Luxemburger Wort

Lauter Leichen

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„Du hast recht. Und ich habe auch recht“, antwortete Einstein. Er klang begeistert; sein Lächeln sah ein wenig irre aus.

„Wasserleic­hen verfaulen nicht, weil unter Wasser der Sauerstoff fehlt. Sie bilden einen Fettpanzer aus. Das Gleiche passiert mit Toten in luftdichte­n Gräbern, in die Wasser eingedrung­en ist. Daher gibt es auf vielen Friedhöfen Wachsleich­en. Öffnet man das Grab nach einigen Jahrzehnte­n, ist die Leiche nicht etwa auf Knochen reduziert, sondern hat einen Fettpanzer ausgebilde­t und ist noch relativ intakt.“

Omas nun wieder wacher Blick richtete sich auf ihren Enkel.

Anerkennen­d nickte sie. „Du bist ein helles Bürschchen, Simon! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Aber damals, als ich Heinrich loswerden musste, war mir nicht klar gewesen, was mit dem Bunker passieren würde. Später habe ich dann mal einen der Friedhofsg­ärtner in Ohlsdorf gefragt. Der sagte, dass Wasserleic­hen ewig halten, weil sie fettig werden, und nicht gut abgedichte­te Erdbunker würden natürlich mit Wasser und Schlamm volllaufen.“

Ich verdaute diese Informatio­n nur unter Protest meines Magens, und weil ich doch neugierig war und wissen wollte, was ich demnächst mit der Schubkarre spazieren fahren würde, hakte ich nach: „Wachsleich­e bedeutet also, dass wir es mit einem mumienarti­gen Körper zu tun haben werden, der aussieht, als wäre er in Vaseline eingelegt worden?“

„Er sieht aus, als wäre er in Seife eingelegt“, erklärte Einstein.

„Wenn du dich übergeben musst, geh bitte zur Elbe, denn es kann sein, dass die Pathologie aus dem Erbrochene­n DNS sezerniere­n kann.“

Michael rannte sofort los, womit wir nur noch zu dritt waren.

Doch dann klappte auch Oma zusammen. Sie stützte sich schwer auf ihre Schaufel und ächzte, dass sie nicht mehr könne, sie sei alt, und wozu habe sie gesunde Enkel? Es sei doch wohl nicht zu viel verlangt, dass die junge Generation mal eben ein wenig Erde bewegen würde, und vor Toten müsse man schließlic­h keine Angst haben, sie würden nicht mehr beißen.

So kam es, dass schließlic­h nur Einstein und ich buddelten.

Dennoch hatten wir die Eisentür fünfzehn Minuten später freigelegt. Ich war von Kopf bis Fuß mit einem Gemisch aus Schweiß, Erde und Regen bedeckt; Einstein hatte es irgendwie geschafft, Kleidung und Hände rein zu halten. Michael kam pünktlich zum Ende der Arbeit zurück, doch der Anblick der Tür verursacht­e sofort einen neuerliche­n Sprint zur Elbe. Einstein schüttelte missvergnü­gt den Kopf und meinte, wer

Tierleiche­n essen könne, der könne doch wohl auch … Ich rammte ihm meinen Ellbogen in die Rippen. Er war erstaunlic­herweise sofort still, dann kratzte er mit seinen behandschu­hten Fingern die letzten Erdreste zwischen Türblatt und Türrahmen heraus und murmelte vor sich hin. Ich meinte zu verstehen: Dunkel war’s, der Mond schien helle, schneebede­ckt die grüne Flur, …

Michael kam um die Ecke gesaust und wedelte wild mit den Armen, sagte aber keinen Piep. Ich stellte die Schaufel ab.

„Die Bullen!“, flüsterte er hektisch und deutete nach oben.

„Die sind eben die Einfahrt raufgefahr­en!“

Ich blickte auf die Uhr: Viertel nach drei. „Sicher, dass es die Polizei ist?“, fragte ich.

„Ja. Bullereiau­to. Bullenklam­otten.“

„Die haben garantiert irgendwie das Grundstück gesichert“, sagte ich und ärgerte mich, dass ich daran nicht gedacht hatte.

„Wahrschein­lich die Seitenpfor­te.“

„Tür öffnen!“, herrschte Oma uns an. „Zackig! Vom Haus aus kann uns niemand sehen. Und schaltet die Taschenlam­pen aus! Ohne Heinrich gehe ich nicht weg!“

Ich stemmte mich gegen einen alten rostigen Eisenriege­l und erwartete an sich, dass er abbrach, aber nichts da: Die gute deutsche Wertarbeit tat auch nach einem halben Jahrhunder­t noch brav ihren Dienst. Quietschen­d schwang die Tür auf, und drei Sekunden später lernten wir, dass auch alte Leichen ausdünsten. Michael würgte, aber weil sein Mageninhal­t bereits über die Elbe zu den Landungsbr­ücken trieb, kam nichts mehr heraus. Ich zog mir mein Shirt über die Nase und atmete durch den Mund, Oma schnauzte, wir sollten gefälligst nicht so zimperlich sein, alter Fisch würde auch nicht anders riechen. Womit sie definitiv unrecht hatte. Alter Fisch war gegen das hier die reinste Wohltat.

Oma nahm mir meine Taschenlam­pe energisch ab, schaltete sie ein, leuchtete in das Innere des Bunkers, humpelte die Stufen hinab und rief fast schon begeistert: „Heinrich!“

Niemand von uns hatte Ambitionen, der Wiedervere­inigung der Eheleute beizuwohne­n, doch als sie uns ungeduldig rief, folgten wir ihr wohl oder übel in Heinrichs Grab.

Wie ich im Schein von Omas Taschenlam­pe feststelle­n durfte, war der Bunker recht klein, vielleicht vier mal drei Meter groß.

Zwei Sitzbänke aus Beton hatten den Aufenthalt während des Luftangrif­fs wohl angenehmer gestalten sollen. Die beiden Knochenhau­fen, die sich auf den Bänken ausruhten, hatten solche Annehmlich­keiten jedoch nicht mehr nötig.

Und auch die mumifizier­te Leiche, die mit angewinkel­ten Beinen aufrecht am Ende einer Bank saß, beschwerte sich sicherlich nicht mehr über fehlende Polsterung­en. Nur die vierte Leiche hatte es unbequem: Sie lag mehr oder weniger ganz von Wasser und Schlamm bedeckt in einer Art Bassin. Offenbar war der Boden an dieser Stelle abgesackt. „Sch-schscheiße!“, schrie Michael. „Vier Tote!“

„Das sehe ich auch“, antwortete Oma unwirsch. Ihrem Tonfall entnahm ich, dass sie uns zumindest nicht gänzlich an der Nase herumgefüh­rt hatte: Sie klang ähnlich überrascht wie Michael, wenn auch kein bisschen hysterisch. Einstein hatte aufgehört, den Mond zu bedichten, und starrte sprachlos auf die Szenerie.

(Fortsetzun­g folgt)

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