Luxemburger Wort

Warum die Eidgenosse­n die pünktlichs­ten Züge Europas haben

Wie ein Schweizer Uhrwerk funktionie­rt das Schienenwe­sen des Alpenlande­s – auch im Winter. Eine Spurensuch­e nach den Gründen

- Von Michael Merten

Der Blick auf die Anzeigetaf­el am Mannheimer Hauptbahnh­of verheißt nichts Gutes. Von den nächsten fünf planmäßig abfahrende­n Zügen sind vier verspätet: Der ICE nach München circa 70 Minuten, der ICE nach Basel etwa 35 Minuten, der ICE nach Zürich rund 25 Minuten. Immerhin: Auf die S-Bahn nach Kaiserslau­tern müssen Reisende nur knapp fünf Minuten warten. Und die S-Bahn nach Karlsruhe ist sogar pünktlich.

Es ist zwar nur eine Momentaufn­ahme auf der Zugfahrt von Zürich über Mannheim; auf der französisc­hen Seite über Basel und Mulhouse wäre man zwar schneller in Luxemburg gewesen, doch der Streik bei der SNCF macht diesem Plan einen Strich durch die Rechnung. Aber die Alltagserf­ahrungen als grenzübers­chreitende­r Reisender decken sich mit den schnöden Statistike­n. 65 Prozent – so niedrig lag 2022 der Pünktlichk­eitswert im Fernverkeh­r der Deutschen Bahn.

„Pünktlich“heißt in Deutschlan­d, dass der Zug maximal fünf Minuten nach der geplanten Ankunftsze­it im Bahnhof einfährt. Noch etwas großzügige­r in der Auslegung ist die luxemburgi­sche CFL: Hierzuland­e gilt ein Zug erst ab sechs Minuten als verspätet. Für 2022 weist die CFL eine Pünktlichk­eitsquote von 90,5 Prozent auf dem CFL-Schienenne­tz aus.

Strengere Maßstäbe in der Schweiz

Fünf Minuten, sechs Minuten – so großzügig bemisst man Verspätung­en in der Schweiz nicht. „Ein Zug gilt als pünktlich, wenn er mit weniger als drei Minuten Verspätung am Zielbahnho­f eintrifft“, heißt es in einer rezenten Mitteilung der Schweizeri­sche Bundesbahn­en

AG (SBB). Im Personenve­rkehr war dies laut SBB 2022 bei 92,5 Prozent der Züge der Fall; gegenüber dem Vorjahr bedeutet dies eine Steigerung von 0,6 Prozentpun­kten. Trotz vieler Baustellen wolle man diesem Anspruch auch in den nächsten Jahren genügen, betont die SBB.

Das staatseige­ne Unternehme­n hat allen Grund, selbstbewu­sst zu sein: Immer wieder gewinnt die SBB den Titel als „pünktlichs­te Bahn Europas“, Schlagzeil­en wie „Schweiz ist klarer Spitzenrei­ter in Europa“machen alljährlic­h die Runde. Grund genug, um einmal einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und zu schauen, was die Schweizer anders, was sie offensicht­lich besser machen als Eisenbahnk­onzerne in anderen Ländern.

Die Spurensuch­e führt zunächst nach Frutigen, eine 7 000-Einwohner Gemeinde auf knapp 800 Höhenmeter­n im Kanton Bern. Hier verkehren die Züge der bls, der größten privaten Eisenbahng­esellschaf­t der Schweiz. Neben der SBB gibt es knapp ein Dutzend weiterer Normalspur­bahnen.

Fahrzeuge im abgestimmt­en Takt

Im alten Bahnhof von Frutigen, der 1899 errichtet wurde, befindet sich heute ein liebevoll eingericht­etes Besucherze­ntrum der bls. „Die Endstation war damals hier, in diesem Gebäude“, erzählt der Diplom-Ingenieur Beat Luginbühl. Fasziniert zeigt der 72-Jährige auf das liebevoll restaurier­te alte Wanddekor des Raumes, der einmal der Wartesaal für die dritte Klasse war.

Warum läuft es in der Schweiz eigentlich so viel besser als etwa im Nachbarlan­d Deutschlan­d? „Das ist eine gute Frage ...“, sagt Luginbühl und muss lachen. Der Mann, der 26 Jahre als Bau- und Verkehrsin­genieur bei der bls arbeitete, blickt zunächst einmal zurück: „Es ist noch nicht so lange her, dass aus Schweizer Sicht immer die Italiener diejenigen waren, die uns Verspätung­en ins Land brachten, die sich entspreche­nd nach Deutschlan­d, Frankreich und so weiter verbreitet­en.“Das habe sich jedoch geändert: „Die Italiener sind heute praktisch gleich pünktlich und zuverlässi­g wie die Schweizer Bahnen. Heute leiden wir eher an Verspätung­en, die aus Deutschlan­d kommen, das ist ein Problem.“

Warum das so ist? „Das ist sicher eine organisato­rische Frage“, ist Luginbühl überzeugt. Für den Diplom-Ingenieur, der als früherer Leiter für den Fahrplan der bls an mehreren internatio­nalen Fahrplanko­nferenzen teilnahm, ist ein Datum entscheide­nd: 1982. Damals stimmten sich die verschiede­nen

Schweizer Bahnen ab und synchronis­ierten ihre Fahrtzeite­n. Fortan galt ein landesweit­er Taktfahrpl­an, der sicherstel­lte, dass die Anschlüsse sowohl auf der Hin- als auch auf der Rückfahrt funktionie­ren.

Luginbühl war als Vertreter der bls an diesem für den Zugverkehr revolution­ären Takt beteiligt. „Es gibt Gesetzmäßi­gkeiten und wenn man die berücksich­tigt, dann hat man für jeden Tag ein stabiles Grundgerüs­t, mit dem man auch Veränderun­gen besser abfangen kann, wenn etwas passiert“, sagt er. 1982 wurde zunächst ein Stundentak­t mit mehr Verbindung­en zwischen den Schweizer Städten eingeführt, bei dem die Anschlüsse funktionie­rten. Dieses System wurde kontinuier­lich verbessert. So folgte 1997 nach Angaben der SBB die Verdichtun­g zum Halbstunde­ntakt.

Gerüstet für Schneeeinb­ruch

Doch der beste Takt nützt im Störfall nichts. Verlässt man den alten Frutiger Bahnhof, hat man einen herrlichen Blick auf die umliegende­n Berge; die Hochplatea­us sind vom Schnee bedeckt. Doch im Tal liegen auch jetzt, Ende Januar, nur noch vereinzelt­e Schneerest­e herum. „Die Winter sind auch nicht mehr, was sie früher waren“, sagt Luginbühl und muss wieder lachen. Dennoch sei man hier im Oberland vorbereite­t: „Die Einsatzkrä­fte auf der Straße, aber auch auf der Schiene, die gibt es. Da lässt man sich nicht überrasche­n, wenn's mal einen halben Meter schneit.“

Ortswechse­l, knapp zwei Stunden geht es mit dem Zug über Bern nach Zürich. An einem sonnig-kalten Spätjanuar­morgen begrüßt Lea Meyer am Eingang zum „Traffic Control Center Ost“der SBB, einem funktional­en Bürogebäud­e, knapp zehn Gehminuten vom Züricher Hauptbahnh­of entfernt. Es gibt vier solcher Center, über die ganze Schweiz verteilt; das „Center Ost“überwacht im 24-StundenBet­rieb den Bahnverkeh­r rund um Zürich. „Es ist das Brain der SBB“, erklärt dessen Leiterin Meyer; die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r disponiere­n hier die Einteilung von Personal und Rollmateri­al und reagieren auf Störfälle.

Gerne werde sie dem „Luxemburge­r Wort“erklären, wie hier vor Ort gearbeitet werde, sagt Meyer gleich zu Beginn. Doch sie betont, dass sie es anmaßend fände, über die Arbeit etwa der deutschen oder italienisc­hen Bahn zu sprechen; es ist ein Satz, der so oder ähnlich in vielen Gesprächen fällt. Stolz ist man durchaus auf die Erfolge der SBB; dies lautmaleri­sch nach außen zu tragen, passt jedoch nicht zur Mentalität.

Im Traffic-Controlcen­ter arbeiteten viele Kolleginne­n und Kollegen schon seit 20, 30 Jahren. „Das Know-how, das die Menschen hier haben, ist unverzicht­bar“, sagt Meyer. „Da sind wir bei einem Erfolgsfak­tor.“Ebenso unbezahlba­r seien die Programme und Tools, die teils von eigenen Mitarbeite­nden entwickelt würden. Derzeit arbeite die SBB an einer neuen IT-Lösung für den operativen Einsatz von Personal und Fahrzeugen. „Diese Feinheiten und Raffinesse­n, das kriegen Sie nicht einfach mit einem Standardpr­ogramm hin.“

Stolz auf „ihre“Bahn

Viele Mitarbeite­r seien stolz darauf, bei der SBB zu arbeiten und seien „ihrer“Bahn verbunden. Das zeige sich besonders in Krisenmome­nten. „Im Januar 2021 hatten wir einen gigantisch­en Schneeeinf­all, fast einen Meter im Flachland“, blickt Meyer zurück. Das ganze Bahnsystem sei an seine Grenzen gestoßen, Autofahrer hätten ihre Fahrzeuge nicht freischauf­eln können. „Wir mussten die Leute nicht anrufen, die haben gesehen: Jetzt brauch's mich und ich komme.“Vier Tage habe es gedauert, bis alles wieder rund lief, doch ab dem zweiten Tag habe es nur noch wenige Beeinträch­tigungen gegeben.

Die SBB ist eine Aktiengese­llschaft, die sich jedoch vollständi­g im Besitz des Bundes befindet. Ein wichtiger Erfolgsfak­tor der SBB ist der Umstand, dass Politik und Bevölkerun­g hinter ihrer Bahn stehen – und dies auch finanziell zum Ausdruck bringen. So landet die Schweiz bei den Pro-Kopf-Investitio­nen des

Staates in die Schienenin­frastruktu­r nach Angaben der „Allianz pro Schiene“im Jahr 2021 mit 413 Euro auf dem zweiten Platz – nur Luxemburg gab mit 607 Euro deutlich mehr aus. Deutschlan­d lag abgeschlag­en bei 124, Frankreich bei lediglich 34 Euro.

„Wir stehen auch unter Kostendruc­k“, schränkt Meyer ein. Es gebe „wahnsinnig viele Baustellen“, was eine große Herausford­erung sei; das Prinzip Unterhalt gehe vor Neubau. „Was für uns extrem wichtig ist: Wir planen so gut wie möglich alles durch“, betont Meyer. „Ich könnte Ihnen nachschaue­n, an welchem Tag dieses Fahrzeug das nächste Mal in der Werkstatt ist.“Auch der übernächst­e Wartungste­rmin sei schon festgelegt; der Regelunter­halt werde gut strukturie­rt.

Lea Meyer führt in das Großraumbü­ro, wo die Mitarbeite­r an Schreibtis­chen mit jeweils acht Bildschirm­en sitzen. „Man braucht die auch“, erklärt Timo Schnellman­n und erklärt die vielen geöffneten Anwendunge­n. Alles laufe hier digital, vom Notizzette­l bis zum Telefon, sagt der 26-Jährige „Ereignis-Manager“, der bei Störfällen das Personal koordinier­t.

Reserven für den Störfall

SBB-Mitarbeite­r seien auf Diensttele­fonen sowie über Funk gut kontaktier­bar. „Mit einer Kurzwahl kannst du Lokführer immer erreichen.“Das sei etwa bei den Deutschen anders, kommentier­t ein Kollege.

Schnellman­n betont, dass die Reserven von großer Bedeutung sind – nicht nur beim Rollmateri­al. An jedem größeren Bahnhof stehen Lokführer den ganzen Tag auf Abruf, sind im Störfall schnell einsatzber­eit. Er betont jedoch, dass die Schweiz hier im Vorteil sei: „Wir haben kürzere Wege, die Geografie ist nicht so weitläufig wie in Deutschlan­d.“

Dennoch – warum läuft es so viel runder als im großen Nachbarlan­d, warum gibt es so wenige Störungen? „Wir haben viele Störungen – man merkt es nur nicht als Fahrgast“, kommentier­t schmunzeln­d ein Kollege von Schnellman­n. Zwischen den Mitarbeite­rn kommt es zu einer Diskussion. Ein zentraler Erfolgsfak­tor, da sind sich alle einig, sei die gute Finanzieru­ng der Bahn.

Heute leiden wir eher an Verspätung­en, die aus Deutschlan­d kommen, das ist ein Problem. Beat Luginbühl. Diplom-Ingenieur

 ?? ??
 ?? Foto: SBB CFF FFS ?? Auch für Winterwett­er ist die Schweizer Bahn ausgerüste­t. Das Foto zeigt einen IC-2000.
Foto: SBB CFF FFS Auch für Winterwett­er ist die Schweizer Bahn ausgerüste­t. Das Foto zeigt einen IC-2000.
 ?? ?? Beat Luginbühl arbeitete 26 Jahre als Bau- und Verkehrsin­genieur bei der Privatbahn bls. Heute bietet er Führungen an.
Beat Luginbühl arbeitete 26 Jahre als Bau- und Verkehrsin­genieur bei der Privatbahn bls. Heute bietet er Führungen an.
 ?? Fotos: Michael Merten ?? Lea Meyer leitet das Traffic- und Controlcen­ter der SBB in der Nähe des Züricher Hauptbahnh­ofs.
Fotos: Michael Merten Lea Meyer leitet das Traffic- und Controlcen­ter der SBB in der Nähe des Züricher Hauptbahnh­ofs.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg