Lauter Leichen
19
Herr Watkowski fand nicht, dass der nächste Tag genauso gut wie dieser Tag geeignet wäre, seine scharfsichtige Frage beantwortet zu bekommen. Er ignorierte also beide Frauen und fuhr seinen Hals aus, um mich um Karins abschirmenden Leib herum ins Visier zu nehmen. „WARUM?“, donnerte er.
Ich schwieg bockig. Mein herrliches Gefühl der Überlegenheit war im Schein der Kombinationsgabe des Kommissars dahingeschmolzen wie ein Schneemann in der Sonne. Zurückgeblieben war lediglich eine Erinnerungspfütze an die kurzen Sekunden des Triumphs. Der Kommissar beobachtete mich listig, bis ich schließlich schrie: „Ich bin noch ein Kind!“
„Das“, sagte Kommissar Watkowski, „ist leider nur zu wahr“, und damit entschwand er aus der Küche, ohne sein Kinn auch nur einen Millimeter zu recken, denn das hatte er im Gegensatz zu mir gar nicht nötig. Bekümmert drehte ich mich zu Karin um, und Karin schaute bekümmert zurück.
Als ich am sechsten Morgen nach meiner Befreiung aufstand, war Karin gerade dabei, meiner Mutter in der Küche ihr Frühstück zu bereiten: Grapefruit mit trockenem Knäckebrot und Kaffee;
Kohlehydrate als Vorboten der Hüftspeckhölle hatte sie weitgehend von ihrem Speiseplan entfernt. Meine Mutter saß also wie üblich in ihrem weißen seidenen Morgenmantel an der Küchenbank und sagte, als ich herein hüpfte: „Weißt du, was Schmauchspuren sind?“
Ich schüttelte den Kopf. „Verbrennungsrückstände, die durch einen Schuss entstehen. Wie mich der Kommissar gelehrt hat, ist es nicht möglich, eine Waffe abzuschießen, ohne Spuren zu hinterlassen. Schmauchspuren findet man auf der Schusshand und auf der Kleidung. Bei mir hat man nichts gefunden.“Ihr Lächeln kam so unvermittelt wie ein Tornado an einem Sonnentag. „Allerdings auf schwarzen Herrenlederhandschuhen, die die Polizei drei Häuser weiter in eine Mülltonne fand, die am Straßenrand stand.“
Karin stellte das frenetische Ausspülen ihres Lappens ein, würgte den triefenden Stoff inbrünstig mit ihren riesigen Händen und fragte: „Heißt das, dass die Polizei uns laufen lässt?“
Meine Mutter zupfte den gequälten Lappen aus Karins Fäusten, faltete ihn und legte ihn ordentlich auf die Abtropffläche neben der Spüle. „Die Ermittlungen werden sich jetzt auf die Einbrecher konzentrieren“, sagte sie. „Dein Vater hatte offenbar einen höheren Bargeldbetrag bei sich, der nun fehlt. Das und die Handschuhe haben die Polizei endlich zu der richtigen Einsicht gebracht. Es war ein simpler Raubüberfall.“
Ich dachte nicht darüber nach, als ich voller Freude entgegnete: „Da haben wir ja noch mal Glück gehabt!“
Karin wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und beugte sich zu mir herüber, um mir wortlos über die Wange zu streichen.
Eine Schweißperle löste sich aus ihrem Haaransatz und floss wie eine Träne über ihr trauriges Gesicht. „Ja, mein Schatz“, antwortete sie. Dann warf sie meiner Mutter einen merkwürdigen Blick zu.
Alarmiert beobachtete ich beide. „Was ist los?“
Das Schweigen war lang und bedeutungsvoll. Ich wiederholte meine Frage. Es war Karin, die mir schließlich antwortete. Sie sagte, dass der Eulenkommissar einen Unfall gehabt habe und gestorben sei.
Ich war wie vom Donner gerührt. „Unfall?“, fragte ich. „Was für ein Unfall?“
Jetzt war es meine Mutter, die antwortete: „Er hatte wohl einen platten Reifen an seinem Auto. Beim Reifenwechsel ist er überfahren worden.“
Ich fragte: „Wann wurde er überfahren?“
Nach einer unbehaglichen Pause entgegnete meine Mutter: „Letzte Nacht. So gegen zweiundzwanzig Uhr.“
Da hatte ich mit Oma, ihrer Freundin Else und meiner Mutter Karten gespielt. Bis … ungefähr einundzwanzig Uhr. Dann war meine Mutter weggefahren.
„Ach, Schätzchen“, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. „Es ist natürlich absurd, aber für den Fall, dass jemand glauben sollte, ich hätte etwas damit zu tun: Wir haben zu viert Karten gespielt, richtig? Ich habe gewonnen. Wie am Abend zuvor.“
„Oma hat gewonnen“, korrigierte ich sie. „Zumindest beim zweiten Spiel. Als du nicht mehr da warst.“Ich starrte sie, wie ich hoffte, vernichtend an.
„Wir vergessen das zweite Spiel“, sagte meine Mutter lächelnd. „Und auch, dass ich kurz mal weg war.“
„Drei Stunden!“„Wie gesagt“, beendete meine Mutter die Diskussion. „Ich habe gewonnen, und du bist zu Bett gegangen.“
Was blieb mir anderes übrig, als zu nicken. Und doch hatte ich den Kommissar ganz gern gemocht.
Da capo al fine
Hamburg-Rahlstedt, über einen längeren Zeitraum. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen.
Simon Gint ist das Nesthäkchen in der Familie meines Onkels Elvis Gint. Wobei Elvis natürlich nicht als Elvis geboren wurde, sondern als Martin, aber er erkannte früh, dass er dem King of Rock ’n’ Roll erstaunlich ähnelte, und legte seinen wenig einprägsamen Geburtsnamen ab. Er nahm sogar Gesangsunterricht, um seinem Idol auch stimmlich nahezukommen, beließ es aber auf dringendes Anraten der Gesangslehrerin bei den Versuchen. Danach schloss Elvis die Schule irgendwie ab, fing drei oder vier Lehren an und brach sie wieder ab und entdeckte endlich – mit Mitte zwanzig – sein wahres Talent: Dinge verkaufen, die ihm nicht gehören. Elvis’ Talent erstreckt sich dabei auf beide Seiten des Geschäfts. Er ist sowohl als Dieb als auch als Hehler begabt. Für das Finanzamt, die Polizei und die Nachbarn lässt er sich gelegentlich als Elvis-Imitator buchen, selten legal von echten Kunden, meist illegal im Rahmen der Hehlerei.