Wenig Solidarität mit der jüdischen Minderheit
Renée Wagener blickt in ihrer Studie auf die Integration und Exklusion der jüdischen Minderheit vom 19. Jahrhundert bis heute
Die Historikerin Renée Wagener beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit „Emanzipation und Antisemitismus. Die jüdische Minderheit in Luxemburg vom 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert“mit der Frage der Integration und Ausgrenzung von Juden über die letzten Jahrhunderte. Wo kommt der Antisemitismus her und was bleibt davon heute?
Renée Wagener, verbreitet ist die Auffassung, dass für die jüdische Minderheit das 19. Jahrhundert ein Zeitalter der zunehmenden Gleichstellung war, das trotz ansteigendem Antisemitismus letztlich erst mit dem Nationalsozialismus, beziehungsweise der deutschen Besatzung abrupt endete. Kann man das für die Entwicklung in Luxemburg so sagen?
Man kann für Luxemburg anfangs nicht von einer „emanzipatorischen jüdischen Bewegung“sprechen, weil eine jüdische Minderheit überhaupt erst wieder nach der französischen Revolution hier existierte. Die Festung Luxemburg fiel 1795, die ersten französischen Gesetze brachten die Emanzipation. Sie machten erst möglich, dass sich jüdische Familien wieder in Luxemburg ansiedeln konnten. Es ist aber auch insofern anders, als die Emanzipation dann nicht mehr in Frage gestellt wurde auf rechtlicher Ebene, was ja in Deutschland der Fall war, wo die Gleichstellung nach Napoleons Niederlage wieder rückgängig gemacht wurde – zu erheblichen Teilen.
Die Emanzipation wurde nach Napoleons Niederlage 1814 nicht mehr in Frage gestellt. Allerdings stellt man fest: Es gab auch auf staatlicher Seite wieder einen Rückzug, etwa in der Schulpolitik, wo der jüdischen Gemeinde in den 1840er Jahren eine eigene Schule verweigert wurde – die öffentlichen Schulen waren ja katholisch. Ein anderes Beispiel: Ende des 19. Jahrhunderts wurde die protestantische Minderheit offiziell anerkannt. Das war für die jüdische Gemeinschaft nicht der Fall, sondern erst ein ganzes Jahrhundert später. Antijüdische Stereotypen und antisemitische Äußerungen tauchen nach 1848, als die Pressezensur abgeschafft wurde, durchaus auf. Diese Vorurteile gab es sicher auch schon vorher.
Sie schildern in Ihrem Buch den erheblichen Anteil des konservativ-katholischen Milieus an der Tradierung religiös-judenfeindlicher Ressentiments. Darüber hinaus konstatieren Sie für die 1920er-Jahre auch in Luxemburg einen existenten „moderneren“rassistischeren Antisemitismus. Woran machen Sie dies fest?
Im 19. Jahrhundert ist es die katholische Kirche, die katholische Presse vor allem, die antisemitische Stereotype transportiert und auch das Basismaterial liefert, an dem sich später auch nicht-katholische antisemitische Aktivisten bedienen. Da tauchen schon Begriffe wie „Jüdische Rasse“auf oder es wird behauptet, dass die Juden und Jüdinnen bestimmte Charaktermerkmale hätten, die vererbbar sind. Diese Ideen, die schon in der Gesellschaft präsent sind – unabhängig von antisemitischen Stereotypen, viel allgemeiner essenzialistisch und eugenisch usw., werden aufgegriffen, erst in der katholischen Presse und dann darüber hinaus. Während des Ersten Weltkriegs lässt sich in der Arbeiterschaft ein antisemitischer Anti-Kapitalismus auch nachweisen, besonders zu der Zeit, als es in Luxemburg zu Hunger und Lebensmittelmangel kam.
Sowohl für die Zeit des erstarkenden Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit als auch in der Zeit der Besatzung betonen Sie eine Teilnahms- oder Mitleidslosigkeit der nichtjüdischen Bevölkerung am Schicksal der jüdischen Minderheit, festgemacht etwa an der sehr geringen Zahl von Fluchthilfen oder beim Verstecken von Juden (nur sechs Fälle sind bekannt). Womit erklären Sie sich diesen Mangel an Solidarität?
Also zu diesen sechs Fällen: Mittlerweile sind wahrscheinlich einige mehr bekannt, aber es dürften noch immer sehr kleine Zahlen sein. Wenn man das vergleicht mit den vielen Fällen, wo Luxemburger zwangsrekrutierte Wehrmachtssoldaten, die desertierten, versteckten – die Zahl ist enorm, also mehrere Tausend in Luxemburg – dann muss man sich natürlich die Frage stellen ... Es war mir wichtig zu zeigen, dass eben in den 1930er Jahren im Unterschied auch zu unseren Nachbarländern eigentlich keine breiteren, spezifisch auf die jüdische Situation ausgerichteten Solidaritätsaktionen entstanden. Jedenfalls sind diese Momente sehr selten.
Wieso gab es so wenig konkrete Unterstützung der verfolgten jüdischen Minderheit?
Ja, das hat mich auch sehr frappiert. Man sieht zu einem Moment, dass es schon die Erkenntnis
gibt, man müsste etwas tun ... Es gab aber lediglich kleinere Organisationen, die sich engagierten, Caritas und Croix-Rouge waren nicht sehr interessiert. Bei der Caritas sieht man Ansätze davon. Es kommt aber auch häufig diese Rhetorik hinzu: ‚im Rahmen unserer Möglichkeiten’ und ‚den Luxemburgern muss zuerst geholfen werden’, also eine Relativierung der Problematik. Es wird nicht klar ausgesprochen, dass es eine spezifisch auf die jüdische Bevölkerung ausgerichtete nationalsozialistische Politik gibt, das wird gar nicht richtig anerkannt.
Es gibt ja eine Kontinuität im Nichtansprechen ... Ist das jahrzehntelange Nichtansprechen der Judenverfolgung nach der Befreiung, sie nennen es das „Master narrative“, vielleicht in gewissem Sinne eine Fortsetzung der vorlaufenden Teilnahms- und Mitleidslosigkeit?
Ein Teil ist bestimmt dieser Aspekt. Über die Shoa wurde anfangs nicht sehr viel gesprochen, zumindest Ende der 40er und die gesamten 50er Jahre – vergleichbar mit anderen Ländern. Es mischt sich da wohl Scham, dass man nichts getan hat, mit dem Gefühl, den Juden wird zu viel geholfen und uns aus der Mehrheitsgesellschaft nicht genug. Es gab aber auch ganz deutliche Reaktionen, wenn jüdische Familien wieder zurückkamen: „Ach, ihr seid auch wieder hier?“Das war nicht freundlich gemeint. Ein latenter Antisemitismus, der vor dem Zweiten Weltkrieg viel offener war, der aber weiter existierte, spielte eine Rolle. Erst mit dem Anne-Frank-Tagebuch, dem EichmannProzess und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ändert sich daran grundsätzlich etwas.
Ende der 50er Jahre kam es zu einer anderen Entwicklung, bei der sich vor allem die Zwangsrekrutierten stark für ihre Belange eingesetzt haben. Sie fühlten sich ungerecht behandelt durch das Entschädigungsgesetz von 1950.
Sie sprechen für die Jahre 1933-40 vor der Besatzung von einer „insgeheimen Billigung“der NS-Judenpolitik durch die Luxemburgische Regierung/Staatsführung. Woran kann man das festmachen, und traf dies auch auf die Mehrheit der Luxemburger zu?
Das eine ist die Luxemburger Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen. Es wurde immer nur von „Emigration“gesprochen, so als ob sich diese Menschen einfach persönlich entschieden hätten, Deutschland zu verlassen. Dann gab es zum Beispiel auch die Politik des Judenstempels, in der Flüchtlingspolitik spielte er ab Herbst 1938 in den Pässen eine wichtige Rolle, weil man so Flüchtlinge aussondern konnte, um sie nicht mehr nach Luxemburg hereinzulassen. Das gab es gleichfalls in Frankreich oder Belgien, aber eben auch in Luxemburg. Zudem wurden das Ausländerwahl- und das Einbürgerungsrecht strenger. Natürlich war das nicht eine spezifische antijüdische Politik, aber diese Verschärfung kam ab 1933.
In der Mehrheitsgesellschaft gab es aber trotzdem Kontakte, zum Beispiel mit jüdischen Flüchtlingen, die für Luxemburger Zeitungen schrieben, in der Zeit, wo sie hier im Exil waren. Es existierten auch Flüchtlingsnetze, und
in der Bevölkerung war das sehr unterschiedlich. Ich habe ein Kapitel mit Zeitzeugenaussagen, habe Interviews mit jüdischen Menschen geführt und da ist die Erinnerung, die die Leute an die Zeit vor dem Krieg haben, sehr verschieden. Ob die Leute freundlich eingestellt waren, indifferent oder sogar antisemitisch, es gab diese ganze Bandbreite. Da der Staat aber sehr streng gegenüber Flüchtlingen vorging, hat diese Haltung bestimmt auch abgefärbt. Im Einzelhandel und in Handwerksvereinen spürt man einen regelrechten Konkurrenz-Antisemitismus.
Da wird immer wieder geklagt, es müsse verhindert werden, dass sich jüdische Menschen in Luxemburg niederlassen und ein Geschäft eröffnen.
Sie schreiben: „Die Geschichtsschreibung zum Luxemburger Judentum ist eine vergleichsweise junge Forschungsrichtung“. Wieso hat sich die historische Forschung erst in den 1980er Jahren hierfür interessiert?
Vor der Eröffnung der Universität gab es eine Reihe von Leuten, die im Ausland studiert und in den 80er Jahren in ihren Arbeiten die jüdische Verfolgung erwähnt hatten. Ich denke an Dostert oder Krier. Schon in den 70ern hat Paul Cerf, jüdischer Journalist und Schriftsteller, eigentlich als erster über die Schoa in Luxemburg geschrieben – das hat damals ziemlich eingeschlagen und die Gesellschaft wachgerüttelt. Aber es ist wahr, dass es eine Verspätung gibt, wenn man Luxemburg etwa mit Belgien vergleicht: Sicher, es gab keine Universität, aber recherchieren kann man trotzdem. Erst im Nachhinein, verglichen mit den Nachbarländern, hat sich Luxemburg da drangehängt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Situation der Opfergruppen in Luxemburg: Noch in den 50er Jahren war die Situation anders, weil man verschiedene Gruppen hatte, etwa die Kriegsveteranen, die Zwangsrekrutierten, die jüdischen Opfer, die sich zum Teil in bestimmten Aktionen zusammentaten. Doch Ende der 50er Jahre kam es zu einer anderen Entwicklung, bei der sich vor allem die Zwangsrekrutierten stark für ihre Belange eingesetzt haben. Sie fühlten sich ungerecht behandelt durch das Entschädigungsgesetz von 1950. Diese Diskussion hat eigentlich alles überlagert ... Obwohl im Gesetz von 1968 erstmals auch die jüdische Verfolgung anerkannt wurde und auch für jüdische Opfer Entschädigungen einfacher möglich wurden – das war nicht das Thema.
Soll Ihr Titel „Emanzipation und Antisemitismus“die Gleichzeitigkeit von beiden nahelegen, verstehen Sie die Begriffe als Entgegensetzung oder wie deuten Sie dieses Verhältnis?
Ja, deshalb das „und“– das lässt da alles offen, aber natürlich habe ich mir die Frage auch gestellt. Was ich nicht sagen will ist, dass auf Emanzipation unweigerlich Antisemitismus folgen muss. Aber wenn man sich die Geschichte in Luxemburg anschaut, dann kann man trotzdem die antisemitischen Tendenzen ausmachen, insbesondere – Sie hatten vorhin vom Zeitalter der Emanzipation gesprochen – gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dass der Antisemitismus so virulent wird für Luxemburger Verhältnisse zumindest, das hat meiner Meinung nach stark damit zu tun, dass die Emanzipation nicht anerkannt, nicht akzeptiert wurde. Man fand sich wohl oder übel damit ab, weil die Verfassung es vorschrieb. Man konnte nicht mehr zurück, aber der Wunsch eines Teils der Gesellschaft war es nicht.
Schon in den 70ern hat Paul Cerf, jüdischer Journalist und Schriftsteller, eigentlich als erster über die Schoa in Luxemburg geschrieben – das hat damals ziemlich eingeschlagen und die Gesellschaft wachgerüttelt.
Wenn man mit Ihrem Buch die Geschichte über etwa 150 Jahre überblickt, bleibt die nicht geklärte Frage (die Besatzung ausgenommen): Woher kommt der Antisemitismus in den jeweiligen Wellen? Es gab die katholisch-religiöse Tradition, viele Traditionen werden aber auch vergessen. Sie weisen Interpretationen zurück, der Antisemitismus sei vor allem in den 1930er Jahren ausschließlich «von außen» nach Luxemburg hineingetragen worden. Woran liegt es, dass er sich jeweils neu aktiviert, sich gesellschaftlich festmachen kann?
Es gibt bestimmte Momente oder Faktoren, die als Katalysator wirken, konkrete gesellschaftliche Situationen. Ich denke zum Beispiel an den Kulturkampf à la luxembourgeoise, also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der sehr stark geprägt war von Antiklerikalismus auf der einen Seite und einer sehr starren Haltung der Kirche, die ihre gesellschaftliche Vormachtstellung nicht aufgeben wollte. In dieser Situation wurde der Antisemitismus funktional eingesetzt, weil man wusste, dass er die gesellschaftliche Stimmung trifft.
Oder der Erste Weltkrieg: Da kamen antisemitische Stereotype heraus, die vorher nicht so artikuliert worden waren; die Situation war natürlich eine ganz besondere. Es gab das viel aufgegriffene Thema der ‚galizischen Kettenhändler’, osteuropäische Migranten, die in Luxemburg als Zwischenhändler auftraten und gegen die sich der Hass richtete. Dieser Hass hat sich dann auch schnell gegen andere jüdische Menschen gerichtet. Man fand es völlig normal, dass es für diese ansässigen, osteuropäischen jüdischen Menschen einen Plan der Regierung gab, sie über die Grenze zu setzen. In den 30er Jahren gab es diese Vorstellung einer Volksgemeinschaft, die weit über die katholischen Teile der Gesellschaft hinausging; die Vorstellung der Nation als ein Ganzes, ein Körper, zu dem man nur gehört, wenn man blutsmäßig miteinander verwandt ist. Es war ein Bündel von Faktoren, das bewirkte, dass die Gesellschaft der 30er Jahre stark auf diese nicht nur konservativen, sondern eben auch essenzialistischen Argumente ansprach.
Im letzten Teil Ihres Buches klingt an, dass heute in Luxemburg die Inklusion der jüdischen Minderheit sehr weit gediehen ist, sowohl formal als auch durch die Anerkennung der Verfolgung (Entschuldigung der Regierung, Mahnmal, etc.). Offen geäußert wird Judenhass in der Öffentlichkeit selten. Würden Sie heute von einer ‚gelungenen Integration’ in die Gesellschaft sprechen?
Als ich vor fünf Jahren meine Arbeit abgeschlossen habe, hätte ich eher ‚Ja’ gesagt. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es stimmt schon, dass es eine ganze Reihe von Fortschritten auf rechtlicher Ebene gab; etwa die offizielle Anerkennung der jüdischen Gemeinschaft 1997. Danach kamen noch weitere Angleichungen bzw. alle religiösen Gemeinschaften haben neue Konventionen mit dem Staat ausgehandelt. Auf der Ebene ist sicher eine Normalisierung eingetreten, die sich auf die Haltung in der Gesellschaft niederschlägt. Sehr interessant finde ich, dass seit einigen Jahren in einer Reihe von Luxemburger Gemeinden Vereine entstehen, die sich mit dem jüdischen Leben in diesen Ortschaften befassen. Auf der anderen Seite ist bei den Covid-Demonstrationen in Luxemburg das aufgetreten, was man auch im Ausland sieht: Verharmlosung des Holocaust, Tragen des Judensterns, und dies mit einer Unbekümmertheit, die schon erschreckend ist. In den sozialen Medien – und die RIAL-Berichte zeigen das ja auch – kommt es zu einer Verharmlosung der Schoa und andererseits – und da wären wir dann beim Thema ‚linker Antisemitismus’ – zu Äußerungen gegenüber dem Konflikt Israel-Palästina, wo Vergleiche angestellt werden, die inakzeptabel sind. Wo israelische Soldaten zum Beispiel mit Nazis gleichgestellt werden oder mit SS-Schergen. Auch hier: eine Art Banalisierung, aber zugleich eben auch eine Opfer-Täter-Umkehr.
Renée Wagener hält am Dienstag, dem 29. November, um 19.30 Uhr eine Konferenz über ihre Arbeit in der Ettelbrücker Bibliothek, 9, Place de la Libération.
Bei den CovidDemonstrationen in Luxemburg ist das aufgetreten, was man auch im Ausland sieht: Verharmlosung des Holocaust, Tragen des Judensterns, und dies mit einer Unbekümmertheit, die schon erschreckend ist.