„Waffenlieferungen des Westens waren kriegsentscheidend“
Generalmajor Günter Hofbauer über die militärische Lage in der Ukraine und welche Kriegsziele eigentlich realistisch sind
HIMARS-Raketenwerfer aus den USA bei einer Militärübung in Jordanien.
Mit dem hereinbrechenden Winter befindet sich der Krieg in der Ukraine in einer Übergangsphase. Welche genau, erläutert Generalmajor Günter Hofbauer. Er ist einer der höchsten Offiziere des österreichischen Bundesheeres – und vor allem ein scharfer Beobachter der militärischen Lage in der Ukraine.
Günter Hofbauer, aus Russland gibt es permanente Drohungen, man könnte Nuklearwaffen einsetzen – auch taktische Nuklearwaffen. Wie hoch schätzen Sie dieses Risiko tatsächlich ein?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt halte ich den Einsatz von Atomwaffen für wenig wahrscheinlich. Erstens ist die Schwelle des erstmaligen Einsatzes eine sehr hohe. Und zweitens muss man bedenken, dass Staaten, die bisher nicht in Voll-Opposition zu Russland sind, wie zum Beispiel China, klargestellt haben, dass man sich keine atomare Eskalation wünscht. Hier muss man zwischen Botschaften nach innen, wo es darum geht, Stärke zu demonstrieren, und Botschaften nach außen, sowie der Realität unterscheiden. Bei einem Atomschlag gegen die USHauptstadt, wie er in extremer russischer Propaganda zuletzt gefordert wurde, reden wir nicht über taktische Atomwaffen, die auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden, da reden wir eher von einem Weltuntergangsszenario.
Hat die desaströse Performance der russischen Armee in der Ukraine da eine Wirkung? Sind die russischen Atomstreitkräfte denn im selben Zustand wie die regulären russischen Streitkräfte?
Die russische Armee hat immer darauf geachtet, dass die strategische Triade, also die strategischen Nuklearstreitkräfte, auf einem vernünftigen Stand der Technik gehalten wurden. Man sollte nicht darauf setzen, dass Russlands Atomstreitkräfte im selben Zustand
sind wie die reguläre russische Armee, dass das alles also nicht funktionieren würde.
Derzeit sagen alle Kriegsparteien, die Zeit arbeite für sie. Ist dem denn so? Und welchen Effekt wird da der Winter haben? Was ist ihre Prognose für die kommenden Monate?
Es wird mit dem Winter zunehmend schwierig, die logistische Sicherstellung der Einsatzführung zu gewährleisten. Wir befinden uns nun wohl am Übergang zu einer Phase, wo der Bewegungskrieg eher zu einer statischen Kriegsführung übergeht. Im Winter ist die Belastung der Truppe sehr hoch. In einer Situation, in der es 20 Grad minus ist, ist schon das Halten der Stellung eine Herausforderung. Die Soldaten werden krank. Das zehrt an der Kampfkraft. Da ist auf Wärmemöglichkeiten und ordentliche Verpflegung zu achten. Für die Erhaltung der Kampfkraft und der Moral ist das ein ganz wesentlicher Faktor.
Was hat es mit Belarus auf sich? Zuletzt wurden vermehrt Truppenbewegungen registriert. Auch von einer verdeckten Mobilisierung in Belarus ist die Rede. Ist das Ablenkung, um Truppen zu binden und damit ukrainische Offensiven im Osten und Süden zu bremsen, oder ist das eine reale Gefahr?
Man kann einen Angriff von Belarus aus sicher nicht gänzlich ausschließen. Wir haben im Februar 2022 bereits gesehen, dass Angriffe auf die Ukraine von belarussischem Gebiet ausgeführt wurden. Aber derzeit ist das vermutlich eher ein Signal: „Wir sind auch in eurem Rücken“. Die russische Armee hat ja auch Trainingskapazitäten an Belarus ausgelagert. In welcher Dimension das stattfindet, ist aber schwer einzuschätzen.
Welchen militärischen Wert haben mehrere Hunderttausend Rekruten ohne jegliche Kampferfahrung, mit niedriger Motivation und schlechter Ausrüstung?
Man sollte das nicht durch westliche Brillen sehen. Also vor allem die Nachrichten über veraltetes Gerät. Es gibt diese Fälle.
Aber in welchem Umfang? Hier traue ich mir keine endgültige Einschätzung zu. Es hat in der Anlaufphase der Mobilmachung in Russland sicher größere Schwierigkeiten gegeben, aber ich denke schon, dass diese Probleme gelöst wurden. Wie hoch die Motivation der Truppe ist, ist schwer zu sagen. Da geht es darum, eine zusammengehörige Kampfgemeinschaft mit einem gemeinsamen Feindbild zu bilden. Die Zeit dafür wäre vorhanden. Ich denke, in diesem Licht sollte man auch die russische Rhetorik und Aussagen zu einem „heiligen Krieg gegen einen Satan“einordnen.
Dieser Krieg ist gewissermaßen ja auch ein Wettstreit der Militärtechnik – und wie sich gezeigt hat, können ein halbes Dutzend Einheiten des Mehrfach-Raketenwerfers vom Typ HIMARS eine ganze russische Armee verlangsamen, stoppen und zurückdrängen. Wie kommt es, dass Russland in Sachen Militärtechnik so schlecht dasteht?
Wir sollten den langen Atem Russlands nicht unterschätzen. Russland hatte in der ersten Phase des Krieges massive Verluste, die sind nicht leicht auszugleichen. Auch im Bereich der Präzisionsmunition wird Russland vermutlich bald an das Ende der Verfügbarkeit gelangen. Auf der anderen Seite gibt es massive Reserven an herkömmlichem Militärgerät, das aus der Zeit der Sowjetunion stammt. Viel davon ist vermutlich in einem schlechten Zustand, aber wenn die Zeit genutzt wird, kann man funktionierende militärische Einheiten herstellen. Russland hat enorme Vorräte an mechanisierten Gerätschaften, die sich in Lagern befinden. Russlands Armee hat ca. 3 000 Kampfpanzer in Nutzung – und 10 000 auf Lager. Die sind sicher nicht alle einsatzbereit, aber sie lassen sich einsatzbereit machen. Aber freilich: Feuerleitsysteme, Nachtsichtgeräte sind da nicht auf einem modernen Stand. Ähnliches gilt auch für die Artillerie. Wir sollten aber beachten, dass mit der Mobilmachung auch die Mobilisierung der russischen Kriegsindustrie einhergegangen ist.
Welchen konkreten Einfluss auf den Kriegsverkauf haben denn die Waffenlieferungen aus dem Westen an die Ukraine?
Die Waffenlieferungen des Westens waren aus meiner Sicht für die Ukraine kriegsentscheidend. Erstens einmal, in der ersten Phase des Krieges, um sich zu verteidigen – zum Beispiel mit Panzer- und Fliegerabwehrwaffen. Und dann gab es wichtige Unterstützung durch Systeme, die aus ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten kamen – also Technik, welche die ukrainischen Soldaten kennen. Ohne Waffenlieferungen würde es die Ukraine, so wie es sie heute gibt, wohl nicht geben. Die Gegenoffensiven wären kaum möglich gewesen. Es ist vor allem auch die Hilfe
im Bereich der Kommunikation und auch was Informationen angeht: also beispielsweise Satellitenkommunikation und auch Aufklärungsergebnisse.
Ist ein Sieg der Ukraine realistisch? Oder anders gefragt: Ist ein Sieg Russlands in diesem Krieg noch möglich?
Die Frage ist, was Sieg bedeutet. Es gab ja schon eine Siegesfeier in Moskau. Und man muss schon sehen: Das von Russland in der Ukraine eroberte Gebiet ist so groß wie Österreich und die halbe Schweiz. Wenn die Ukraine sagt, das Ziel ist es, den Vorkriegsstatus herzustellen, also die Krim und den Osten zurückzuerobern, habe ich schon meine Zweifel. Da hat sich Präsident Selenskyj sehr klar festgelegt. Unmöglich ist das nicht, aber doch eher wenig wahrscheinlich. Im Süden hat sich Russland jetzt hinter den Dnjepr zurückgezogen, das ist eine relativ komfortable Lage.
Und auf die Verteidigung des Nordens dieses Gebiets werden sich die russischen Streitkräfte auch entsprechend vorbereiten.
Ist ein Sieg der Ukraine realistisch ohne Angriffe auf russisches Staatsgebiet – in Anbetracht von Angriffen auf die Region Belgorod?
Das geht. Es würde aus militärischer Sicht Sinn machen, nach Süden vorzustoßen und die russische Front wieder zu teilen – wenn ausreichend Kräfte zur Verfügung stehen. Man muss keine Bewegung über das Staatsgebiet der Russischen Föderation machen. Ich denke, die Ukraine wird sich davor auch hüten. Die westliche Unterstützung in diesem Zusammenhang dürfte auch an Bedingungen geknüpft sein. Und die Angriffe auf Belgorod: Die wurden von ukrainischer Seite nicht offiziell bestätigt.
Russland hat im Zuge dieses Krieges mehrmals die Ziele geändert: Vom Ziel, die ganze Ukraine zu zerschlagen, über den Plan, das linke Ufer des Dnjepr zu erobern bis zum Ziel, die Oblaste Donezk und Luhansk oder die annektierten Gebiete zu halten. Ebenso bei den Kriegsgründen: Von der Entnazifizierung zur Entsatanisierung. Was ist ihrer Ansicht nach jetzt Russlands Ziel in der Ukraine?
Ich denke, dass das eigentliche Ziel, an das Putin im Februar gedacht hat, nicht verschwunden ist, sondern dass er sich jetzt nur damit zufriedengeben muss. Zu verhindern, dass die Ukraine nicht NATO- und EU-Mitglied wird, sind sicher nach wie vor russische Ziele und ich bin auch überzeugt davon, dass Russland diese Ziele mittelfristig weiterhin verfolgen wird. Während sich die strategisch-politischen Ziele nicht geändert haben dürften, haben sich die aktuell erreichbaren militärischen Ziele geändert.
Also ein Waffenstillstand wäre zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr als eine Atempause für Russland?
Das teile ich 100-prozentig. Es gibt dahingehend ja auch sehr gute Beispiele mit den Minsker Abkommen, wo letztlich nichts gehalten hat. Wir sind mitten in der heißen Phase eines hybrid geführten Krieges, wo aber grundsätzlich alle Instrumente der Macht genutzt werden, und gewählt wird, was gerade passend ist. Momentan sind die militärischen Mittel präsenter, aber man sollte nicht vergessen, was im Vorfeld dieser Invasion passiert ist: Giftanschläge, Wahlbeeinflussungen, Hackerangriffe, usw . ... Ich sehe da momentan keine Normalisierung der Lage am Horizont.