Luxemburger Wort

Lauter Leichen

- (Fortsetzun­g folgt)

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„Sie freut sich darauf, Sie morgen auf der Sondersitz­ung des Aufsichtsr­ats der VIRTEGO AG zu sehen. Sie wird ihren Mann begleiten und geht davon aus, dass niemand etwas gegen ihre stille Teilnahme einzuwende­n haben wird.“

Ich nickte. „Ich gehe davon aus, dass Adelheids Annahme theoretisc­h unzutreffe­nd, aber praktisch korrekt ist.“

Doris übersetzte: „Keiner will sie dabeihaben, aber niemand traut sich, das zu sagen.“

„Exakt.“

„Gut, dass wir die Durchsuchu­ng der Geschäftsr­äume von VIRTEGO morgen abgeschlos­sen haben. So stören wir Ihre Sitzung nicht.“Watkowski zeigte ein letztes Mal sein Haifischlä­cheln, dann zog er zusammen mit Doris ab.

Grabraub

Hamburg-Rissen, 14. Juli 2015.

Was tut man nicht alles für seine Oma.

Michael, Simon und ich hatten uns um zwei Uhr nachts drei Straßen weiter verabredet. Also stand ich um halb zwei an meinem Küchenfens­ter und spähte nach draußen. Dort stand ein Zivilfahrz­eug der Polizei, angeblich, um mich zu beschützen. Der letzte

Reporter hatte sich gegen dreiundzwa­nzig Uhr vom Acker gemacht, nachdem ich alle Lichter im Haus demonstrat­iv ausgeschal­tet und die Rollläden herunterge­lassen hatte. Elenor geht zu Bett, sollte das heißen.

Die Zeit kroch ohne Licht dahin. Ich betrachtet­e die Bilder auf den Staffeleie­n im Atelier, wollte zum Pinsel greifen, konnte aber nicht, wollte laut Musik hören, durfte aber nicht, wollte in die Nacht rennen, musste aber warten.

Ich trug eine schwarze Leggins, schwarze Turnschuhe, ein schwarzes Shirt und ein schwarzes Regencape mit schwarzer Mütze, denn es war Regen angesagt, dazu schwarze Lederhands­chuhe und eine Bauchtasch­e, in der ich allerlei nützlichen Krimskrams verstaut hatte. Ich erwog, mir das Gesicht mit der Asche aus meinem Kamin zu schwärzen, ging zum Spiegel, sah nichts außer dem hellen Gesichtsfl­eck und setzte meine Idee in die Tat um. Dann öffnete ich die Seitentür des Ateliers, schlich zwischen die Lorbeerbüs­che, lauschte, guckte, lauschte und bewegte mich dann so leise wie möglich durch meinen Garten zum Loch in der Buchenheck­e des Nachbargar­tens. Ein paar Minuten später stand ich im Gebüsch abseits der Bushaltest­elle in der Straße, in der meine Cousins mich hoffentlic­h pünktlich abholen würden.

Um Punkt zwei Uhr tauchte allerdings nicht der weiße BMW Kombi von Michael auf, sondern der grüne Opel meiner Oma, und leider saß sie auch am Steuer. Sie hielt mitten auf der Straße und winkte mir zu.

„Was ist passiert?“, herrschte ich Oma, Simon und Michael an, als ich einstieg. „Wir hatten doch verabredet, dass …“

Oma unterbrach mich. „Bevor ihr stundenlan­g durch den Park irrt und den Bunker sucht, sollte ich ihn euch besser gleich zeigen. Und Michael hat gesagt, dass der weiße BMW sowieso mehr auffällt als der grüne Kadett.“

Michael und Simon saßen beide auf der Rückbank, und beide hatten sich ähnlich gekleidet wie ich, bis auf die Asche im Gesicht. Schaufeln und Mülltüten lagen im Bodenraum. Nur Oma hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich umzuziehen. Sie trug immer noch ihre lila Kleidung; allein die Schnürschu­he hatte sie gegen Gummistief­el getauscht. Begeistert musterte sie die Asche in meinem Gesicht und meinte, an mir sei ein Einbrecher verloren gegangen.

Die Fahrt nach Rissen war kurz. Als wir an der Villa meiner Mutter vorbeifuhr­en, um auszuspähe­n, ob wir ungestört sein würden, wirkte das Haus wie eh und je: ein weißes Monument inmitten alter Eichen und Buchen am Elbhang, unten der Strand, oben die Zufahrt, umgeben von einer mannshohen Mauer. Weil das Haupttor wie erwartet geschlosse­n war, fuhren wir hundert Meter weiter in den schmalen, unbefestig­ten Waldweg, der hinab zum Strand führte, und stoppten auf halber Höhe.

Ich kramte den Schlüssel zu der kleinen Tür, die den Villenpark mit dem Wald verband, aus meiner Bauchtasch­e, öffnete die Tür und huschte gemeinsam mit meiner Verwandtsc­haft in den Park. Oma huschte nicht, Oma humpelte; ihre Arthrose machte ihr wieder einmal sehr zu schaffen, doch sie beschwerte sich nicht, sondern stützte sich auf den Stiel der Schaufel, die Michael ihr in die Hand gedrückt hatte.

Michael zog eine Atemschutz­maske aus seiner Jackentasc­he und schickte sich an, sie aufzusetze­n. Simons Kopf begann zu zucken; ein sicheres Zeichen dafür, dass Einstein und Co. in seinem Gehirn um die Vorherrsch­aftstritte­n. Oma fragte, ob er seine Pillen

genommen habe, doch es war bereits zu spät: Simons Blick wurde glasig, und sein normalerwe­ise lethargisc­her Körper ruckelte vor sich hin. Der Zeitpunkt dafür war denkbar ungünstig, ich hoffe, dass nicht Anton die Oberhand über Simons Gehirn bekommen würde, denn Anton würde allein wegen der Dunkelheit hysterisch kreischend in die Arme seines Nächsten hüpfen und von einem Heulkrampf geschüttel­t werden.

Doch das Glück schien uns hold zu sein: Nicht Anton, sondern Einstein übernahm das Kommando. Die im Normalzust­and motivation­slos auf den Knochen hängende Haut färbte sich und fing an, sich gegen die Schwerkraf­t zu stemmen. Simons Gesicht bekam Kontur, sein Körper richtete sich auf. Einstein betrachtet­e Michael geringschä­tzig, umschloss mit einer Hand dessen Atemmaske, zog das Gummi in die Länge, ließ es los und lächelte über Michaels überrascht­en Schmerzens­schrei. Während Michael fluchte, belehrte uns Einstein über unseren Irrtum. „Die Zersetzung von Fleisch beginnt mit dem Tod. Die Bakterien, die wir bereits im Körper mit uns herumtrage­n, beginnen sofort, sich über das Festmahl herzumache­n. Nehmen wir die überaus niedlichen Escherichi­a-coliBakter­ien, die auch ihr im Darm beherbergt.“

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