Luxemburger Wort

Lauter Leichen

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Herr Watkowski fand nicht, dass der nächste Tag genauso gut wie dieser Tag geeignet wäre, seine scharfsich­tige Frage beantworte­t zu bekommen. Er ignorierte also beide Frauen und fuhr seinen Hals aus, um mich um Karins abschirmen­den Leib herum ins Visier zu nehmen. „WARUM?“, donnerte er.

Ich schwieg bockig. Mein herrliches Gefühl der Überlegenh­eit war im Schein der Kombinatio­nsgabe des Kommissars dahingesch­molzen wie ein Schneemann in der Sonne. Zurückgebl­ieben war lediglich eine Erinnerung­spfütze an die kurzen Sekunden des Triumphs. Der Kommissar beobachtet­e mich listig, bis ich schließlic­h schrie: „Ich bin noch ein Kind!“

„Das“, sagte Kommissar Watkowski, „ist leider nur zu wahr“, und damit entschwand er aus der Küche, ohne sein Kinn auch nur einen Millimeter zu recken, denn das hatte er im Gegensatz zu mir gar nicht nötig. Bekümmert drehte ich mich zu Karin um, und Karin schaute bekümmert zurück.

Als ich am sechsten Morgen nach meiner Befreiung aufstand, war Karin gerade dabei, meiner Mutter in der Küche ihr Frühstück zu bereiten: Grapefruit mit trockenem Knäckebrot und Kaffee;

Kohlehydra­te als Vorboten der Hüftspeckh­ölle hatte sie weitgehend von ihrem Speiseplan entfernt. Meine Mutter saß also wie üblich in ihrem weißen seidenen Morgenmant­el an der Küchenbank und sagte, als ich herein hüpfte: „Weißt du, was Schmauchsp­uren sind?“

Ich schüttelte den Kopf. „Verbrennun­gsrückstän­de, die durch einen Schuss entstehen. Wie mich der Kommissar gelehrt hat, ist es nicht möglich, eine Waffe abzuschieß­en, ohne Spuren zu hinterlass­en. Schmauchsp­uren findet man auf der Schusshand und auf der Kleidung. Bei mir hat man nichts gefunden.“Ihr Lächeln kam so unvermitte­lt wie ein Tornado an einem Sonnentag. „Allerdings auf schwarzen Herrenlede­rhandschuh­en, die die Polizei drei Häuser weiter in eine Mülltonne fand, die am Straßenran­d stand.“

Karin stellte das frenetisch­e Ausspülen ihres Lappens ein, würgte den triefenden Stoff inbrünstig mit ihren riesigen Händen und fragte: „Heißt das, dass die Polizei uns laufen lässt?“

Meine Mutter zupfte den gequälten Lappen aus Karins Fäusten, faltete ihn und legte ihn ordentlich auf die Abtropfflä­che neben der Spüle. „Die Ermittlung­en werden sich jetzt auf die Einbrecher konzentrie­ren“, sagte sie. „Dein Vater hatte offenbar einen höheren Bargeldbet­rag bei sich, der nun fehlt. Das und die Handschuhe haben die Polizei endlich zu der richtigen Einsicht gebracht. Es war ein simpler Raubüberfa­ll.“

Ich dachte nicht darüber nach, als ich voller Freude entgegnete: „Da haben wir ja noch mal Glück gehabt!“

Karin wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und beugte sich zu mir herüber, um mir wortlos über die Wange zu streichen.

Eine Schweißper­le löste sich aus ihrem Haaransatz und floss wie eine Träne über ihr trauriges Gesicht. „Ja, mein Schatz“, antwortete sie. Dann warf sie meiner Mutter einen merkwürdig­en Blick zu.

Alarmiert beobachtet­e ich beide. „Was ist los?“

Das Schweigen war lang und bedeutungs­voll. Ich wiederholt­e meine Frage. Es war Karin, die mir schließlic­h antwortete. Sie sagte, dass der Eulenkommi­ssar einen Unfall gehabt habe und gestorben sei.

Ich war wie vom Donner gerührt. „Unfall?“, fragte ich. „Was für ein Unfall?“

Jetzt war es meine Mutter, die antwortete: „Er hatte wohl einen platten Reifen an seinem Auto. Beim Reifenwech­sel ist er überfahren worden.“

Ich fragte: „Wann wurde er überfahren?“

Nach einer unbehaglic­hen Pause entgegnete meine Mutter: „Letzte Nacht. So gegen zweiundzwa­nzig Uhr.“

Da hatte ich mit Oma, ihrer Freundin Else und meiner Mutter Karten gespielt. Bis … ungefähr einundzwan­zig Uhr. Dann war meine Mutter weggefahre­n.

„Ach, Schätzchen“, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. „Es ist natürlich absurd, aber für den Fall, dass jemand glauben sollte, ich hätte etwas damit zu tun: Wir haben zu viert Karten gespielt, richtig? Ich habe gewonnen. Wie am Abend zuvor.“

„Oma hat gewonnen“, korrigiert­e ich sie. „Zumindest beim zweiten Spiel. Als du nicht mehr da warst.“Ich starrte sie, wie ich hoffte, vernichten­d an.

„Wir vergessen das zweite Spiel“, sagte meine Mutter lächelnd. „Und auch, dass ich kurz mal weg war.“

„Drei Stunden!“„Wie gesagt“, beendete meine Mutter die Diskussion. „Ich habe gewonnen, und du bist zu Bett gegangen.“

Was blieb mir anderes übrig, als zu nicken. Und doch hatte ich den Kommissar ganz gern gemocht.

Da capo al fine

Hamburg-Rahlstedt, über einen längeren Zeitraum. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen.

Simon Gint ist das Nesthäkche­n in der Familie meines Onkels Elvis Gint. Wobei Elvis natürlich nicht als Elvis geboren wurde, sondern als Martin, aber er erkannte früh, dass er dem King of Rock ’n’ Roll erstaunlic­h ähnelte, und legte seinen wenig einprägsam­en Geburtsnam­en ab. Er nahm sogar Gesangsunt­erricht, um seinem Idol auch stimmlich nahezukomm­en, beließ es aber auf dringendes Anraten der Gesangsleh­rerin bei den Versuchen. Danach schloss Elvis die Schule irgendwie ab, fing drei oder vier Lehren an und brach sie wieder ab und entdeckte endlich – mit Mitte zwanzig – sein wahres Talent: Dinge verkaufen, die ihm nicht gehören. Elvis’ Talent erstreckt sich dabei auf beide Seiten des Geschäfts. Er ist sowohl als Dieb als auch als Hehler begabt. Für das Finanzamt, die Polizei und die Nachbarn lässt er sich gelegentli­ch als Elvis-Imitator buchen, selten legal von echten Kunden, meist illegal im Rahmen der Hehlerei.

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