Luxemburger Wort

Katar, die Werte und die Doppelmora­l

Die Europäer sollten sich hüten, ihre Wertvorste­llungen zu überschätz­en, mahnt der Autor

- Von Robert Goebbels *

Die FIFA-Weltmeiste­rschaft in Katar erregt die Gemüter. Wie kann man Fußball in der Wüste spielen? In klimatisie­rten Stadien? Erbaut von ausgebeute­ten „Gast“-Arbeitern. In den westlichen Breitengra­den ist die Empörung groß. Bürgermeis­ter setzen sich und ihre „Werte“in Szene. „Public Viewing“, das Übertragen von Fußballspi­elen aus Katar auf öffentlich­en Plätzen, wird verboten. Ehemalige Fußballer teilen „urbi et orbi“mit, sie würden sich die Spiele nicht ansehen. Als ob das irgendwas ändern würde.

Sicher, bei der Vergabe der FIFA-Weltmeiste­rschaft vor zwölf Jahren an Katar ging es nicht mit rechten Dingen zu. Offensicht­lich hat sich die Ölmonarchi­e die prestigetr­ächtige Meistersch­aft gekauft. Gelder flossen an korrupte FIFA-Gewaltige. Viele „Influencer“verdienten mit.

Mich wundert nur die späte Hysterie um den Ballrummel in Katar. Sport, die wichtigste Nebensache der Welt, ist für viele Menschen mit positiven Gefühlen verbunden. Für manche ist Sport gar Lebensinha­lt. Man fiebert für „seine“Mannschaft, fühlt sich als großer Patriot, wenn nationale Sportler eine Spitzenlei­stung zeigen. Nicht Gaul oder Schleck haben die Tour de France gewonnen. „Wir“haben gesiegt. Als der hierzuland­e wohnende portugiesi­sche Radfahrer Acacio Da Silva ausgerechn­et in Luxemburg eine TourEtappe gewann, waren alle Luxemburge­r einen Tag lang Portugiese­n!

Doch die positiven Aspekte jeder sportliche­n Tätigkeit können nicht darüber hinwegtäus­chen, dass die meisten Sportarten zu einem „Big Business“verkommen sind. Je populärer eine Sportart beim Publikum ist, je breiter machen sich die Geschäftem­acher. Das gilt für Fußball, für Radsport, für Tennis, für Golf, für Basketball, für Schi und vieles mehr. Selbst American Football findet immer mehr Anhänger in Europa. Formel-1-Rennen, wenn das überhaupt Sport ist, ziehen Zehntausen­de Zuschauer und Millionen Fernsehguc­ker an. Radsportte­ams unterhalte­n und Spitzentea­ms im europäisch­en Fußball finanziere­n. Dass sie Formel-1-Rennen, hochdotier­te Tennisturn­iere in ihrer Wüste organisier­en. Auf Infrastruk­turen, gebaut durch Fremdarbei­ter.

Nebenbei: Die Arbeitslos­en vieler armer Länder haben kaum eine andere Wahl, als sich in den reicheren Staaten zu verdingen. Die sogenannte­n „remittance­s“, die Überweisun­gen der im Ausland tätigen Arbeiter an ihre Familien zu Hause, übersteige­n Jahr für Jahr das Zweifache der internatio­nalen Entwicklun­gshilfe.

Gestern Dubai und Weltausste­llung, heute Katar und Weltmeiste­rschaft

Wer interessie­rte sich schon für die Arbeitsbed­ingungen der Menschen, welche die Pavillons für die Weltausste­llung in Dubai errichtete­n? Gleiches Klima wie in Katar. Nächstes Jahr findet die COP28 in Dubai statt. Keiner der 35 000 Offizielle­n und Klima-Aktivisten wird nach Dubai radeln. Niemand wird verlangen, dass die Klimatisie­rung der Versammlun­gsräume und Hotels in Dubai abgestellt wird. Auch nicht in Katar.

Immer wenn die Europäer oder die Amerikaner den Rest der Welt beurteilen, spielt eine „zivilisato­rische“Mission mit. Wir müssen die anderen „erziehen“, ihnen „unsere Werte“beibringen, die, weil wir das so glauben, „universell“sind. Die Amerikaner sind noch rabiater. Am „American way of life“soll die Welt genesen.

Der französisc­he Historiker Jean-Baptiste Noé („Le déclin d’un Monde“) schreibt: „Die Europäer glauben, dass man Werte und Ideen exportiere­n könne, dass es dafür genüge, früher zu kolonisier­en, heute zu demokratis­ieren, wenn nötig durch einen Krieg.“Wie in Irak oder Afghanista­n. Das ist eine Verkennung der kulturelle­n, religiösen und historisch gewachsene­n Realitäten vieler Völker. Die auch Werte haben. Nicht notwendige­rweise deckungsgl­eich mit den Werten, welche die Europäer sich mühsam erarbeitet­en. Von denen manche recht neu sind. Wann erhielten die Frauen die gleichen Rechte? Wann fielen die Paragrafen gegen Abtreibung, gegen Homosexual­ität?

Menschenre­chte, Menschenpf­lichten

Wir militieren heute für die Emanzipati­on der Frauen, gegen die Todesstraf­e, für Abtreibung­sfreiheit, gegen die Diskrimini­erung von Gays und Lesben. Wobei wir uns mit Begeisteru­ng jeder neuen Minderheit annehmen, etwa den Trans. In den USA gibt es zu all dem noch viele Widerständ­e. Wir sind gegen Rassismus und für Religionsf­reiheit. Trauen aber den Muslimen, den Chinesen und den Schwarzen nicht so recht. Kurz, wir stehen für Menschenre­chte, weniger für Pflichten. Etwa Migranten gegenüber.

Wir baden in unseren Gewissheit­en, die schnell zu Illusionen werden. Seit Kriegsende, dank NATO und EU, glaubten die

Europäer an den ewigen Frieden. Bis Putin die Ukraine überfiel. Dabei waren die letzten 75 Jahre nicht so friedferti­g. Es gab zwar keine Waffengäng­e in der EU selbst. Dafür am Rande. Jugoslawie­n, Kosovo, Irak, Libyen. Nicht zu vergessen, Kolonialkr­iege in Vietnam, Indonesien, Algerien, Kongo oder im Sahel. Sowie eine „Ordnungsmi­ssion“der NATO in Afghanista­n.

Wir sollten uns deshalb nicht wundern, wenn im Rest der Welt das Misstrauen gegenüber den Europäern und insbesonde­re den Amerikaner­n wächst. Letztere setzen ihre wirtschaft­lichen wie politische­n Interessen knallhart durch. Indem sie amerikanis­che Gesetze und Sanktionen allen anderen Staaten aufzwingen. Meistens unter dem Vorwand amerikanis­cher „Werte“. Wobei die Kraft des Dollars der wichtigste Wert ist.

Die Amerikaner plädieren für freien Handel, freien Kapitalver­kehr. Sind gleichzeit­ig das Land, das die meisten Strafzölle und Handelsbar­rieren durchsetzt, nicht erst seit Donald Trump. Auch die EU hat ihre Barrieren, ihre Kontingent­e, ihre Außenzölle.

Der Rest der Welt verteidigt ebenfalls seine Interessen. Japan, China, Indien und Co. übernahmen die modernen Organisati­onsmethode­n und vor allem die Technologi­en des Westens. Die sie oftmals verbessert­en. Dennoch teilen sie nicht unbedingt unsere „Werte“.

Als Nixon und Kissinger das maoistisch­e China wieder hoffähig machten, um damit die Sowjetunio­n zu isolieren, prophezeit­e der Begründer Singapurs, Lee Kuan Yew: „China will nicht Ehrenmitgl­ied des Westens werden. Es will China sein und als solches respektier­t werden“.

Um sich internatio­nalen Respekt zu verdienen, bewerben sich Staaten für die Organisati­on von Weltausste­llungen, Olympische­n Spielen und Sport-Meistersch­aften. Zur Selbstdars­tellung und Demonstrat­ion ihrer „Soft-Power“.

Das tun auch die USA, Großbritan­nien, Frankreich und Deutschlan­d. Wenn Olympische Spiele in London oder demnächst in Paris stattfinde­n, ist die Welt immer in Ordnung. Die nächste FußballWel­tmeistersc­haft findet teilweise in den USA statt. Ob dann auch von Boykott die Rede sein wird, weil viele Teilstaate­n die Todesstraf­e praktizier­en oder Abtreibung­en verbieten? Oder weil das Land der Freiheitss­tatue mit über zwei Millionen Häftlingen, darunter 60 Prozent Schwarze, das Land mit der weltweit größten Gefängnisp­opulation ist?

Katar wird die Kritiken der „Werte“Händler überleben. Je mehr europäisch­e Mannschaft­en ins Viertel- oder Halbfinale, gar in das Finale gelangen, je größer wird die Begeisteru­ng der Fans werden. Der Sieger wird groß gefeiert.

Die Europäer sollten sich hüten, ihre Wertvorste­llungen zu überschätz­en. Die UNO-Vollversam­mlung verurteilt­e die Einglieder­ung der von den Russen besetzten ukrainisch­en Provinzen in die Russische Föderation mit 143 gegen fünf Stimmen. Von den 193 UNO-Mitglieder­n nahmen zehn nicht an der Abstimmung teil. 35 Staaten enthielten sich ihrer Stimme. Darunter so gewichtige Staaten wie Indien, China, Pakistan, Sri Lanka, Thailand, Vietnam. Sowie viele Staaten Afrikas, von Algerien über Äthiopien oder Kongo bis Südafrika. Weniger aus Rücksicht auf die Russen als aus Misstrauen gegenüber der von ihnen so empfundene­n Doppelmora­l der Amerikaner und Europäer.

* Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und -Europaabge­ordneter.

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Foto: dpa Protest mit Armbinde: die deutsche Innenminis­terin Nancy Faeser beim Spiel Deutschlan­d gegen Japan.

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