„Wir brauchen Leidenschaft für unsere taumelnde Welt“
Im Interview spricht der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner über die Herausforderungen der Synodalität und verrät, warum Bischöfe das Dirigieren eines Chores erlernen sollten
Im Oktober kündigte Papst Franziskus eine Verlängerung des synodalen Prozesses an. Dass dieser weltweite Konsultations- und Beratungsprozess im Vorfeld der im Oktober 2023 und 2024 tagenden Weltsynode in die Verlängerung geht, wertet der Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul Zulehner (82) als große Chance. Auf Einladung des Service Communication et Presse der Katholischen Kirche in Luxemburg in Zusammenarbeit mit der ErwuesseBildung, dem Centre de formation diocésain Jean XXIII und der Zeitschrift Forum gastierte der emeritierte Universitätsprofessor kürzlich in Luxemburg.
Paul Zulehner, was ist der Schlüssel, damit der vom Papst initiierte synodale Prozess gelingen kann?
In der Synodalität machen wir uns gemeinsam auf einen Weg – und zwar den Weg, den Jesus gegangen ist. Als Nachfolgegemeinschaft der sogenannten Jesusbewegung geht es darum, die Leidenschaft Jesu für die Welt und die Menschen weiterzuführen, die Welt reichgottesförmiger zu machen, damit Spuren des Himmels auf der Erde sichtbar werden. Wir bringen ja schon jetzt ein bisschen Himmel auf die Erde. Und wenn die Kirche in Luxemburg gut arbeitet, dann wird diese Kirche wahrhaftiger und menschlicher.
Ein Stück Himmel auf die Erde bringen: Wie geht das in unserer säkularisierten Gesellschaft?
Antiklerikalismus ist in unserer Zeit fahrlässig. Die Religionen – ich sage bewusst die Religionen und nicht nur die katholische – sind Quellen der Hoffnung in unserer taumelnden Welt. In einer Zeit der Diffusion braucht man eine Position: Wir brauchen ein Fundament ohne fundamentalistisch zu sein, und dieses Fundament ist die Bibel und keine Ideologie. Nicht rechts oder links, sondern radikal, das heißt von der Wurzel her und diese Wurzel ist das Evangelium. Konkret heißt das, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, wie es Papst Franziskus fordert.
Läuft die Kirche – insbesondere im synodalen Prozess – nicht Gefahr, sich zu sehr mit sich selbst und ihren Strukturen zu beschäftigen, anstatt ihrer ursprünglichen Mission gerecht zu werden und an die Ränder der Gesellschaft zu gehen?
Die Kirche ist in Gefahr zu implodieren, da sie berufen ist, in die Welt zu gehen, zu den Armen zu gehen. Wenn die Kirche nicht dahin geht, wird sie atheistisch. Unsere Welt brennt, und wir kümmern uns um uns selber. Leider haben wir in der Kirche die Welt vergessen. In Luxemburg ist der synodale Prozess Gott sei Dank nicht so innerkirchlich geprägt wie in den Nachbarländern. Kardinal Hollerich ist ein Mann der Welt und er weiß um die drängenden Fragen unserer Zeit. Das gefällt mir. In der Theologie geht es doch um die Fokussierung auf Gott und seine Leidenschaft für die Welt. Wir müssen die Welt wieder glaubwürdig machen. Zur Zeit erleben wir eine Gotteskrise, eine Menschenkrise und eine Kirchenkrise. Aber wir suchen zunächst nach Lösungen für die Kirchenkrise. Das ist der falsche Weg. Die Kirche kann nur überleben, wenn sie Schulter an Schulter mit der Welt geht. Eine Kirche, die nur um sich dreht, verkommt zur Sekte. Wir brauchen wieder Metaphysik. Die Welt riecht nach Apokalypse,
deshalb brauchen wir wieder Leidenschaft für diese taumelnde Welt.
Wie können wir Gottes Leidenschaft für diese „taumelnde Welt“in der Kirche konkret erfahrbar und erlebbar machen?
Wir müssen in Gott eintauchen und bei den Menschen wieder auftauchen. Das Prinzip lautet: sich in Gott eingraben, um dann an die Ränder des Lebens herausgehen und ein Stück Himmel auf die Menschen regnen lassen zu können. Konkret heißt das: Ändere deinen ökologischen Fußabdruck, unterstütze ein persönliches
Solidaritätsprojekt, bilde eine Insel des Friedens. Jeder kann etwas tun. Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung müssen absolute Priorität haben. Und da kann die Kirchenbasis ganz viel bewegen mit Blick auf das Jesuskind, das auf dem Arm der Muttergottes vielerorts mit der Weltkugel dargestellt ist. Das Jesuskind hält nicht die Kirche in der Hand, sondern die Welt. Was für ein starkes Bild, das uns doch ermutigen sollte, dass die Pfarreien Inseln des Friedens werden! Es reicht nicht, fromm zu sein: Weil wir fromm sind, müssen wir politisch sein und uns um die Menschen kümmern. Es geht hier nicht darum, dass wir eine politische Partei bilden, aber einen politischen Weg, der zukunftsweisend eine wachsende Spiritualität und Präsenz in der Welt aufzeigen kann.
Während Ihres Aufenthaltes in Luxemburg wurden Sie vor dem Hintergrund des synodalen Prozesses gefragt, wie sich die Kirche demokratisieren kann ...
Nicht die Frage, was kann die Demokratie für die Kirche tun, ist essenziell, sondern die Fragestellung: Kann die Kirche die gefährdeten Demokratien unterstützen. Das ist doch das entscheidende, dass wir als Kirche der taumelnden Welt eine Hoffnungsperspektive öffnen. In diesem Sinne muss der synodale Weg imstande sein, Himmelsgeschenke an die Demokratie zu geben: Würde, Gleichheit, Solidarität, Zuversicht und Erhaltung der Schöpfung.
Demokratie ist Synonym von Partizipation, die in der Kirche oft stiefmütterlich behandelt wird ...
Partizipation und Gleichheit ist genau der Weg der Synodalität. Durch die Taufe haben wir alle die gleiche Berufung. Wir sind alle mit der gleichen Kraft des Heiligen Geistes ausgestattet, um die Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils endlich zu verwirklichen.
Wir müssen in Gott eintauchen und bei den Menschen wieder auftauchen.
Unsere Welt brennt, und wir kümmern uns um uns selber.
Wird diese Partizipation, die weltweit doch sehr heterogen ist, durch die neulich vom Papst angekündigte Verlängerung des synodalen Prozesses jetzt eher gebremst oder gefördert?
Die Verlängerung des synodalen Prozesses finde ich genial. Es zeigt das Anliegen des Papstes, das Volk Gottes noch stärker in den Blick zu nehmen. Durch diese Verlängerung baut der Papst weltweit Druck auf die Versammlung auf. Das Kirchenoberhaupt möchte, dass man überall über die Themen der Synodalität spricht, und nicht nur unter Bischöfen. Die Bischöfe müssen lernen, mit der Radikalisierung der Partizipation konstruktiv umzugehen. Ich bin zuversichtlich, dass die Vorschläge zum Volk Gottes gebracht werden. Und das weltweit. Wir brauchen den Reichtum der Kulturen, wo das Evangelium zu unterschiedlichen Konsequenzen führen kann. Der Eurozentrismus muss aufhören.
Was wünschen Sie sich für den synodalen Prozess?
Ich wünsche der Synode heftige Konflikte, die man austrägt. Denn nur so kommt man voran. Wie im Fußball braucht es Verteidiger und Stürmer. Tradition und Situation gehören zusammen, aber die Situation ist wichtiger als die Tradition. Die Bischöfe müssen in der Spur Gottes bleiben, aber neben der Spurtreue im Bischofsamt auch Anwälte der Zeit sein, wo die Fragen der Zeit im Lichte des Evangeliums mit Frauen und Männern diskutiert werden. Von der Synode aus muss Gottes Leidenschaft für die Welt – sprich Frieden, Klima, Migration – nachhaltig entfacht werden und die soziale Form der Kirche neu gestaltet werden, damit sie ihre Aufgaben wahrnehmen kann. Es braucht eine Kirche, in der Gott vorkommt, für die Welt! Eine gute Schule für die Bischöfe wäre das Dirigieren eines Vokalensembles, wo unterschiedliche Stimmen zu einer Einheit in der Vielfalt finden müssen. Eigentlich müssten alle Bischöfe das Dirigieren erlernen!