Lauter Leichen
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Michael riss sich die Atemschutzmaske vom Gesicht, stellte sich breitbeinig vor Simon auf und knurrte: „Klappe, Klugscheißer. Wenn ich dieses Ding hier tragen WILL, dann TRAGE ICH ES, IST DAS KLAR?!“
Simon-Einstein befand sich jedoch bereits auf einem weit entfernten Planeten, zu dem niemand mehr Zutritt hatte. Unbeirrt dozierte er weiter: „Proteasen und Lipasen, das sind Enzyme – eine Erklärung für die Minderbegabten unter uns, also euch alle –, starten die Autolyse, was so viel heißt wie Selbstverdauung. Zellwände lösen sich auf, der Körper verflüssigt sich. Die Kollagenfasern der Haut sind gegen den Prozess der Autolyse hingegen relativ unempfindlich. Deswegen ist eine nicht mehr ganz so frische Leiche wie ein mit Suppe gefüllter Sack.“Einstein kicherte und fing sich je eine Ohrfeige von Michael und Oma ein. Ich stoppte sie mit dem Hinweis darauf, dass Einsteins Gesellschaft für unsere Mission dienlicher sein würde als Simons Gesellschaft. Michael nickte wohl oder übel, Oma kämpfte mit sich. „Zunächst haben wir es mit einem Fäulnisprozess zu tun, der – je nach Temperatur und Lagerungsort der Leiche – zwischen drei und neun Monaten
anhält. Erst danach startet der Verwesungsprozess, der ebenfalls von vielen Variablen abhängt. Der in Deutschland vorgeschriebene Holzsarg führt zur Verwesung innerhalb von ungefähr zwölf Jahren.“
Schlagartig hatte Einstein unsere volle Aufmerksamkeit.
„Heißt das“, hörte ich mich halblaut kreischen, „dass wir keinen einzigen beschissenen Knochen finden werden?“
Michael fiepte: „Seit wann liegt Opa hier?“
Und Oma meinte: „Ach, das ist ja interessant. Und wenn es keinen Sarg gibt?“
„Nach zwölf Jahren bleiben meist nur noch die größeren Knochen übrig. Oberschenkelknochen, Schädelknochen …“
„Und nach HUNDERT JAHREN, Arschloch?“, knurrte Michael.
„Hundert Jahre“, erwiderte Einstein würdevoll, „liegt der Mann garantiert noch nicht im Bunker.“
„Nein, da hat der Junge recht“, schaltete Oma sich ein. „Ich habe Heinrich am 5. Mai 1965 beerdigt.“
Ich wandte mich Einstein zu. „Besteht die Möglichkeit, dass noch ein paar Knochen von Opa übrig geblieben sind? Und wenn ja: Würde die Polizei noch Rattengift in diesen Knochen finden können? Drittens: Würde irgendjemand nachweisen können, dass es Heinrich Gints Knochen sind? Viertens: Fasse dich kurz!“
Einsteins Grad der Entspannung wuchs mit meinen Fragen.
„Erstens: Ja. Knochen können sich bei günstigen Bedingungen auch Jahrhunderte halten. Sie bestehen im Wesentlichen aus anorganischem Material, das …“
„Weiter.“„Immer diese Ungeduld! Zweitens. Ja, die Forensiker würden Rattengift in den Knochen nachweisen können. Das damals ver- wendete Rattengift enthielt Thalliumsulfat, was sich auch in den Knochen einlagert. Der Nachweis erfolgt mit der Atomabsorptionsspektrometrie.“„Mist! Weiter.“
„Drittens. In den Zellen der Knochen ist natürlich auch DNS enthalten. Die DNS muss nur mit der DNS von Martha Gint oder Elvis Gint, also seinen Kindern, verglichen werden. Mithin: Natürlich kann nachgewiesen werden, dass es sich bei den Knochen^um Heinrich Gint handelt.“
Wir schwiegen alle, dann griffen wir zu unseren Schaufeln und schauten erwartungsvoll Oma an. Nur sie wusste, wo wir graben sollten. Zielstrebig setzte Oma sich in Bewegung, wir folgten ihr. Zwei Minuten später standen wir am unteren Ende des Parks, auf der Kante des Hügels, der vom Haus in Richtung Elbe abfiel. Hinter dem Hügel befanden sich einige Bäume, der Kompostplatz und die mächtige Buchenhecke, die unerwünschte Blicke abhielt.
„Hier ist es“, sagte Oma und trampelte mit ihren Gummistiefeln einen kleinen Kreis. „Unter uns.“
Drei empörte Augenpaare richteten sich auf sie, und Michael fragte, ob er sich etwa durch Stahlbeton graben solle.
„Nein, nein“, entgegnete Oma. „Es gibt eine Tür. Die liegt gleich dort vorn. Dort, wo der Hügel nur noch drei Meter hoch ist. Seht ihr, der Hügel hat dort eine Ausbuchtung.“
Michael schaute glasig ins Nirgendwo, und ich versuchte mir vorzustellen, wie wohl eine Leiche aussehen mochte, die fünfzig Jahre lang in einem mehr oder weniger trockenen Raum ohne Erdkontakt gelegen hat. Vor meinem geistigen Auge erschien eine Kreuzung aus Mumie und Zombie, und ich entschied spontan, dass ich an der Öffnung des Bunkers nicht teilnehmen würde.
Das verkündete ich auch laut und deutlich, und Michael sah mich dankbar an, denn so war er nicht der Erste, der seine Erbärmlichkeit mit eingezogenem Schwanz kundtun musste.
Oma war ganz entgegen ihrer sonstigen Art kaum ansprechbar, sie tänzelte wie ein kleiner Derwisch auf dem Grab ihres Mannes umher und murmelte vor sich hin. DAS war fast noch unheimlicher als die bevorstehende Bergung. Ich packte Oma, hielt sie fest und sagte ihr, sie solle still stehen bleiben.
Nur Einstein zeigte sich gelassen. „In der Tat“, informierte er uns zufrieden, „werden wir es mit einem Stahlbetonbunker zu tun haben. Wahrscheinlich ist er äußerst solide gebaut worden, so dass es keine Bruchstellen und damit keinen größeren Erd- oder Wasserkontakt gegeben hat. Nichtsdestotrotz wird die Stahltürluft durchlässig gewesen sein, und da der Bunker unterhalb des Erdniveaus liegt, können wir davon ausgehen, dass permanent Feuchtigkeit und Erde durch die Ritzen der Tür gesickert sind. Weiterhin müssen wir an die beiden großen Sturmfluten denken, die den Bunker überspült haben. Insgesamt komme ich also zu der Einschätzung, dass wir es mit einer Wachsleiche zu tun haben werden.“
„Wasserleiche, Blödmann“, korrigierte Michael. „Nicht Wachsleiche.“