„Jedes Kind hat seine eigene Migrationsgeschichte“
Jeden Monat kommen im Schnitt 16 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Luxemburg an – so viel wie sonst in einem Jahr
Luxemburg sieht sich mit einem Flüchtlingszustrom konfrontiert, der die zuständigen Behörden stark unter Druck setzt. Die Unterkünfte sind alle mehr oder weniger voll belegt und viele sind nicht besonders kinder- und familienfreundlich ausgestattet, wie der Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher (Okaju) in seinem diesjährigen Bericht feststellt.
Unter den Flüchtlingen sind viele Ukrainer, die ein Recht auf vorübergehenden Schutz haben. Doch auch die Zahl derer, die in Luxemburg internationalen Schutz beantragen, wächst. Auffallend und beunruhigend ist die zunehmende Zahl minderjähriger Flüchtlinge, die ohne erwachsene Begleitung hier ankommen. „2020 stellten 56 Minderjährige in Luxemburg einen Asylantrag. Zwischen Januar und Ende August 2022 waren es 132 Minderjährige“, sagt Carole Reckinger am Dienstag auf Nachfrage des „Luxemburger Wort“. In den Jahren davor seien es pro Jahr zwischen 15 und 20 Minderjährige gewesen.
Hilfsorganisationen wie die Caritas kümmern sich um die Geflüchteten und machen sich Sorgen um das Wohl der Kinder und Jugendlichen. Es gebe mit Blick auf die Kinderrechte auf mehreren Ebenen Verbesserungsbedarf, meinte Reckinger, die bei der Caritas für die politische Arbeit zuständig ist.
Angefangen bei der Aufnahme der Kinder. Allzu oft, stellt Reckinger fest, würden Minderjährige wochen- oder gar monatelang in Erstauffangstrukturen des Office national de l'accueil (ONA) festsitzen, wo auch die erwachsenen Aslybewerber untergebracht sind. Im vergangenen Oktober hätten sich 20 Kinder unter 16 Jahren und zehn über 16 Jahren in einer solchen Struktur aufgehalten. „Das ist definitiv nicht das geeignete Umfeld für Kinder ohne Begleitung.“Für die Caritas ist wichtig, die Kinder sofort in spezialisierten Zentren unter der Obhut des Office national de l'enfance (ONE) unterzubringen, weil nur so möglich sei, auf ihre spezifischen Bedürfnisse und ihre Rechte angemessen einzugehen.
Viele Jugendliche würden ab sechzehneinhalb Jahren in ONA-Strukturen umgesiedelt. Dort aber gebe es keine spezifische Begleitung, weswegen die Caritas fordert, die Minderjährigen bis zum Erwachsenenalter in den spezialisierten Einrichtungen zu lassen. Diese sollten sich in unmittelbarer Nähe zu wichtigen Dienstleistungen und Schulen befinden.
Kinderrechte vor Asylrecht
Großen Wert legt die Caritas, wie übrigens auch das Okaju, auf die Einführung eines speziellen gesetzlichen Statuts für unbegleitete Minderjährige. „Derzeit haben sie keine andere Wahl als einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen“, sagt Reckinger. „Das bedeutet, dass der junge Mensch, wie alle anderen Asylbewerber auch, von der Immigrationsbehörde befragt wird und bei diesem ersten Gespräch alleine ist. Das kann unwiderrufliche Konsequenzen für den Rest der Prozedur haben.“Die Caritas fordert, dass den Kindern gleich zu Beginn des Verfahrens ein Anwalt sowie ein Tutor zur Seite gestellt werden, die sich um sie kümmern und sicherstellen, dass ihre Rechte respektiert werden.
Carole Reckinger erinnert daran, dass in Ländern wie Deutschland oder Frankreich, unbegleitete Minderjährige als erstes vom Jugendamt betreut werden und nicht von der Immigrationsbehörde. Reckinger fordert auch für Luxemburg, den Kinderrechten
den Vorrang vor anderen nationalen oder internationalen Rechtsbestimmungen zu geben und die Prozedur dahingehend zu ändern: erst die Kinderrechte, dann das Asylrecht.
„Jedes Kind hat seine eigene Migrationsgeschichte und es muss geschaut werden, was das Beste für das Kind ist“, so Reckinger. Nicht in allen Fällen sei der internationale Schutz oder die Familienzusammenführung die beste Lösung. „Man muss jeden Fall einzeln prüfen und zum Beispiel schauen, inwiefern Kinder vorgeschickt oder instrumentalisiert werden, um eine Familienzusammenführung zu erwirken. Es gibt dieses Risiko und das muss vermieden werden.“
Das ONE ist nicht nur zuständig für Minderjährige, sondern bietet auch spezifische Begleitprogramme für junge Erwachsene im sogenannten Transitionsalter zwischen 18 und 27 Jahren. „Solche Programme muss es auch für unbegleitete junge Flüchtlinge gelten“, fordert Reckinger, „zumal, wenn sie aus einer ONE-Struktur in eine ONAStruktur wechseln, wo sie mehr oder weniger auf sich selbst gestellt sind“.
Staat verspricht, zu handeln
In einem Pressekommuniqué räumte Immigrationsminister Jean Asselborn (LSAP) vergangene Woche ein, dass das Netz der Unterbringungsmöglichkeiten wegen des Flüchtlingszustroms überlastet sei. Seit Beginn des Jahres haben 3 677 Personen vorübergehenden Schutz beantragt – über 95 Prozent stammen aus der Ukraine. Hinzu kommen 2 781 Personen, die internationalen Schutz beantragt haben. „Diese Zahlen übersteigen bei Weitem die Zahlen der Migrationskrise der Jahre 2015-2016“, heißt es in dem Schreiben. Wegen der gestiegenen Zahl an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen lege das ONA zusammen mit dem ONE den Schwerpunkt auf die Bereitstellung geeigneter Unterbringungsmaßnahmen, „um die Minderjährigen zu schützen und ihnen eine angemessene Betreuung zu bieten“.
Erstauffangstrukturen sind definitiv nicht das geeignete Umfeld für Kinder ohne Begleitung. Carole Reckinger, Caritas