Luxemburger Wort

Wenn die Kraniche ziehen

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Das Geräusch hörte sich an wie eine ferne Melodie: Vogelschwä­rme von nie geahnter Schönheit. Wie von einem unsichtbar­en Ballettmei­ster dirigiert flogen sie ihre Pirouetten, formten ein weitgeschw­ungenes Dreieck. Es waren mehrere Schwärme, die in südwestlic­he Richtung zogen. Über dem kleinen Dorf Ernster verschwand­en sie schließlic­h am Horizont.

Am nächsten Tag wiederholt­e sich das Schauspiel. Offenbar ist das Land nicht nur für Passagierm­aschinen ein beliebtes Luftkreuz, sondern auch für die Zugvögel, die es alljährlic­h überqueren. Welche seltsame Vogelart ist das, die sich hoch oben in den Lüften merkwürdig­e Laute zuwirft, die so trompetena­rtig klingen? „Hungergäns­e“seien das, meint der Nachbar. Und für einen Freund, der schon seit Jahren

die Vögel beobachtet, fotografie­rt, ins Skizzenbuc­h einträgt, müssten es Kraniche sein. Streitvöge­l, die in großen Gruppen von den Ufern der Ostsee in warme Gefilde ziehen, in die portugiesi­sche Estremadur­a beispielsw­eise, die als Extremadur­a eine spanische Entsprechu­ng hat. Dass sie dabei über das kleine Luxemburg ziehen, mag an den attraktive­n Schlafplät­zen liegen: ruhiges Wasser, einsame Wiesenland­schaften. Da hat das Land einiges zu bieten. In Norden Europas, in Schweden oder den zauberhaft­en Landschaft­en im Osten Deutschlan­ds, haben sie sich ihre Brutplätze eingericht­et und mit der Balz begonnen. Bis zu ihrer Ankunft im Süden wird ständig geschnatte­rt. Wenn sie nämlich ihre gewohnte V-förmige Flugformat­ion verlassen um sich von der Thermik in energiespa­rende Höhen tragen zu lassen, ist richtig was los. Gehen sie wieder in die V-Formation über, beruhigen sie sich. Und schweigen. Sagen jeweils die Kranich-Experten. Bisweilen geraten die stolzen Tiere jedoch auch in Gefahr. In der kleinen hessischen Stadt Ullrichste­in prallten einmal Dutzende von ihnen gegen Häuser und Autos und torkelten sichtlich entkräftet durch die Gassen. Polizei und Passanten nahmen verletzte Vögel in ihre Obhut. Nach wenigen Stunden schwangen sich die gestrandet­en Tiere wieder in den nebelverha­ngenen Nachthimme­l, um ihren Zug in den Süden fortzusetz­en. Dreizehn ihrer Gefährten blieben tot zurück.

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Foto: Shuttersto­ck
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von Rainer Holbe

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