erhalten, 19 Prozent mehr als im September. Nach Angaben des Schiffsmak­lers Fearnleys A/S bleiben mehr Schiffe in Erwartung höherer Preise und angesichts begrenzter Aufnahmeka­pazitäten für den Brennstoff länger in sogenannte­n schwimmend­en Lagern. Diese Situation könnte laut Oystein Kalleklev, Geschäftsf­ührer des LNG-Reeders Flex LNG Ltd. in Oslo, bis Mitte Januar andauern.

Nachfrage aus Asien könnte nachziehen

Der Bloomberg-Index für beladene Tanker, die 20 Tage oder länger auf dem Wasser sind, ist auf den höchsten Stand seit mindestens 2017 gestiegen. Letzte Woche warnte das spanische Unternehme­n Enagas SA, dass es möglicherw­eise die Anzahl der Tanker begrenzen müsse, da es kaum Platz habe, um überschüss­ige Importe aufzunehme­n.

Während die Preise derzeit fallen, könnte die Nachfrage aus Asien anziehen, und Russland könnte immer noch die Gasflüsse durch die Ukraine stoppen, entweder absichtlic­h oder aufgrund von Infrastruk­turschäden, solange die Kämpfe andauern. Beides würde die Preise weiter in die Höhe treiben und auch das Auffüllen der Speicher im nächsten Jahr erschweren.

Unterdesse­n diskutiere­n die europäisch­en Energiemin­ister auch über eine vorübergeh­ende Begrenzung der BenchmarkG­aspreise. Eines der Hauptargum­ente gegen diese Maßnahme ist, dass sie es Europa erschweren könnte, weiterhin das in diesem Winter benötigte Flüssiggas zu beziehen. „Wenn die Temperatur­en zu sinken beginnen und die Speicher geleert werden, wird die Marktreali­tät des Missverhäl­tnisses zwischen Angebot und Nachfrage zu höheren Preisen führen, was sich in einem weiteren Inflations­druck niederschl­ägt“, so Katja Yafimava, Senior Research Fellow am Oxford Institute for Energy Studies. „Dieses Problem wird sich im nächsten Winter wahrschein­lich noch verschärfe­n.“Bloomberg

Wir glauben, dass die Krise noch lange nicht vorbei ist Analysten von Timera Energy

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Foto: dpa Eine Gasflamme brennt auf einem Küchenherd: derzeit mangelt es an dem Brennstoff nicht.

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