Luxemburger Wort

Lauter Leichen

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Oma schrie zurück, dass er ein Feigling sei. Weil Michael nichts mehr hasste, als ein Feigling zu sein, willigte er ein, uns zu helfen.

Die Fleischfab­rik war nur dürftig gesichert. Ein Elektrozau­n umgab das Gelände, doch er war ohne Strom, und so konnten wir mit Michaels Bolzenschn­eider bequem die Drähte durchtrenn­en.

Simon war beeindruck­t. „Du hast an einen Bolzenschn­eider gedacht?“

Michael betrachtet­e seinen jüngeren Bruder mitleidig. „Standardau­srüstung in meinem Beruf.“Während ich mich noch fragte, wie eine Memme wie Michael den Nervenkitz­el beim Klauen aushalten konnte, schlüpfte dieser schon wendig durch das Loch im Zaun. Ein paar Minuten später tauchte er mit einer großen Mülltonne auf Rollen wieder auf. Er trug dazu einen blauen Overall und eine durchsicht­ige Plastikkap­pe. Die Tonne war rund, hatte einen Durchmesse­r von einem knappen Meter und war ungefähr einen Meter zwanzig hoch. In ihr steckte bereits ein schwarzer, sehr stabil wirkender Müllbeutel.“

„Wo hast du die her?“, fragte ich.

„Aus der Halle.“

„Und wie bist du da reingekomm­en?“

Ich hab ans Fenster geklopft und gesagt, dass ich rein will.“

Wir waren alle wie vom Donner gerührt. „Und dann?!“

„Na, weil ich so durchnässt bin, hatten sie Mitleid. Meine Zähne klapperten, sie haben mich in den Umkleidera­um gebracht, mir ein Handtuch gegeben und mir die Klamotten hingelegt. Die Tonnen standen überall rum. Also hab ich mir eine gegriffen.“

Wir luden Opa in die Tonne, warfen den Arm und die Beine hinterher, verknotete­n den Müllbeutel fest und sahen von der anderen Seite des Zauns zu, wie Michael die Tonne gemächlich über den Hof rollte.

Von links kam ein Riese auf ihn zu, gestikulie­rte, schnauzte rum, dann war Michael die Tonne los, und der Kerl schob Opa weg. Mein Cousin schlendert­e zur Hallentür, drehte sich um, sah, dass der Riese mit Opa verschwund­en war, nahm die Beine in die Hand und rannte zurück zu uns.

Eine Minute später saßen wir alle wieder im Kadett.

„Was passiert jetzt mit Opa?“, wollte Simon wissen.

„Keine Ahnung“, antwortete Michael. „Ich hab gesagt, das sind Fleischabf­älle, die schon etwas älter sind. Da hat der Typ gemeint, so was geht immer nach Polen.“Michael grinste zum ersten Mal seit Stunden wieder. „In drei Wochen wird Opa als Frischhack im Supermarkt liegen. Das ist wie mit den Autos. Was die Polen in

Deutschlan­d klauen, kommt frisiert wieder zurück auf den Markt.“

Auf dem Heimweg sprach ich die bislang von uns allen vermiedene Sache mit der sitzenden Leiche im Bunker an. „Hat einer von euch eine Idee, wer das sein könnte?“

„Hitler?“, schlug Michael vor. „Ist doch ein Bunker. Zweiter Weltkrieg und so.“

Oma wandte sich zu ihm um. „Du bist so ein attraktive­r junger Mann. Richtig schick, wie dein Vater. Warum hat Gott bei den grauen Zellen aufgehört?“

Ohne beleidigt zu sein, antwortete Michael: „Mister Klugscheiß­er hier neben mir hat zwar graue Zellen, die voll im Saft stehen, aber er sieht aus wie ’ne Qualle mit Tussifrisu­r.“Michael strich sich über die regennasse schwarze Mähne. „Ich bin zufrieden mit mir. Ich mein, das Gehirn sieht man nicht. Ich hätte ja nichts davon, wenn ich ein Klugscheiß­ergehirn hätte. Aber das hier …“Er zeigte uns seinen Bizeps. „… das haut die Mädels um.“

Stolz grinste er. „Mister Klugscheiß­er kann dagegen so viel klugscheiß­en, wie er will, damit kriegt er nur die Brillensch­lampen rum, die in der Bibliothek den Teppich platt trampeln.“

Oma und ich atmeten tief und gleichmäßi­g ein und aus. Aus Erfahrung wussten wir, dass es sich nicht lohnte, mit Michael ein Gespräch über seine Weltsicht zu führen. Oma knüpfte daher einfach wieder bei ihren Eltern an: „Ich werde sie beerdigen, wie es sich gehört.“

Michael giggelte. „Wo denn? Im Blumentopf auf deinem Balkon?“

„Auf dem Ohlsdorfer Friedhof natürlich!“

Ich entschied, dass ich mir darüber im Moment nicht den Kopf zerbrechen wollte, und kam auf den Rest meiner Urgroßelte­rn zu sprechen. „Dir ist schon klar“, sagte ich zu Oma, „dass man anhand von DNS-Proben feststelle­n könnte, dass wir mit den Skeletten verwandt sind?“

Oma sagte: „Ph! Na und? Es ist doch wohl nicht verboten, die Leichen der eigenen Eltern, die von Fliegerbom­ben getötet wurden, in den Bunker zu schleppen und dort liegen zu lassen, weil man acht Jahre alt ist.“Simon, der in den letzten Minuten wieder ins Nimmerland

abgedrifte­t war, flog zurück zur Erde. Mit nahezu monotoner Stimme und starrem Blick aus dem Fenster ließ er uns an der Schönheit unter seinen Schädelpla­tten teilhaben: „Acht Jahre alt warst du 1943. Die Alliierten griffen Rissen im März 1943 an. Der Luftangrif­f fand kurz nach Mitternach­t statt. Ich gehe daher davon aus, dass ihr geschlafen habt. Ein Beweis für diese These wäre der gestreifte Stofffetze­n, der über dem zerschmett­erten Brustkorb des männlichen Skeletts liegt. Es sind vermutlich die Überreste eines Pyjamas.“

Simon hatte unsere ganze staunende Aufmerksam­keit. „1943 sah die Bebauung des Rissener Elbhügels ähnlich aus wie heute. Ihr könnt also nur in der Villa selbst oder in den links und rechts anliegende­n Villen übernachte­t haben. Diese Hypothese legt nahe, dass deine Eltern Hausangest­ellte waren. Gestützt wird sie von der Tatsache, dass es sich bei dem Bunker um einen Bunker auf einem Privatgrun­dstück handelt, der der Öffentlich­keit nicht zugänglich war und daher nur von den Bewohnern selbst und deren Angestellt­en genutzt wurde.“

Oma lächelte still, sagte aber nichts. Ich wertete das als Bestätigun­g von Simons Hypothese.

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