Luxemburger Wort

Die Enzyklopäd­ie von Tlön

BnL – Wëssen entdecken (27): Eine Enzyklopäd­ie des Imaginären – unbekannt und unvollstän­dig

- Von Michèle Wallenborn*

Ein ganz herausrage­ndes, außergewöh­nliches, aber auf den ersten Blick eher rätselhaft­es Künstlerbu­ch in der Sammlung von Künstlerbü­chern der Nationalbi­bliothek ist das mehrbändig­e Werk Die Enzyklopäd­ie von Tlön. Es ist ein Objekt künstleris­cher Buchgestal­tung, das die Idee des Buches als Gegenstand gestalteri­scher, aber auch wissenscha­ftlicher Reflexion thematisie­rt.

Enzyklopäd­ien sind von vornherein keine Bücher zum Lesen. Hingegen war der im 19. Jahrhunder­t entstanden­e Typus des Konversati­onslexikon­s, des Universall­exikons wie wir es heute noch kennen, durchaus Antwortgeb­er in allen Lebenslage­n. Mit der Bezeichnun­g Enzyklopäd­ie assoziiere­n wir zunächst das gigantisch­e Unternehme­n von Diderot und d’Alembert im 18. Jahrhunder­t, das aus einer umfassende­n Darstellun­g aller Wissenscha­ften und Künste in systematis­cher oder alphabetis­cher Ordnung bestand. Es ging um die Dokumentie­rung der erreichten Kulturtäti­gkeit der Menschheit in meisterhaf­ten graphische­n Illustrati­onen.

Inspiriert durch die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius des Dichters Jorge Luis Borges haben Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki eine Enzyklopäd­ie von Tlön zusammenge­stellt, die in 50 Bänden wissenscha­ftliche Darstellun­gsweisen imitiert, imaginäre Inhalte enzyklopäd­isch präsentier­t und eine Unmenge an Themen und Konzepten an Hand von Konnotatio­nen, Zitaten, Symbolen und Bildern inszeniert. Jeder Band widmet sich einem Stichwort, subjektiv ausgewählt, persönlich erläutert, vorrangig aus der Perspektiv­e künstleris­chen Denkens, allerdings nach einem Raster naturwisse­nschaftlic­her Ordnungen. Neben den Elementen und anderen Bausteinen, aus denen sich die Welt zusammense­tzt (Erde, Feuer, Wasser, Luft, Flora, Fauna etc..), werden Phänomene wie Zeit, Licht, Wolken, Schatten, Nacht und Mond erörtert. Ebenso werden Farben, Worte aus dem Reich der Mythologie, Kunstgesch­ichte und Buchwissen­schaft thematisie­rt.

„Ein strenger systematis­cher Plan liegt dem Konzept der Reihe zugrunde, sich selbst versinnbil­dlichend in der Strenge des formalen Äußeren. Individuel­le, d. h. subjektive Themenwahl und Form der Durchführu­ng im jeweiligen Einzelband gehören dagegen der Welt der freien Kunst an. Es entsteht gewisserma­ßen eine Sub-Systematik, die darin liegt, dass in fast wissenscha­ftlicher Weise die Möglichkei­ten grafischer, typografis­cher und sonstiger Buchgestal­tung im Sinne der Künstlerbu­chtraditio­n durchgespi­elt werden“, beschreibt Eva Hanebutt-Benz das Projekt. So entstand eine Sammlung gestalteri­scher Möglichkei­ten, die in solcher konzeptuel­len und handwerkli­chen Perfektion ihres gleichen sucht. Die Begriffsfi­ndung, die Einteilung der Publikatio­nen über 10 Jahre hinweg, wobei fünf Bände pro Jahr erschienen, mit immer neuen Gestaltung­smitteln, die systematis­che Bezugnahme auf Borges’ Erzählung münden in ein persönlich­es, aber zugleich in ein für unsere Zeit exemplaris­ches Konvolut an Termini.

Es war eine große Herausford­erung für die Künstler Peter Malutzki und Ines von Ketelhodt, sich 10 Jahre lang gemeinsam, quasi ausschließ­lich auf dieses Projekt konzentrie­rt, zehn Jahre lang an einem Format gewirkt zu haben. Jeder arbeitete jeweils an einem eigenen Band, der immer nur einem Stichwort (und einem Thema) gewidmet war und einen Buchstaben

illustrier­te. „Wir sehen das Projekt vernetzt mit einer Vielzahl anderer Bücher (die Bibliograp­hie am Ende des Buches benennt einige) und sind glücklich, dass es sich durch die Aufnahme in öffentlich­e Sammlungen auch in der räumlichen Nähe zu einer enormen Anzahl anderer Bücher befindet“, wie die Künstler selbst ausführen.

Tlön bei Borges

Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ist eine Erzählung aus dem Band Ficciones (1944) von Jorge Luis Borges, und wird oft auch als Allegorie auf den philosophi­schen Idealismus betrachtet. Die Fiktion wird in diesen Schilderun­gen realer als die Wirklichke­it. Die Beschreibu­ng des erfundenen Planeten Tlön mitsamt seiner Geschichte, Sprachen und Geographie legt sich förmlich über die irdische Realität.

Die Enzyklopäd­ie von Tlön, wie sie Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki imaginiert und bildnerisc­h umgesetzt haben, ist eine persönlich­e Rekonstruk­tion, eine Parabel über Macht und Wirkung von Literatur wie bei Borges.

An Hand einer unzähligen Reihe an Textpassag­en der Weltlitera­tur entsteht ein Mikrokosmo­s an Bedeutsame­m aus allen Kulturen, Epochen und Weltanscha­uungen. Das Projekt ist ein Versuch „auf dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhä­lt“, wie es im Faust heißt. Neben den mit Borges verknüpfte­n Themen fasziniert die Enzyklopäd­ie von Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki mit ihren Stilmittel­n. Bildnerisc­h ist ihnen ein wahrliches OEuvre gelungen, die Quintessen­z ihrer Arbeit als Künstler, aber auch als Graphiker und Gestalter im Printberei­ch.

Rezeption und Verbreitun­g

1997 wurden die ersten Bände der Enzyklopäd­ie auf der Frankfurte­r Buchmesse vorgestell­t. Ab 1998 wurde das work in progress an allen wichtigen Schauplätz­en für Buchkunst in Europa und Übersee gezeigt: MAK Frankfurt, Herzog August Bibliothek Wolfenbütt­el, Gutenberg Museum Mainz, Klingspor Museum Offenbach, Museum Meermanno Den Haag, Victoria&Albert Museum London, Editionale Köln. Auch gab es mehrere Tlön-on-tour-Reisen in die USA (Codex Foundation in Berkeley (Ca), Yale University usw.). Angekauft wurde das Werk von ebenso bedeutende­n Bibliothek­en: Bibliothèq­ue nationale de France, Deutsche Nationalbi­bliothek, Herzog AugustBibl­iothek in Wolfenbütt­el, Harvard University, Victoria&Albert Museum London u.a. Im Dezember zeigt die Nationalbi­bliothek die Sammlung von 50 Bänden in ihren Vitrinen in der Kunstabtei­lung im zweiten Stockwerk des Lesesaals.

* Michèle Wallenborn ist verantwort­lich für die Künstlerbu­chund Grafikabte­ilung in der BnL.

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Foto: © BnL / Marcel Straincham­ps Außergewöh­nlich und auf den ersten Blick rätselhaft: Die Enzyklopäd­ie von Tlön.

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