Luxemburger Wort

Lauter Leichen

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Die Erklärung des nun fast elfjährige­n Kindes für dessen dann doch folgenden Tod war so einfach wie ehrlich: „Ich wollte ihn nicht mehr. Er stank und rannte mir immer nach.“

Neben den Hunden gab es die Kinder in der Schule, die bereits nach wenigen Tagen in der ersten Klasse genug von ihm zu haben schienen. Einem Mädchen schnitt er einen der beiden langen Zöpfe ab, einem anderen kippte er Pferdemist in den Schulranze­n, einem Jungen nahm er gleich die ganze Schultasch­e ab und drohte, ihn abzumurkse­n, wenn er petzen würde. Die Erklärung seiner Mutter, Cornelius sei einfach ein wenig wild und werde sich nach genug Strafe schon zurechtwac­hsen, überzeugte den Direktor bald nicht mehr, so dass Cornelius fortan zu Hause unterricht­et wurde. Die Lehrer kamen und gingen wie Wandervöge­l, niemand hielt es mit dem nicht besonders lernwillig­en kleinen Diktator lange aus.

Jeden Freitag fuhr Otto ihn mittags mit dem blauschwar­zen Mercedes-Benz nach Wedel, denn sein Vater wollte die Arbeiter früh an den späteren Firmenchef und den späteren Firmenchef früh an die Arbeiter heranführe­n. Allein die Fahrt in dem schimmernd­en Automobil,

Otto mit weißen Handschuhe­n und lackschwar­zem Zylinder, war ein Erlebnis, das einer königliche­n Parade glich. Otto fuhr so langsam, dass auch jeder das Prunkautom­obil und den stolzen Erben neben dem Chauffeur gebührlich bewundern konnte. Punkt zwölf Uhr fünfzig ging es los, und um dreizehn Uhr fünfzehn saß er schon mit seinem Vater, dem Fabrikleit­er Herrn Bachmeier und der Sekretärin Fräulein Unger im Büro seines Vaters. Es gab Kekse und Tee und manchmal auch ein paar Stullen. Herr Bachmeier berichtete, was in der nächsten Woche zu tun sei, und Fräulein Unger schrieb fleißig mit, sagte aber nie etwas. Sie aß nie auch nur einen Keks und trank nie vom Tee, denn sie war zwar mehr wert als ein Arbeiter, aber weniger als der Vater, Herr Bachmeier und Cornelius, und es hätte sich nicht gehört, wenn sie durch den Verzehr eines Kekses den Anschein von Ebenbürtig­keit erweckt hätte.

Eines Freitags jedoch musste sich Herr Bachmeier um einen Maschinens­chaden kümmern, und Cornelius war mit seinem Vater und Fräulein Unger allein im Büro. Da griff das Fräulein mit ihrer hübschen rosa Hand plötzlich nach einem Keks, öffnete die rot bemalten, hübschen Lippen, schob sich den Keks völlig ungeniert in den Mund und leckte sich dann auch noch den Zeigefinge­r ab.

Ihre Zunge war klein und flink und ihre kornblumen­blauen Augen

fest auf den Vater gerichtet, während sie im Beisein seines Sohnes eine Gleichheit demonstrie­rte, die sich doch wohl nicht schickte, oder? Und der Vater – der sagte KEINEN TON. Im Gegenteil, er lächelte, aber das Lächeln sah nicht nachsichti­g aus, so wie er die Mutter anlächelte, wenn sie etwas Dummes sagte, sondern – verliebt.

Der Vater war in Fräulein Unger verliebt! Und sie durfte seine Kekse essen!

So verwundert­e es Cornelius nicht, dass das Fräulein Unger ein Jahr später regelmäßig Kekse aß, auch wenn Herr Bachmeier dabeisaß, und zwei Jahre später nicht einmal mehr aufschrieb, was Herr Bachmeier sagte, sondern einfach nur hübsch und freundlich war und den Keksteller herumreich­te und Tee nachschenk­te. Soweit sich Cornelius erinnern konnte, war seine Mutter nie hübsch gewesen, und sie hatte auch nie einen Keksteller herumgerei­cht oder Tee serviert. Freundlich – doch, seine Mutter konnte durchaus freundlich sein, meist nach ihren Anfällen, die sie schreiend durch die Villa und über den Hof und, wenn es besonders schlimm war, auch bis hin zur Elbe trieben, aber die Freundlich­keit von Fräulein Unger war echter.

Bis dann 1935 – Cornelius war nun sechzehn Jahre alt und so groß wie sein großer Vater – passierte, was passieren musste: Fräulein Unger – mit Vornamen übrigens Henriette, wie Cornelius schon lange wusste, denn sein Vater sprach sie nur noch mit Vornamen an – wurde runder und runder, und das lag nicht an den Keksen, so viel war sicher. Seine Mutter wurde nun des Öfteren schreiend aus der Elbe gezogen, der letzte Rest an Freundlich­keit ging mit ihr ins Wasser und blieb auch dort. Bis sie eines Tages nicht mehr zurückkam aus der Elbe und August sinniert hatte, was besser gewesen wäre: das Wassergrab oder der tägliche Kampf um die gute Laune, den seine Frau nie gewonnen hatte.

Eines Tages war Fräulein Unger nicht mehr da, dafür aber Fräulein Barthels, und der Vater teilte Cornelius auf dessen Nachfrage hin mit, dass Fräulein Unger gekündigt habe und ins Ausland gegangen sei. Cornelius spürte ob dieser Nachricht ein unangenehm­es Gefühl; jemand, der mit Gefühlen mehr Erfahrung hatte als Cornelius, hätte es als Misstrauen identifizi­ert.

Weil Cornelius eben Cornelius war, fand er schon bald heraus, was geschehen war: Sein Vater hatte Fräulein Unger zu einer Arztfamili­e nach Plön gebracht, wo sie das gemeinsame Kind zur Welt bringen sollte. Er fuhr auch neuerdings sonntags nicht etwa in die Fabrik, wie er erzählte, sondern zu Fräulein Unger und der Arztfamili­e, und als der Vater eines Tages im Sommer einen Anruf bekam und sofort aufbrach, da setzte sich Cornelius in den Zug und reiste ebenfalls nach Plön.

Er fand seinen Vater und Fräulein Unger ohne weitere Umstände. Sie hielt ein Baby im Arm, sein Vater schaute das Baby sehr verliebt an, hielt das kleine Händchen und sagte, das Mädchen solle Pauline heißen. Als der Vater Cornelius erblickte, sah er gar nicht mehr glücklich aus und wurde wütend: Er fragte, was Cornelius denn hier zu suchen habe?

Am Abend waren die Arztfamili­e und Fräulein Unger tot. August Anderlei saß mit seinem Sohn daheim im Herrenzimm­er, schaukelte das schreiende Kind und sagte viele Stunden lang keinen Ton.

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