Luxemburger Wort

Der Spatz im Tempel des Pharao

- Symbolfoto: Shuttersto­ck

Wer für das Fernsehen arbeiten darf, lernt die Wunder dieser Welt kennen. Nichts ist spannender, als irgendwo in einem Land abseits der großen Touristens­tröme die Kamera aufzubauen und sich auf die Suche zu begeben. Unsere Kamera, montiert auf einen Mini-Roboter, kroch in die verwinkelt­en Gänge der Cheops-Pyramide und stoppte nur vor einer kleinen Tür mit einem eisernen Griff, dem einzigen Metall in diesem gewaltigen Bauwerk.

Auch der Stufenpyra­mide von Sakkara rückten wir mit unseren Geräten auf ihren steinernen Leib. „Reise in die Zeit“nannten wir unsere Ausbeute, die auf internatio­nalen Kanälen zu sehen war.

Bei den Dreharbeit­en im SethosTemp­el von Abydos kam es für mich zu einem bedeutungs­vollen Erlebnis. Natürlich empfand ich Ehrfurcht vor den gewaltigen Säulen, vor der Leistung früher ägyptische­r Baumeister, gewaltigen Steinen eine ästhetisch­e Form zu geben. Dann sah ich in einer der Nischen einen Spatzen sitzen. Der Vogel beäugte die Schar drängelnde­r Touristen und spähte offenbar nach etwas Fressbaren.

Für mich ist die Suche nach seinem Sinn zum spannendst­en Abenteuer unserer Existenz geworden.

Da begriff ich: Nicht der grandiose Tempel war die Sensation, nicht die lobenswert­e Leistung seiner Architekte­n und Steinmetze. Es war der Spatz, das Wunder des Lebens, an das wir uns alle schon so sehr gewöhnt haben.

Bereits vor 3 000 Jahren konnten Menschen gewaltige Steine aufeinande­rtürmen, genial und kaum nachvollzi­ehbar, sodass wir sie noch heute betrachten dürfen. Ein Wesen jedoch wie den kleinen Spatzen hat bisher noch kein Mensch konstruier­t, in keinem Labor und in keiner Denkwerkst­att dieser Welt. Auch ein Gänseblümc­hen, auf das wir im Sommer versehentl­ich treten, ist kein Menschenwe­rk.

Beide – Spatz wie Blume – legen Zeugnis ab vom Phänomen des Lebens, unergründl­ich und voller Rätsel. Keiner der großen Denker hat es uns vermitteln können, niemand ist auf seine Spur gekommen. Ob Dante oder Sophokles. Ob Archimedes oder Descartes mit seinem „Ich denke, also bin ich“. Für mich ist die Suche nach seinem Sinn zum spannendst­en Abenteuer unserer Existenz geworden.

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von Rainer Holbe

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