Manches Geheimnis bleibt besser begraben
Kriegsraub, Demenz und schwierige Familienverhältnisse: Marc Graas’ „Bildnis eines jungen Mannes“will vieles. Aber dabei bleibt einiges auf der Strecke
Wie komplex kann eine Vater-Sohn-Beziehung sein? Und vor allem: Wie viele Geheimnisse verträgt eine Familie? Marc Graas’ neuer Roman „Bildnis eines jungen Mannes“liefert dazu zwar keine konkreten Antworten, kommt aufgrund psychologischer Persönlichkeitsanalysen der beiden männlichen Hauptcharaktere dennoch nah daran. Schade, dass der Text so sehr an der Oberfläche verhaftet bleibt. Da wäre eindeutig mehr Potenzial gewesen.
Nicolas und Alex Welter leben seit über 30 Jahren in Limpertsberg (Luxemburg), wo die Familie ebenfalls einen Buchladen besitzt. Alex’ Mutter ist früh verstorben, das Verhältnis zu seinem Vater Nicolas recht schwierig. Gefühlskälte, Distanz und Geheimnistuerei – die auf Gegenseitigkeit beruht – prägen ihre Beziehung, was Alex oft auf Nicolas’ Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg schiebt.
Obwohl die beiden Männer zunächst sehr unterschiedlich wirken, haben sie doch mehr Gemeinsamkeiten, als ihnen lieb ist. Insbesondere Geld und Reichtum scheinen in der Familie Welter einen hohen Stellenwert zu haben.
Eines Tages steht jedoch Timo vor ihrer Haustür und erzählt etwas von Kriegsverbrechen, Raub und gewechselten Identitäten. Ist sein Vater nicht derjenige, für den Alex ihn hält? Wäre dieser nicht an Demenz erkrankt, könnte Nicolas sich vermutlich selbst dazu äußern …
Locker, lakonisch und greifbar
Verständlich und angenehm zu lesen ist Marc Graas’ neuer Roman, der überdies seine erste Veröffentlichung bei den éditions guy binsfeld ist, allemal. Humor sowie amüsante Anekdoten gehören ebenfalls zu den Stärken des Werks. Die Kürze des Texts und der eingängige Schreibstil lassen das Buch zur idealen Lektüre für zwischendurch werden.
Wer sich hier jedoch einen ausgebauten Entwicklungsroman mit historischem Hintergrund erwartet, der wird leider enttäuscht. Inwiefern hinsichtlich der grob geschätzten 100 reinen Textseiten überhaupt von einem Roman die Rede sein kann, sei mal so dahin gestellt. Als Novelle wäre der Text sicherlich auch durchgegangen.
Tatsächlich enthält „Bildnis eines jungen Mannes“Elemente von einem Entwicklungsund Schelmenroman. Immerhin wird dem Lesenden geschildert, unter welchen komplizierten Umständen Alex bei seinem Vater aufgewachsen ist.
Alex gilt als einfallsreich; mit kleinen, schelmischen Lügengeschichten mogelt er sich durchs Leben – der Apfel fällt wohl doch nicht so weit vom Stamm. Dabei ist die Sprache des Erzählers stellenweise genauso nüchtern wie das Verhältnis zwischen Alex und Nicolas.
Zu wenig Tiefgang
Selbstverständlich entwirft Marc Graas, wie auch im Klappentext erwähnt wird, „das Psychogramm eines Familiengefüges“. Allerdings fällt diese psychologische Persönlichkeitsstudie von Vater und Sohn recht schwach aus. Tiefgründigkeit ist hier definitiv nur wenig vorhanden.
Überhaupt werden die beiden, oder sogar drei Handlungsstränge – die VaterSohn-Beziehung, die Kriegsverbrechen und die fortschreitende Demenz Nicolas’ – nicht besonders ausführlich behandelt. Vielmehr scheinen sie schlichtweg nebeneinander zu laufen, kreuzen dennoch gelegentlich ihre Wege. Dabei wird auch nicht klar, welche Story nun den Haupthandlungsstrang zieht – aber das muss auch nicht zwingend so sein.
Dennoch hätten die Auswirkungen der Demenz auf den Vater, insbesondere aber auch auf Alex deutlich präziser (Ist es Altersdemenz oder bereits Alzheimer?) sein können. Wer nämlich einen schweren Demenzfall in der Familie erlebt hat, weiß, dass es mit ein paar Wortwiederholungen und Verwirrungen nicht getan ist. Da reicht es leider nicht, dass Nicolas ein paar Mal „Krakau“sagt.
„Sein Vater war durch die Demenz ein anderer geworden, ein Fremder ohne Vergangenheit“, ist eine der wenigen Passagen, die in Bezug auf diese Thematik Eindruck hinterlassen.
Ungenutztes Potenzial
Umso gerissener kommt der Titel daher. Die Anspielung auf das Renaissance-Gemälde
„Porträt eines jungen Mannes“des italienischen Malers Raffael sind erkennbar, werden im Laufe des Romans immer deutlicher. Das Selbstporträt gilt nämlich sowohl im Buch als auch in Wirklichkeit als verschollen.
„Bildnis eines jungen Mannes“ist ein durchwachsener Kurzroman, dem lohnenswerte Ideen zugrunde liegen. Diese hätten jedoch viel weiter ausgeschöpft werden müssen, damit der Text seine vollständige Wirkung hätte entfalten können. In Kombination mit Graas’ locker-leichtem Stil wäre daraus sicherlich etwas viel Größeres entstanden.
Wer einen schweren Demenzfall in der Familie erlebt hat, weiß, dass es mit ein paar Wortwiederholungen und Verwirrungen nicht getan ist.
Marc Graas: Bildnis eines jungen Mannes. éditions guy binsfeld 2022,
128 Seiten, 20 Euro.