„Der richtige Moment ist gekommen“
Mountainbike-Spezialist Sören Nissen erklärt, warum er seine Karriere im Alter von 38 Jahren beendet
„Nach 25 Jahren Radfahren, dem größten Teil meines Lebens, ist es an der Zeit, aufzuhören!“Mit einem langen Post in den sozialen Medien wendete sich Sören Nissen vor einigen Tagen an die Öffentlichkeit. Für so manchen Sportler fällt der Moment des Abschieds schwer. Im Alter von 38 Jahren ist für Nissen der Moment gekommen, um einen Schlussstrich zu ziehen. Der MountainbikeSpezialist gibt zu: „Nach langen Überlegungen habe ich diese Entscheidung getroffen. Es war nicht einfach. Ich bin zwar traurig, dass es jetzt vorbei ist. Aber ich bin mir sicher, dass der richtige Moment gekommen ist, um ein neues Kapitel zu beginnen. Ich muss dennoch zugeben, dass es ein seltsames Gefühl ist, meine Karriere nach so vielen Jahren des Radsports auf höchstem Niveau zu beenden.“
Nissen hat in seiner langen Karriere eine ganze Menge erlebt und zahlreiche Erfolge gefeiert, darunter sind acht nationale Titel in Luxemburg und zwei in seinem Geburtsland Dänemark. Dort bestritt er vor zwei Monaten mit der Weltmeisterschaft in seiner Paradedisziplin Marathon sein letztes Rennen. Nur 20 Kilometer von seinem Elternhaus entfernt, schloss sich für den in Bettendorf lebenden Nissen der Kreis.
„Da war schon zu 99 Prozent klar, dass es mein letzter Wettkampf sein würde“, sagt er heute. Als 72. von
139 Konkurrenten war der Vater eines knapp zwei Jahre alten Sohnes chancenlos.
„Ich bin sehr ehrgeizig“
Diese Tatsache bestätigte Nissen bei seinem Entschluss. Die vergangenen Jahre waren auf mehreren Ebenen schwierig. Als Ein-MannTeam machte ihm die Pandemie finanziell wie auch sportlich zu schaffen. Hinzu kamen Rückenprobleme. Was den Ehemann der ehemaligen Radsportlerin Betty Kinn aber vor allem fuchst: „Mein Körper ist nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Ich muss realistisch sein: Mit 40 Jahren werde ich nicht urplötzlich noch einmal besser. Ich hätte noch weiterfahren können. Die Zusagen des Hauptsponsors hatte ich. Aber ich wollte nicht mehr.
Jetzt ist der richtige Moment gekommen. Ich kann selbst entscheiden, wann es vorbei ist und muss nicht notgedrungen Schluss machen, weil der Körper kapituliert.“
Für Nissen gab es seit jeher nur eine Option: Um Triumphe kämpfen, ganze vorne mitfahren, die Konkurrenten niederringen und Siege einfahren. „Ich bin sehr ehrgeizig. Mir gefällt die Tatsache nicht, dass ich nicht mehr davon ausgehen kann, bei jeder Veranstaltung ganz vorne mitzufahren. Ich habe es geliebt, im Rennen den Überblick zu behalten und alles zu kontrollieren. Nur ein Teil des Ganzen zu sein, hat mir nie gereicht. Ich wollte stets eine wichtige Rolle spielen.“
Bis auf Weiteres rückt der Radsport für den 38-Jährigen in den Hintergrund. Nissen will Distanz gewinnen. Im Süden Dänemarks hat er ein kleines Sommerhaus gekauft. Das wird nun renoviert und instand gesetzt. Im Frühjahr sollen die Arbeiten fertig sein. Dann will er es an Touristen vermieten. „Vor allem Angler und Fischer aus Deutschland kommen gerne nach Dänemark. Ich habe auch ein kleines Boot und einen Anhänger gekauft. Den Interessenten steht demnach ein Gesamtpaket zur Verfügung“, verrät er.
Eines wird nicht passieren: „Ich werde nie in irgendeiner Masters-Statistik auftauchen.“Nissen sagt klipp und klar: „Für mich ging es bei Wettkämpfen immer darum, mein bestmögliches Leistungsniveau zu erreichen. Ich kann mich nicht an viele Mountainbike-Rennen erinnern, bei denen ich nicht als einer der Favoriten gehandelt wurde. Das gefiel mir. Nur so konnte ich sicher sein, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Ziel war immer, zu gewinnen.“
Etappensieg bei der Slowakei-Rundfahrt
Nissen, der Luxemburg seit 2018 in der Radsportwelt repräsentiert, denkt kurz nach. Er ergänzt mit Nachdruck: „Ich glaube sagen zu können, dass ich mich gut geschlagen habe. Ich bin zufrieden. Rückblickend kann ich behaupten, dass es nicht viel besser hätte laufen können.“
Begonnen hat das lange Radsport-Kapitel für Nissen im Jahr 1998 in der dänischen Heimat. Er eiferte seinen Idolen Marco Pantani, Alex Zülle, Jan Ullrich und Lance Armstrong nach. Über seinen Freund Lars Bak führte der Weg zum ehemaligen Differdinger Kontinentalteam und dann nach Italien. Er gewann zwar eine Etappe der Slowakei-Rundfahrt, doch der ganz große Durchbruch gelang nicht. Keines der Topteams wurde auf ihn aufmerksam. Ewig in der dritten Liga zu fahren, ohne Geld und echte Perspektive, wollte er nicht.
Nissen und Kinn zogen zurück nach Dänemark. Die Laufbahn als Sportler im Straßenradsport war 2009 vorbei. Nissen arbeitete kurzzeitig als Versicherungsagent. Doch schon bald sollte sich eine „zweite Chance“ergeben. Der 38-Jährige entdeckte seine Liebe zum Mountainbike, zunächst nur aus Trainingszwecken „um fit zu bleiben“. Schnell kam der Wettkampfgedanke wieder auf. „Der Hunger war geweckt. Ich hatte richtig Spaß und wollte wissen, wie weit ich es schaffen würde.“Ende 2011 ging es zurück ins Großherzogtum. „Ich habe mich dazu entschlossen, den Traum von der Karriere als Radprofi ein zweites Mal zu verfolgen. Rückblickend war das die vielleicht beste Entscheidung meines Lebens. Ich hätte eigentlich früher zum Mountainbike-Sport wechseln müssen. Diese Disziplin liegt mir einfach besser. Aber um den
Schritt zu machen, fehlte auch die richtige Beratung. Der Straßenradsport steht wesentlich mehr im Fokus.“
Als Halbtagsprofi arbeitete er im Fahrradladen von Jan Ostergaard, fuhr für das italienische Corratec-Team und vertrat bis zuletzt in Luxemburg die Farben des VC Diekirch. Zusehens konzentrierte er sich auf die Rennen über die Marathon-Distanz. Erfolge stellten sich rasch ein: 2015 schlug er keinen geringeren als den Belgier Sven Nys beim Roc d'Ardenne in Houffalize. „Das war ein ganz besonderer Moment. Nys hat zu dem Zeitpunkt regelrecht dominiert. Er war einer meiner Idole. Ich habe den Roc d'Ardenne dreimal in Serie gewonnen. In der MountainbikeSzene ist das bis heute die Leistung, mit der mein Name am ehesten verknüpft wird.“
In Luxemburg sorgte Nissen für Schlagzeilen als er 2017 bei den Spielen der kleinen europäischen Staaten in San Marino die Goldmedaille im Cross-Country gewann. 2018 wurde er gar Landesmeister im Cyclocross.
Kein Glück bei der Cape Epic
Seit 2014 war Nissen als Ein-Mann-Team unterwegs. Er war fortan nicht nur Sportler, sondern musste zudem alles andere Drumherum organisieren – von der Sponsorensuche, über das Material, die Pressearbeit und die Auswahl der Rennen. „Das war perfekt. Ich war freier. Aber es war nicht einfach.“Die Corona-Pandemie setzte ihm zu. Nissen konnte lange Zeit nur zusehen. Finanziell war die Periode schwierig. Sportlich gesehen, war es eine Geduldsprobe. „Ich muss zugeben, dass der Spaß etwas verloren ging. Es war mental aufreibend. Auch weil ich als als Individualsportler keine Hilfen bekam. Ich hätte mir da schon etwas mehr Unterstützung von offizieller Seite gewünscht.“
2021 gewann Nissen ein Vier-Etappen-Rennen auf Lanzarote und belegte zusammen mit Konni Looser Rang drei bei der Swiss Epic. Mit dem Schweizer wollte er in diesem Jahr auch die Cape Epic, die „Tour de France der Mountainbike-Rennen“, in Angriff nehmen. Eine Corona-Erkrankung machte ihnen jedoch noch vor dem eigentlichen Start einen Strich durch die Rechnung. „Es ist schade, dass ich in Südafrika nie mein ganzes Können zeigen konnte. Ich war ein halbes Dutzend mal am Start. Besser als Rang elf war ich nie. Es sollte einfach nicht sein.“
Eines vermisst Nissen nicht. „Ich habe ausgerechnet, dass ich wegen des Radsports fast zwei Jahre meines Lebens in Hotels auf der ganzen Welt verbracht habe.“Jetzt rückt die Familie und Zeit mit dem fast zwei Jahre alten Sohn erst einmal in den Fokus. Radsport ist kein Thema. Aber vielleicht kribbelt es schon bald wieder und Nissen kehrt ins Radsport-Milieu zurück. Es muss ja nicht gleich als Fahrer sein.
Ich bin zufrieden. Rückblickend kann ich behaupten, dass es nicht viel besser hätte laufen können. Sören Nissen
Mein Körper ist nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Ich muss realistisch sein: Mit 40 Jahren werde ich nicht urplötzlich noch einmal besser. Sören Nissen