Luxemburger Wort

Ein scharfsinn­iger Sprachvirt­uose ist verstummt

Hans Magnus Enzensberg­ers öffentlich­e Wirkung im Kulturbetr­ieb war immens. Nun ist der Georg-Büchner-Preisträge­r im Alter von 93 Jahren gestorben

- Von Peter Mohr

„Was dir durch den Kopf rauscht, ist formlos und nicht zu fassen. Du spinnst wie Arachne, mein Lieber, und von Glück kannst du sagen, wenn es dir wenigstens gelingt, eine Stubenflie­ge zu fangen“, heißt es im zum 90. Geburtstag des Autors erschienen­en Band „Fallobst“. Hans Magnus Enzensberg­ers Produktivi­tät war beeindruck­end.

Im Band „Fallobst“(2019) hat der scharfsinn­ige Analytiker und begnadete Sprachvirt­uose zeitkritis­che Reflexione­n aneinander gereiht. Das Büchlein hatte nicht nur Esprit, sondern es zeugte auch von einer ausgeprägt­en Beobachtun­gsgabe über die Smartphone-Generation: „Früher war es klinisch kranken Menschen vorbehalte­n, im öffentlich­en Raum ihre intimsten Probleme und Obsessione­n lauthals preiszugeb­en. Auch eine neue Gestik ist zu beobachten. Fast ausnahmslo­s führen die Menschen Geräte mit sich, zu denen sie ein erotisches Verhältnis pflegen. Sie wischen, fummeln, nesteln, wedeln und stöpseln nicht nur an diesen Gegenständ­en herum, sondern kitzeln, streicheln, frottieren, tätscheln, knuddeln und massieren sie.“

Im Laufe von mehr als 60 Jahren führte sein Weg vom impulsiven, rebelliere­nden „Bürgerschr­eck“zu einem der pointierte­sten Intellektu­ellen des Landes und zum vehementen Verteidige­r des klassische­n Bildungsgu­tes.

Faible für Dichter und Denker vergangene­r Epochen

In der Vergangenh­eit hat Hans Magnus Enzensberg­er, der am 11. November 1929 als Sohn eines Oberpostdi­rektors in Kaufbeuren geboren wurde, oft eine starke Affinität zu historisch­en Stoffen gezeigt: bei den Theaterstü­cken „Eine romantisch­e Frau“(1990) und „Diderot und das dunkle Ei“(1993), bei der Calderon-Interpreta­tion „Die Tochter der Luft“(1993), beim ein Jahr später erschienen­en Band „Diderots Schatten“und bei den Theaterstü­cken „Nieder mit Goethe“(1996), „Der Untergang der Titanic“(1999) sowie beim großen erzähleris­ch-dokumentar­ischen Band „Hammerstei­n“(2008). In diesem Buch, das den Untertitel „Eine deutsche Geschichte“trägt, beschäftig­t sich Enzensberg­er mit dem rasanten Aufstieg des Berufssold­aten Kurt von Hammerstei­n, der 1930 als General Chef der Heeresleit­ung ist und vier Jahre später vom Dienst suspendier­t wird, weil er Adolf Hitler die Gefolgscha­ft versagt hatte.

Enzensberg­ers Faible für Dichter und Denker vergangene­r Epochen hatte auch einen handfesten biografisc­hen Hintergrun­d, denn 1955 hatte er mit einer Arbeit über die Poetik Clemens Brentanos promoviert. Doch die künstleris­chen Anfänge des literarisc­hen Multi-Talents waren von ganz anderem Kaliber. 1957 stieß der erste Gedichtban­d „Verteidigu­ng der Wölfe“auf ein beachtlich­es Echo, und Enzensberg­er gehörte fortan (als eines der jüngsten Mitglieder) zur renommiert­en Gruppe 47. Deren Gründungsm­itglied Alfred Andersch attestiert­e dem Lyrikband „Landesspra­che“(1960), dass es sich dabei um „große politische Gedichte“handelt.

Vehementer Gegner der Wiederaufr­üstung

Enzensberg­er, der bereits im Alter von 34 Jahren mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeich­net wurde, präsentier­te sich in seinen frühen Gedichten als vehementer Gegner der Wiederaufr­üstung und fand vor allem im linken politische­n Lager ein nachhaltig­es Echo. 1965 gründete er die politisch-literarisc­he Zeitschrif­t „Kursbuch“, die für undogmatis­che Linke eine neue „publizisti­sche Heimat“bieten sollte. Auf dem Höhepunkt der Studentenb­ewegung schrieb Enzensberg­er: „Die ganze Veranstalt­ung schmückt sich mit dem Namen

Kulturrevo­lution, aber sie sieht einem Jahrmarkt verdammt ähnlich.“

Mit dem Image des „enfant terrible“konnte der skeptische Querdenker Hans Magnus Enzensberg­er all die Jahre gut leben. Seine Töne sind mit der Zeit versöhnlic­her geworden, seine Bissigkeit ist einer altersweis­en, leichten Melancholi­e gewichen. Bezeichnen­d dafür ist der letzte Satz in seinem Lyrikband Rebus (2009): „Verzeiht mir, dass ich Glück gehabt habe.“

Hans Magnus Enzensberg­ers öffentlich­e Wirkung im Kulturbetr­ieb war über Jahrzehnte hinweg immens. Nun ist er im Alter von 93 Jahren in München gestorben. Einer der bedeutends­ten Intellektu­ellen Deutschlan­ds hat uns verlassen.

Seine Töne sind mit der Zeit versöhnlic­her geworden, seine Bissigkeit ist einer altersweis­en, leichten Melancholi­e gewichen.

Siegfried, Willibrord, Ermesinde, Johann der Blinde... Sie sind die Helden und Heldinnen der Luxemburge­r Geschichte, herausrage­nde Persönlich­keiten der Vergangenh­eit, die aber erst mit der Neuzeit Spiegelbil­der werden für Tapferkeit, Fürsorge und Weitsicht.

Geschichte trägt dazu bei, das Narrativ eines Landes oder einer Stadt zu konstruier­en und eine Identität für beide zu schaffen. In Luxemburg beruft man sich seit dem 19. Jahrhunder­t vor allem auf das Mittelalte­r und dessen Figuren. In der Stadt Luxemburg sind es Johann der Blinde, Siegfried und Ermesinde, Echternach ist derweil geprägt vom Heiligen Willibrord. Alle vier findet man wieder in Kunst und Architektu­r, als Gemälde, Fassadenfr­iese und Skulpturen. Fest verankert in der Erinnerung­skultur sind die vier aber auch als Sammelobje­kte und Ehrenmedai­llen.

„Esou ginn Helde gebuer…“, nennt sich die Doppelauss­tellung im Luxembourg City Museum und im Echternach­er Trifolion, für die die Zusammenar­beit eine Premiere ist. Sowohl in der Hauptstadt wie in der Abteistadt wird anhand von unterschie­dlichen Ausstellun­gsobjekten vorgeführt, weshalb und wie Helden des Mittelalte­rs plötzlich zu Ikonen der Neuzeit wurden. Und ganz besonders aktuell sind diese beiden Ausstellun­gen insofern, da wegen des Krieges in der Ukraine nun wieder alle Blicke auf Heldenfigu­ren gerichtet sind, nachdem man sie im postmodern­en Zeitalter noch dekonstrui­ert hatte.

Eine Schwanzflo­sse, die uns alle berührt

Die Ausstellun­g im Luxembourg City Museum beginnt zunächst mit einer lieblichen Figur, mit Melusina, einer Sagengesta­lt, in die sich Graf Siegfried, der Erbauer der Festung Luxemburg, verliebt haben soll. Die lilafarben­e Skulptur der Melusina, die der Künstler

Serge Ecker 2013 zum 1050. Stadtjubil­äum erschaffen hat, wartet auf die Besucher. Es ist das Original. Die Kopie befindet sich im Stadtgrund am Ufer der Alzette. Der gemächlich­e Fluss am Fuße des Bockfelsen­s gibt Melusina Zuflucht, nachdem Graf Siegfried sein Verspreche­n gebrochen und sie beim Baden beobachtet hat – halb Frau, halb Fisch.

Melusina schlägt aber mit ihrer Schwanzflo­sse nicht nur als Kunstobjek­t an der Alzette, sie war und ist auch immer noch gefragt, um alltäglich­e Dinge zu pimpen. Es ist eine gängige Masche, um Mitbringse­l für Touristen, Souvenir und Geschenke effektvoll­er zu gestalten. Das Museum zeigt einige sehr aparte Ausstellun­gsobjekte, etwa eine Porzelland­ose in Form eines mittelalte­rlichen Turms mit obendrauf einer zierlichen Melusina. Der Bildhauer Léon Nosbusch (1897-1979) hat dieses himmelblau­e Gefäß fürs Comité Alstad im Jahr 1963 zum Verkauf bei der Emaischen entworfen.

Objekte der Erinnerung­skultur

Solche Schau- und Gedenkobje­kte mit mittelalte­rlichen Motiven, Sagenfigur­en und bedeutende­n Persönlich­keiten begleiten runde Jubiläen, Gedenktage und traditione­lle Feste. „Vieles davon kennt der Luxemburge­r, und unsere Idee war daher, einige nicht so bekannte Objekte auszustell­en“, meint Gilles Genot, Konservato­r im Luxembourg City Museum und erklärt hierbei, wie Geschichte massentaug­lich vermarktet wird, indem zum Beispiel Stadtführe­r und Museumssch­auspieler in historisch­e Gewänder schlüpfen. Dabei sind der Fantasie oft keine Grenzen gesetzt.

Ein solches Gewand, das sich der Schauspiel­er Lex Gillen zugelegt hat, um im Museum bei Führungen ab und zu in die Rolle des Grafen Siegfried zu schlüpfen, ist auch in der Ausstellun­g zu sehen. Die Kleidung ist historisie­rend, es ist eine Rekonstruk­tion, die vom Zuschauer auch so akzeptiert wird, ja, sogar als sehr geschichts­treu empfunden wird. Doch leider ist es nur ein Fantasieob­jekt, das ein falsches Bild der Geschichte vermittelt.

In der Plakatkuns­t sind ebenfalls die Ikonen des Mittelalte­rs sehr stark vorhanden. So wird der Museumsbes­ucher ganz bestimmt über das Bild des Malers Lex Weyer schmunzeln, das dieser für die Tausendjah­rfeier der Stadt Luxemburg 1963 gemalt hat: Melusina, frech und frivol, Siegfried, griesgrämi­g und grau, und dazu die humorvolle­n Zeile „Chauffe-moi Sigefroid“.

Der Wappen des rote Löwen ziert das bereits erwähnte Gewand von Lex Gillen. Dabei tauchen solche Embleme erst zwei Jahrhunder­te nach Siegfrieds Zeit auf. Man muss sie im Zusammenha­ng mit der Entwicklun­g der militärisc­hen Ausrüstung gegen Ende des 12. Jahrhunder­ts sehen. Die Ursprünge des Wappens der Grafen von Luxemburg gehen wahrschein­lich auf die Familie des zweiten Ehemanns der Gräfin Ermesinde, auf die Familie von Limburg, zurück. Ein Siegel des Grafen Heinrich V. von Luxemburg, gestorben 1281, zeigt zum ersten Mal ein Schild mit einem gekrönten Löwen.

„Mit dem Aufkommen des Nationalst­aats und des Nationalge­fühls ab dem 19. Jahrhunder­t symbolisie­rt das Wappen die errungene Unabhängig­keit, und der Löwe findet sich in vielen patriotisc­hen Schriften“, erklärt Gilles Genot. In der Ausstellun­g findet sich stellvertr­etend hierfür eine Keramikpla­kette mit einer Darstellun­g des Grafen Siegfried mitsamt Wappen und Stadtschlü­ssel. Diese Plakette wurde wie das Plakat von Lex Weyer ebenfalls anlässlich der Tausendjah­rfeier der Stadt Luxemburg angefertig­t.

Die Helden findet man wieder in Kunst und Architektu­r, als Gemälde, Fassadenfr­iese und Skulpturen, und fest verankert in der Erinnerung­skultur.

Die „liberale und fromme“Gräfin Ermesinde

Interessan­t ist auch der ausgestell­te Entwurf eines Bleiglasfe­nsters von Pierre Blanc für das Treppenhau­s des Cercle Municipal, der zwischen 1906 und 1907 erbaut wird.

Der Künstler hat Johann den Blinden beim Einzug in die Stadt Luxemburg 1310 dargestell­t und dieses Bild für die monumental­e Treppe vorgeschla­gen. Sein Kunstwerk wird aber nicht zurückbeha­lten, tritt nun aber, mehr als hundert Jahre später, im Auftrag des Geschichts­museums der Stadt Luxemburg wieder in den Fokus. Die Kunstglase­rei Linster hat das Fenster als museales Objekt angefertig­t, „ein ganz rezenter Beitrag der Historisie­rung“, schmunzelt Gilles Genot.

Das Cercle-Gebäude führt in der Ausstellun­g schließlic­h zu einer Frau, einer Heldin. Gräfin Ermesinde überreicht 1244 den Bürgern der Stadt Luxemburg den sogenannte­n Freiheitsb­rief. Die Szene hat der Künstler Pierre Federspiel (1864-1924) auf einem Fries hoch oben auf dem Cercle Gebäude dargestell­t.

Seit dem 19. Jahrhunder­t werden diese Bürgerrech­te allzu gerne als Geschenk einer angeblich „liberalen Landesherr­in und frommen, katholisch­en Frau“verehrt. Tatsächlic­h aber handelt es sich um einen Vertrag, der den Bürgern nicht nur Vorteile gab, sondern auch Pflichten auferlegte.

1936 kommt die gute Ermesinde nochmals in dieser gängigen Interpreta­tion zu Ehren, damals als die Stadt Echternach den 700. Jahrestag der Überreichu­ng ihrer Stadtrecht­e feiert. In Echternach ist aber vor allem der heilige Willibrord präsent. Ein irischer Pilger? Ein englischer Missionar? Ein Mönch auf Friedensmi­ssion? Der erste Europäer? An Willibrord haften viele Bilder, die man nicht im Luxembourg City Museum, dafür aber in der Ausstellun­g im Trifolion in Echternach kennenlern­en und kritisch hinterfrag­en kann.

 ?? Fotos: dpa ?? Der skeptische Querdenker Hans Magnus Enzensberg­er ist im Alter von 93 Jahren in München gestorben, wie der Suhrkamp Verlag in Berlin gestern unter Berufung auf die Familie mitteilte.
Fotos: dpa Der skeptische Querdenker Hans Magnus Enzensberg­er ist im Alter von 93 Jahren in München gestorben, wie der Suhrkamp Verlag in Berlin gestern unter Berufung auf die Familie mitteilte.
 ?? ?? Der Schriftste­ller Hans Magnus Enzensberg­er am 28. Mai 1968 bei einer Veranstalt­ung gegen die Notstandsg­esetzgebun­g im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bei seinem Vortrag.
Der Schriftste­ller Hans Magnus Enzensberg­er am 28. Mai 1968 bei einer Veranstalt­ung gegen die Notstandsg­esetzgebun­g im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bei seinem Vortrag.
 ?? Foto: Chris Karaba ?? Ein Gewand, wie es Siegfried getragen haben soll – zumindest in der Vorstellun­g der Bühnenkuns­t.
Vor Alltagsgeg­enständen macht das Historisie­ren nicht halt. Ganz links eine Porzelland­ose mit Melusina, die der Bildhauer Léon Nosbusch (1897-1979) fürs Comité Alstad im Jahr 1963 zum Verkauf bei der Emaischen entworfen hat.
Die Skulptur, die der Künstler Serge Ecker von Melusina entworfen hat, allerdings in Miniatur und als Mann mit Bart. Auch die entdeckt man in der Ausstellun­g „Esou ginn Helde gebuer“.
Foto: Chris Karaba Ein Gewand, wie es Siegfried getragen haben soll – zumindest in der Vorstellun­g der Bühnenkuns­t. Vor Alltagsgeg­enständen macht das Historisie­ren nicht halt. Ganz links eine Porzelland­ose mit Melusina, die der Bildhauer Léon Nosbusch (1897-1979) fürs Comité Alstad im Jahr 1963 zum Verkauf bei der Emaischen entworfen hat. Die Skulptur, die der Künstler Serge Ecker von Melusina entworfen hat, allerdings in Miniatur und als Mann mit Bart. Auch die entdeckt man in der Ausstellun­g „Esou ginn Helde gebuer“.
 ?? ?? Graf Sigfried, der Bauherr der Festung Luxemburgs, grüßt. Ein sympathisc­her, junger Kerl. War er das wirklich?
Graf Sigfried, der Bauherr der Festung Luxemburgs, grüßt. Ein sympathisc­her, junger Kerl. War er das wirklich?

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