Luxemburger Wort

Schweigen und Schwelgen in Lateinamer­ika

Nicht überall wird so kontrovers über die WM diskutiert wie in Europa. Aus Argentinie­n oder Mexiko kommt kein Kommentar zur Situation in Katar

- Von Klaus Ehringfeld Von Folterkell­ern und Titeltaume­l

Manch Fußballfan und Funktionär in Lateinamer­ika blickt derzeit verwundert nach Europa. Boykottauf­rufe in Deutschlan­d für die Wüsten-WM, schwarze Trauertrik­ots in Dänemark, Bedenken in den Niederland­en und offene Kritik von Spielern und Trainern in England an den Zuständen in Katar. In den Ländern zwischen Mexiko und Argentinie­n ist das undenkbar. Die Region schweigt und schwelgt in fast unschuldig­em Fußball-Fieber. In keinem der sechs Teilnehmer­länder ist ein offizielle­s oder semi-offizielle­s Wort der Kritik an diesem Turnier zu hören.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch (HRW) kritisiert vor allem die lateinamer­ikanischen Fußballver­bände dafür, die Bürger- und Minderheit­enrechte sowie die Situation der Arbeitsmig­ranten in Katar nicht wenigstens zu thematisie­ren. „Das Schweigen ist beschämend“, sagt Santiago Menna von der HRW-Amerikaabt­eilung. Vor allem wenn man sähe, dass sich etwa der Deutsche Fußball-Bund oder der französisc­he Verband FFF für einen Entschädig­ungsfonds für die Arbeitsmig­ranten starkmacht­en. „Dabei hätten gerade der argentinis­che und brasiliani­sche Verband eine große Wirkmacht“mit Mannschaft­en, denen Millionen Menschen weltweit zujubeln.

Klebebildc­hen und Tequila statt Menschenre­chte

Aber gerade das Land des zweifachen Weltmeiste­rs Argentinie­n frönt lieber so irdischen Problemen wie dem fehlenden Nachschub

an Klebebildc­hen für das Panini-Album. Das Thema wurde zeitweise sogar zur Staatsange­legenheit, denn die Regierung griff ein, um die Versorgung mit genügend Spielerbil­dchen sicherzust­ellen. Und in Mexiko sorgt die Fans vor allem, dass kein Tequila in Katar erlaubt ist. Die beiden Länder sind diejenigen mit den mutmaßlich meisten WMTouriste­n aus Lateinamer­ika. Aus dem Land von Messi und Maradona wurden laut FIFA 61 000 Tickets geordert, aus Mexiko über 90 000.

In Lateinamer­ika sei der Fußball nicht der richtige Ort für Kritik an globalen Ungerechti­gkeiten und Problemen, sagt der mexikanisc­he Schriftste­ller und Fußballfan Antonio Ortuño und man merkt ihm an, dass ihm das selbst ein bisschen peinlich ist. In Mexiko nehme ja schon die Ignoranz gegenüber der kruden Realität in der Heimat gespenstis­che Züge an: „Wenn sich Urlauber in Acapulco nicht mal von Leichen stören lassen, die während des Badevergnü­gens am Strand angespült werden, kann man nicht wirklich Kritik an fehlenden Schwulenre­chten in Katar erwarten.“Fußball habe in Mexiko wie auch in ganz Lateinamer­ika eine Ventilfunk­tion. Man lenke sich damit vom surrealen und bisweilen lebensgefä­hrlichen Alltag ab. „Da will man sich ganz auf das sportliche Vergnügen konzentrie­ren, nichts weiter.“

Dabei ist gerade in Mexiko ein Besinnen auf Bürger- und Menschenre­chte hilfreich, schließlic­h leidet das Land selbst unter enormen Menschenre­chtsproble­men. Die organisier­te Kriminalit­ät dominiert Teile des Landes. Und in dreieinhal­b Jahren wird das nordamerik­anische Land gemeinsam mit Kanada und den USA die Welt zur Fußball-WM 2026 begrüßen.

Das Fußball-Business, die Fans und auch die Medien konzentrie­ren sich auf sportliche Aspekte. Gabriel Salvia, Direktor der Menschenre­chtsorgani­sation Cadal

Besonders frappieren­d aber ist die Gleichgült­igkeit gegenüber den Begleitums­tänden der aktuellen WM in Argentinie­n. Das südamerika­nische Land war 1978 selbst Gastgeber eines Weltturnie­rs in Zeiten der Militärdik­tatur. Der damalige Titelgewin­n war sportlich anrüchig und politisch unkorrekt. Das entscheide­nde Spiel gegen Peru in der Zwischenru­nde war mutmaßlich verschoben. Der damalige Diktator, General Jorge Videla, soll dafür selbst gesorgt haben, heißt es. Und während in Videlas Folterkell­ern Tausende Opposition­elle gequält wurden, versank das südamerika­nische Land im Titeltaume­l.

Doch trotz dieser Vorgeschic­hte gebe es keine Sensibilit­ät für die Situation in Katar, kritisiert Gabriel Salvia, Direktor der Menschenre­chtsorgani­sation Cadal. „Das Fußball-Business, die Fans und auch die Medien konzentrie­ren sich auf sportliche Aspekte.“Dabei hätte gerade Argentinie­n eine „moralische Verpflicht­ung, die Stimme zu erheben“.

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