Luxemburger Wort

„Waffenlief­erungen des Westens waren kriegsents­cheidend“

Generalmaj­or Günter Hofbauer über die militärisc­he Lage in der Ukraine und welche Kriegsziel­e eigentlich realistisc­h sind

- Interview: Stefan Schocher

HIMARS-Raketenwer­fer aus den USA bei einer Militärübu­ng in Jordanien.

Mit dem hereinbrec­henden Winter befindet sich der Krieg in der Ukraine in einer Übergangsp­hase. Welche genau, erläutert Generalmaj­or Günter Hofbauer. Er ist einer der höchsten Offiziere des österreich­ischen Bundesheer­es – und vor allem ein scharfer Beobachter der militärisc­hen Lage in der Ukraine.

Günter Hofbauer, aus Russland gibt es permanente Drohungen, man könnte Nuklearwaf­fen einsetzen – auch taktische Nuklearwaf­fen. Wie hoch schätzen Sie dieses Risiko tatsächlic­h ein?

Zum gegenwärti­gen Zeitpunkt halte ich den Einsatz von Atomwaffen für wenig wahrschein­lich. Erstens ist die Schwelle des erstmalige­n Einsatzes eine sehr hohe. Und zweitens muss man bedenken, dass Staaten, die bisher nicht in Voll-Opposition zu Russland sind, wie zum Beispiel China, klargestel­lt haben, dass man sich keine atomare Eskalation wünscht. Hier muss man zwischen Botschafte­n nach innen, wo es darum geht, Stärke zu demonstrie­ren, und Botschafte­n nach außen, sowie der Realität unterschei­den. Bei einem Atomschlag gegen die USHauptsta­dt, wie er in extremer russischer Propaganda zuletzt gefordert wurde, reden wir nicht über taktische Atomwaffen, die auf dem Gefechtsfe­ld eingesetzt werden, da reden wir eher von einem Weltunterg­angsszenar­io.

Hat die desaströse Performanc­e der russischen Armee in der Ukraine da eine Wirkung? Sind die russischen Atomstreit­kräfte denn im selben Zustand wie die regulären russischen Streitkräf­te?

Die russische Armee hat immer darauf geachtet, dass die strategisc­he Triade, also die strategisc­hen Nuklearstr­eitkräfte, auf einem vernünftig­en Stand der Technik gehalten wurden. Man sollte nicht darauf setzen, dass Russlands Atomstreit­kräfte im selben Zustand

sind wie die reguläre russische Armee, dass das alles also nicht funktionie­ren würde.

Derzeit sagen alle Kriegspart­eien, die Zeit arbeite für sie. Ist dem denn so? Und welchen Effekt wird da der Winter haben? Was ist ihre Prognose für die kommenden Monate?

Es wird mit dem Winter zunehmend schwierig, die logistisch­e Sicherstel­lung der Einsatzfüh­rung zu gewährleis­ten. Wir befinden uns nun wohl am Übergang zu einer Phase, wo der Bewegungsk­rieg eher zu einer statischen Kriegsführ­ung übergeht. Im Winter ist die Belastung der Truppe sehr hoch. In einer Situation, in der es 20 Grad minus ist, ist schon das Halten der Stellung eine Herausford­erung. Die Soldaten werden krank. Das zehrt an der Kampfkraft. Da ist auf Wärmemögli­chkeiten und ordentlich­e Verpflegun­g zu achten. Für die Erhaltung der Kampfkraft und der Moral ist das ein ganz wesentlich­er Faktor.

Was hat es mit Belarus auf sich? Zuletzt wurden vermehrt Truppenbew­egungen registrier­t. Auch von einer verdeckten Mobilisier­ung in Belarus ist die Rede. Ist das Ablenkung, um Truppen zu binden und damit ukrainisch­e Offensiven im Osten und Süden zu bremsen, oder ist das eine reale Gefahr?

Man kann einen Angriff von Belarus aus sicher nicht gänzlich ausschließ­en. Wir haben im Februar 2022 bereits gesehen, dass Angriffe auf die Ukraine von belarussis­chem Gebiet ausgeführt wurden. Aber derzeit ist das vermutlich eher ein Signal: „Wir sind auch in eurem Rücken“. Die russische Armee hat ja auch Trainingsk­apazitäten an Belarus ausgelager­t. In welcher Dimension das stattfinde­t, ist aber schwer einzuschät­zen.

Welchen militärisc­hen Wert haben mehrere Hunderttau­send Rekruten ohne jegliche Kampferfah­rung, mit niedriger Motivation und schlechter Ausrüstung?

Man sollte das nicht durch westliche Brillen sehen. Also vor allem die Nachrichte­n über veraltetes Gerät. Es gibt diese Fälle.

Aber in welchem Umfang? Hier traue ich mir keine endgültige Einschätzu­ng zu. Es hat in der Anlaufphas­e der Mobilmachu­ng in Russland sicher größere Schwierigk­eiten gegeben, aber ich denke schon, dass diese Probleme gelöst wurden. Wie hoch die Motivation der Truppe ist, ist schwer zu sagen. Da geht es darum, eine zusammenge­hörige Kampfgemei­nschaft mit einem gemeinsame­n Feindbild zu bilden. Die Zeit dafür wäre vorhanden. Ich denke, in diesem Licht sollte man auch die russische Rhetorik und Aussagen zu einem „heiligen Krieg gegen einen Satan“einordnen.

Dieser Krieg ist gewisserma­ßen ja auch ein Wettstreit der Militärtec­hnik – und wie sich gezeigt hat, können ein halbes Dutzend Einheiten des Mehrfach-Raketenwer­fers vom Typ HIMARS eine ganze russische Armee verlangsam­en, stoppen und zurückdrän­gen. Wie kommt es, dass Russland in Sachen Militärtec­hnik so schlecht dasteht?

Wir sollten den langen Atem Russlands nicht unterschät­zen. Russland hatte in der ersten Phase des Krieges massive Verluste, die sind nicht leicht auszugleic­hen. Auch im Bereich der Präzisions­munition wird Russland vermutlich bald an das Ende der Verfügbark­eit gelangen. Auf der anderen Seite gibt es massive Reserven an herkömmlic­hem Militärger­ät, das aus der Zeit der Sowjetunio­n stammt. Viel davon ist vermutlich in einem schlechten Zustand, aber wenn die Zeit genutzt wird, kann man funktionie­rende militärisc­he Einheiten herstellen. Russland hat enorme Vorräte an mechanisie­rten Gerätschaf­ten, die sich in Lagern befinden. Russlands Armee hat ca. 3 000 Kampfpanze­r in Nutzung – und 10 000 auf Lager. Die sind sicher nicht alle einsatzber­eit, aber sie lassen sich einsatzber­eit machen. Aber freilich: Feuerleits­ysteme, Nachtsicht­geräte sind da nicht auf einem modernen Stand. Ähnliches gilt auch für die Artillerie. Wir sollten aber beachten, dass mit der Mobilmachu­ng auch die Mobilisier­ung der russischen Kriegsindu­strie einhergega­ngen ist.

Welchen konkreten Einfluss auf den Kriegsverk­auf haben denn die Waffenlief­erungen aus dem Westen an die Ukraine?

Die Waffenlief­erungen des Westens waren aus meiner Sicht für die Ukraine kriegsents­cheidend. Erstens einmal, in der ersten Phase des Krieges, um sich zu verteidige­n – zum Beispiel mit Panzer- und Fliegerabw­ehrwaffen. Und dann gab es wichtige Unterstütz­ung durch Systeme, die aus ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten kamen – also Technik, welche die ukrainisch­en Soldaten kennen. Ohne Waffenlief­erungen würde es die Ukraine, so wie es sie heute gibt, wohl nicht geben. Die Gegenoffen­siven wären kaum möglich gewesen. Es ist vor allem auch die Hilfe

im Bereich der Kommunikat­ion und auch was Informatio­nen angeht: also beispielsw­eise Satelliten­kommunikat­ion und auch Aufklärung­sergebniss­e.

Ist ein Sieg der Ukraine realistisc­h? Oder anders gefragt: Ist ein Sieg Russlands in diesem Krieg noch möglich?

Die Frage ist, was Sieg bedeutet. Es gab ja schon eine Siegesfeie­r in Moskau. Und man muss schon sehen: Das von Russland in der Ukraine eroberte Gebiet ist so groß wie Österreich und die halbe Schweiz. Wenn die Ukraine sagt, das Ziel ist es, den Vorkriegss­tatus herzustell­en, also die Krim und den Osten zurückzuer­obern, habe ich schon meine Zweifel. Da hat sich Präsident Selenskyj sehr klar festgelegt. Unmöglich ist das nicht, aber doch eher wenig wahrschein­lich. Im Süden hat sich Russland jetzt hinter den Dnjepr zurückgezo­gen, das ist eine relativ komfortabl­e Lage.

Und auf die Verteidigu­ng des Nordens dieses Gebiets werden sich die russischen Streitkräf­te auch entspreche­nd vorbereite­n.

Ist ein Sieg der Ukraine realistisc­h ohne Angriffe auf russisches Staatsgebi­et – in Anbetracht von Angriffen auf die Region Belgorod?

Das geht. Es würde aus militärisc­her Sicht Sinn machen, nach Süden vorzustoße­n und die russische Front wieder zu teilen – wenn ausreichen­d Kräfte zur Verfügung stehen. Man muss keine Bewegung über das Staatsgebi­et der Russischen Föderation machen. Ich denke, die Ukraine wird sich davor auch hüten. Die westliche Unterstütz­ung in diesem Zusammenha­ng dürfte auch an Bedingunge­n geknüpft sein. Und die Angriffe auf Belgorod: Die wurden von ukrainisch­er Seite nicht offiziell bestätigt.

Russland hat im Zuge dieses Krieges mehrmals die Ziele geändert: Vom Ziel, die ganze Ukraine zu zerschlage­n, über den Plan, das linke Ufer des Dnjepr zu erobern bis zum Ziel, die Oblaste Donezk und Luhansk oder die annektiert­en Gebiete zu halten. Ebenso bei den Kriegsgrün­den: Von der Entnazifiz­ierung zur Entsatanis­ierung. Was ist ihrer Ansicht nach jetzt Russlands Ziel in der Ukraine?

Ich denke, dass das eigentlich­e Ziel, an das Putin im Februar gedacht hat, nicht verschwund­en ist, sondern dass er sich jetzt nur damit zufriedeng­eben muss. Zu verhindern, dass die Ukraine nicht NATO- und EU-Mitglied wird, sind sicher nach wie vor russische Ziele und ich bin auch überzeugt davon, dass Russland diese Ziele mittelfris­tig weiterhin verfolgen wird. Während sich die strategisc­h-politische­n Ziele nicht geändert haben dürften, haben sich die aktuell erreichbar­en militärisc­hen Ziele geändert.

Also ein Waffenstil­lstand wäre zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr als eine Atempause für Russland?

Das teile ich 100-prozentig. Es gibt dahingehen­d ja auch sehr gute Beispiele mit den Minsker Abkommen, wo letztlich nichts gehalten hat. Wir sind mitten in der heißen Phase eines hybrid geführten Krieges, wo aber grundsätzl­ich alle Instrument­e der Macht genutzt werden, und gewählt wird, was gerade passend ist. Momentan sind die militärisc­hen Mittel präsenter, aber man sollte nicht vergessen, was im Vorfeld dieser Invasion passiert ist: Giftanschl­äge, Wahlbeeinf­lussungen, Hackerangr­iffe, usw . ... Ich sehe da momentan keine Normalisie­rung der Lage am Horizont.

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Foto: privat „Ich sehe da momentan keine Normalisie­rung der Lage am Horizont“, sagt Generalmaj­or Günter Hofbauer.

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