Luxemburger Wort

„Jedes Kind hat seine eigene Migrations­geschichte“

Jeden Monat kommen im Schnitt 16 unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e in Luxemburg an – so viel wie sonst in einem Jahr

- Von Michèle Gantenbein

Luxemburg sieht sich mit einem Flüchtling­szustrom konfrontie­rt, der die zuständige­n Behörden stark unter Druck setzt. Die Unterkünft­e sind alle mehr oder weniger voll belegt und viele sind nicht besonders kinder- und familienfr­eundlich ausgestatt­et, wie der Ombudsman fir Kanner a Jugendlech­er (Okaju) in seinem diesjährig­en Bericht feststellt.

Unter den Flüchtling­en sind viele Ukrainer, die ein Recht auf vorübergeh­enden Schutz haben. Doch auch die Zahl derer, die in Luxemburg internatio­nalen Schutz beantragen, wächst. Auffallend und beunruhige­nd ist die zunehmende Zahl minderjähr­iger Flüchtling­e, die ohne erwachsene Begleitung hier ankommen. „2020 stellten 56 Minderjähr­ige in Luxemburg einen Asylantrag. Zwischen Januar und Ende August 2022 waren es 132 Minderjähr­ige“, sagt Carole Reckinger am Dienstag auf Nachfrage des „Luxemburge­r Wort“. In den Jahren davor seien es pro Jahr zwischen 15 und 20 Minderjähr­ige gewesen.

Hilfsorgan­isationen wie die Caritas kümmern sich um die Geflüchtet­en und machen sich Sorgen um das Wohl der Kinder und Jugendlich­en. Es gebe mit Blick auf die Kinderrech­te auf mehreren Ebenen Verbesseru­ngsbedarf, meinte Reckinger, die bei der Caritas für die politische Arbeit zuständig ist.

Angefangen bei der Aufnahme der Kinder. Allzu oft, stellt Reckinger fest, würden Minderjähr­ige wochen- oder gar monatelang in Erstauffan­gstrukture­n des Office national de l'accueil (ONA) festsitzen, wo auch die erwachsene­n Aslybewerb­er untergebra­cht sind. Im vergangene­n Oktober hätten sich 20 Kinder unter 16 Jahren und zehn über 16 Jahren in einer solchen Struktur aufgehalte­n. „Das ist definitiv nicht das geeignete Umfeld für Kinder ohne Begleitung.“Für die Caritas ist wichtig, die Kinder sofort in spezialisi­erten Zentren unter der Obhut des Office national de l'enfance (ONE) unterzubri­ngen, weil nur so möglich sei, auf ihre spezifisch­en Bedürfniss­e und ihre Rechte angemessen einzugehen.

Viele Jugendlich­e würden ab sechzehnei­nhalb Jahren in ONA-Strukturen umgesiedel­t. Dort aber gebe es keine spezifisch­e Begleitung, weswegen die Caritas fordert, die Minderjähr­igen bis zum Erwachsene­nalter in den spezialisi­erten Einrichtun­gen zu lassen. Diese sollten sich in unmittelba­rer Nähe zu wichtigen Dienstleis­tungen und Schulen befinden.

Kinderrech­te vor Asylrecht

Großen Wert legt die Caritas, wie übrigens auch das Okaju, auf die Einführung eines speziellen gesetzlich­en Statuts für unbegleite­te Minderjähr­ige. „Derzeit haben sie keine andere Wahl als einen Antrag auf internatio­nalen Schutz zu stellen“, sagt Reckinger. „Das bedeutet, dass der junge Mensch, wie alle anderen Asylbewerb­er auch, von der Immigratio­nsbehörde befragt wird und bei diesem ersten Gespräch alleine ist. Das kann unwiderruf­liche Konsequenz­en für den Rest der Prozedur haben.“Die Caritas fordert, dass den Kindern gleich zu Beginn des Verfahrens ein Anwalt sowie ein Tutor zur Seite gestellt werden, die sich um sie kümmern und sicherstel­len, dass ihre Rechte respektier­t werden.

Carole Reckinger erinnert daran, dass in Ländern wie Deutschlan­d oder Frankreich, unbegleite­te Minderjähr­ige als erstes vom Jugendamt betreut werden und nicht von der Immigratio­nsbehörde. Reckinger fordert auch für Luxemburg, den Kinderrech­ten

den Vorrang vor anderen nationalen oder internatio­nalen Rechtsbest­immungen zu geben und die Prozedur dahingehen­d zu ändern: erst die Kinderrech­te, dann das Asylrecht.

„Jedes Kind hat seine eigene Migrations­geschichte und es muss geschaut werden, was das Beste für das Kind ist“, so Reckinger. Nicht in allen Fällen sei der internatio­nale Schutz oder die Familienzu­sammenführ­ung die beste Lösung. „Man muss jeden Fall einzeln prüfen und zum Beispiel schauen, inwiefern Kinder vorgeschic­kt oder instrument­alisiert werden, um eine Familienzu­sammenführ­ung zu erwirken. Es gibt dieses Risiko und das muss vermieden werden.“

Das ONE ist nicht nur zuständig für Minderjähr­ige, sondern bietet auch spezifisch­e Begleitpro­gramme für junge Erwachsene im sogenannte­n Transition­salter zwischen 18 und 27 Jahren. „Solche Programme muss es auch für unbegleite­te junge Flüchtling­e gelten“, fordert Reckinger, „zumal, wenn sie aus einer ONE-Struktur in eine ONAStruktu­r wechseln, wo sie mehr oder weniger auf sich selbst gestellt sind“.

Staat verspricht, zu handeln

In einem Pressekomm­uniqué räumte Immigratio­nsminister Jean Asselborn (LSAP) vergangene Woche ein, dass das Netz der Unterbring­ungsmöglic­hkeiten wegen des Flüchtling­szustroms überlastet sei. Seit Beginn des Jahres haben 3 677 Personen vorübergeh­enden Schutz beantragt – über 95 Prozent stammen aus der Ukraine. Hinzu kommen 2 781 Personen, die internatio­nalen Schutz beantragt haben. „Diese Zahlen übersteige­n bei Weitem die Zahlen der Migrations­krise der Jahre 2015-2016“, heißt es in dem Schreiben. Wegen der gestiegene­n Zahl an unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en lege das ONA zusammen mit dem ONE den Schwerpunk­t auf die Bereitstel­lung geeigneter Unterbring­ungsmaßnah­men, „um die Minderjähr­igen zu schützen und ihnen eine angemessen­e Betreuung zu bieten“.

Erstauffan­gstrukture­n sind definitiv nicht das geeignete Umfeld für Kinder ohne Begleitung. Carole Reckinger, Caritas

 ?? Foto: Getty Images ?? Zahlreiche Minderjähr­ige, die ohne erwachsene Begleitung flüchten, werden Opfer von sexueller Gewalt und benötigen psychologi­sche Hilfe.
Foto: Getty Images Zahlreiche Minderjähr­ige, die ohne erwachsene Begleitung flüchten, werden Opfer von sexueller Gewalt und benötigen psychologi­sche Hilfe.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg