Warum die Eidgenossen die pünktlichsten Züge Europas haben
Wie ein Schweizer Uhrwerk funktioniert das Schienenwesen des Alpenlandes – auch im Winter. Eine Spurensuche nach den Gründen
Der Blick auf die Anzeigetafel am Mannheimer Hauptbahnhof verheißt nichts Gutes. Von den nächsten fünf planmäßig abfahrenden Zügen sind vier verspätet: Der ICE nach München circa 70 Minuten, der ICE nach Basel etwa 35 Minuten, der ICE nach Zürich rund 25 Minuten. Immerhin: Auf die S-Bahn nach Kaiserslautern müssen Reisende nur knapp fünf Minuten warten. Und die S-Bahn nach Karlsruhe ist sogar pünktlich.
Es ist zwar nur eine Momentaufnahme auf der Zugfahrt von Zürich über Mannheim; auf der französischen Seite über Basel und Mulhouse wäre man zwar schneller in Luxemburg gewesen, doch der Streik bei der SNCF macht diesem Plan einen Strich durch die Rechnung. Aber die Alltagserfahrungen als grenzüberschreitender Reisender decken sich mit den schnöden Statistiken. 65 Prozent – so niedrig lag 2022 der Pünktlichkeitswert im Fernverkehr der Deutschen Bahn.
„Pünktlich“heißt in Deutschland, dass der Zug maximal fünf Minuten nach der geplanten Ankunftszeit im Bahnhof einfährt. Noch etwas großzügiger in der Auslegung ist die luxemburgische CFL: Hierzulande gilt ein Zug erst ab sechs Minuten als verspätet. Für 2022 weist die CFL eine Pünktlichkeitsquote von 90,5 Prozent auf dem CFL-Schienennetz aus.
Strengere Maßstäbe in der Schweiz
Fünf Minuten, sechs Minuten – so großzügig bemisst man Verspätungen in der Schweiz nicht. „Ein Zug gilt als pünktlich, wenn er mit weniger als drei Minuten Verspätung am Zielbahnhof eintrifft“, heißt es in einer rezenten Mitteilung der Schweizerische Bundesbahnen
AG (SBB). Im Personenverkehr war dies laut SBB 2022 bei 92,5 Prozent der Züge der Fall; gegenüber dem Vorjahr bedeutet dies eine Steigerung von 0,6 Prozentpunkten. Trotz vieler Baustellen wolle man diesem Anspruch auch in den nächsten Jahren genügen, betont die SBB.
Das staatseigene Unternehmen hat allen Grund, selbstbewusst zu sein: Immer wieder gewinnt die SBB den Titel als „pünktlichste Bahn Europas“, Schlagzeilen wie „Schweiz ist klarer Spitzenreiter in Europa“machen alljährlich die Runde. Grund genug, um einmal einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und zu schauen, was die Schweizer anders, was sie offensichtlich besser machen als Eisenbahnkonzerne in anderen Ländern.
Die Spurensuche führt zunächst nach Frutigen, eine 7 000-Einwohner Gemeinde auf knapp 800 Höhenmetern im Kanton Bern. Hier verkehren die Züge der bls, der größten privaten Eisenbahngesellschaft der Schweiz. Neben der SBB gibt es knapp ein Dutzend weiterer Normalspurbahnen.
Fahrzeuge im abgestimmten Takt
Im alten Bahnhof von Frutigen, der 1899 errichtet wurde, befindet sich heute ein liebevoll eingerichtetes Besucherzentrum der bls. „Die Endstation war damals hier, in diesem Gebäude“, erzählt der Diplom-Ingenieur Beat Luginbühl. Fasziniert zeigt der 72-Jährige auf das liebevoll restaurierte alte Wanddekor des Raumes, der einmal der Wartesaal für die dritte Klasse war.
Warum läuft es in der Schweiz eigentlich so viel besser als etwa im Nachbarland Deutschland? „Das ist eine gute Frage ...“, sagt Luginbühl und muss lachen. Der Mann, der 26 Jahre als Bau- und Verkehrsingenieur bei der bls arbeitete, blickt zunächst einmal zurück: „Es ist noch nicht so lange her, dass aus Schweizer Sicht immer die Italiener diejenigen waren, die uns Verspätungen ins Land brachten, die sich entsprechend nach Deutschland, Frankreich und so weiter verbreiteten.“Das habe sich jedoch geändert: „Die Italiener sind heute praktisch gleich pünktlich und zuverlässig wie die Schweizer Bahnen. Heute leiden wir eher an Verspätungen, die aus Deutschland kommen, das ist ein Problem.“
Warum das so ist? „Das ist sicher eine organisatorische Frage“, ist Luginbühl überzeugt. Für den Diplom-Ingenieur, der als früherer Leiter für den Fahrplan der bls an mehreren internationalen Fahrplankonferenzen teilnahm, ist ein Datum entscheidend: 1982. Damals stimmten sich die verschiedenen
Schweizer Bahnen ab und synchronisierten ihre Fahrtzeiten. Fortan galt ein landesweiter Taktfahrplan, der sicherstellte, dass die Anschlüsse sowohl auf der Hin- als auch auf der Rückfahrt funktionieren.
Luginbühl war als Vertreter der bls an diesem für den Zugverkehr revolutionären Takt beteiligt. „Es gibt Gesetzmäßigkeiten und wenn man die berücksichtigt, dann hat man für jeden Tag ein stabiles Grundgerüst, mit dem man auch Veränderungen besser abfangen kann, wenn etwas passiert“, sagt er. 1982 wurde zunächst ein Stundentakt mit mehr Verbindungen zwischen den Schweizer Städten eingeführt, bei dem die Anschlüsse funktionierten. Dieses System wurde kontinuierlich verbessert. So folgte 1997 nach Angaben der SBB die Verdichtung zum Halbstundentakt.
Gerüstet für Schneeeinbruch
Doch der beste Takt nützt im Störfall nichts. Verlässt man den alten Frutiger Bahnhof, hat man einen herrlichen Blick auf die umliegenden Berge; die Hochplateaus sind vom Schnee bedeckt. Doch im Tal liegen auch jetzt, Ende Januar, nur noch vereinzelte Schneereste herum. „Die Winter sind auch nicht mehr, was sie früher waren“, sagt Luginbühl und muss wieder lachen. Dennoch sei man hier im Oberland vorbereitet: „Die Einsatzkräfte auf der Straße, aber auch auf der Schiene, die gibt es. Da lässt man sich nicht überraschen, wenn's mal einen halben Meter schneit.“
Ortswechsel, knapp zwei Stunden geht es mit dem Zug über Bern nach Zürich. An einem sonnig-kalten Spätjanuarmorgen begrüßt Lea Meyer am Eingang zum „Traffic Control Center Ost“der SBB, einem funktionalen Bürogebäude, knapp zehn Gehminuten vom Züricher Hauptbahnhof entfernt. Es gibt vier solcher Center, über die ganze Schweiz verteilt; das „Center Ost“überwacht im 24-StundenBetrieb den Bahnverkehr rund um Zürich. „Es ist das Brain der SBB“, erklärt dessen Leiterin Meyer; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter disponieren hier die Einteilung von Personal und Rollmaterial und reagieren auf Störfälle.
Gerne werde sie dem „Luxemburger Wort“erklären, wie hier vor Ort gearbeitet werde, sagt Meyer gleich zu Beginn. Doch sie betont, dass sie es anmaßend fände, über die Arbeit etwa der deutschen oder italienischen Bahn zu sprechen; es ist ein Satz, der so oder ähnlich in vielen Gesprächen fällt. Stolz ist man durchaus auf die Erfolge der SBB; dies lautmalerisch nach außen zu tragen, passt jedoch nicht zur Mentalität.
Im Traffic-Controlcenter arbeiteten viele Kolleginnen und Kollegen schon seit 20, 30 Jahren. „Das Know-how, das die Menschen hier haben, ist unverzichtbar“, sagt Meyer. „Da sind wir bei einem Erfolgsfaktor.“Ebenso unbezahlbar seien die Programme und Tools, die teils von eigenen Mitarbeitenden entwickelt würden. Derzeit arbeite die SBB an einer neuen IT-Lösung für den operativen Einsatz von Personal und Fahrzeugen. „Diese Feinheiten und Raffinessen, das kriegen Sie nicht einfach mit einem Standardprogramm hin.“
Stolz auf „ihre“Bahn
Viele Mitarbeiter seien stolz darauf, bei der SBB zu arbeiten und seien „ihrer“Bahn verbunden. Das zeige sich besonders in Krisenmomenten. „Im Januar 2021 hatten wir einen gigantischen Schneeeinfall, fast einen Meter im Flachland“, blickt Meyer zurück. Das ganze Bahnsystem sei an seine Grenzen gestoßen, Autofahrer hätten ihre Fahrzeuge nicht freischaufeln können. „Wir mussten die Leute nicht anrufen, die haben gesehen: Jetzt brauch's mich und ich komme.“Vier Tage habe es gedauert, bis alles wieder rund lief, doch ab dem zweiten Tag habe es nur noch wenige Beeinträchtigungen gegeben.
Die SBB ist eine Aktiengesellschaft, die sich jedoch vollständig im Besitz des Bundes befindet. Ein wichtiger Erfolgsfaktor der SBB ist der Umstand, dass Politik und Bevölkerung hinter ihrer Bahn stehen – und dies auch finanziell zum Ausdruck bringen. So landet die Schweiz bei den Pro-Kopf-Investitionen des
Staates in die Schieneninfrastruktur nach Angaben der „Allianz pro Schiene“im Jahr 2021 mit 413 Euro auf dem zweiten Platz – nur Luxemburg gab mit 607 Euro deutlich mehr aus. Deutschland lag abgeschlagen bei 124, Frankreich bei lediglich 34 Euro.
„Wir stehen auch unter Kostendruck“, schränkt Meyer ein. Es gebe „wahnsinnig viele Baustellen“, was eine große Herausforderung sei; das Prinzip Unterhalt gehe vor Neubau. „Was für uns extrem wichtig ist: Wir planen so gut wie möglich alles durch“, betont Meyer. „Ich könnte Ihnen nachschauen, an welchem Tag dieses Fahrzeug das nächste Mal in der Werkstatt ist.“Auch der übernächste Wartungstermin sei schon festgelegt; der Regelunterhalt werde gut strukturiert.
Lea Meyer führt in das Großraumbüro, wo die Mitarbeiter an Schreibtischen mit jeweils acht Bildschirmen sitzen. „Man braucht die auch“, erklärt Timo Schnellmann und erklärt die vielen geöffneten Anwendungen. Alles laufe hier digital, vom Notizzettel bis zum Telefon, sagt der 26-Jährige „Ereignis-Manager“, der bei Störfällen das Personal koordiniert.
Reserven für den Störfall
SBB-Mitarbeiter seien auf Diensttelefonen sowie über Funk gut kontaktierbar. „Mit einer Kurzwahl kannst du Lokführer immer erreichen.“Das sei etwa bei den Deutschen anders, kommentiert ein Kollege.
Schnellmann betont, dass die Reserven von großer Bedeutung sind – nicht nur beim Rollmaterial. An jedem größeren Bahnhof stehen Lokführer den ganzen Tag auf Abruf, sind im Störfall schnell einsatzbereit. Er betont jedoch, dass die Schweiz hier im Vorteil sei: „Wir haben kürzere Wege, die Geografie ist nicht so weitläufig wie in Deutschland.“
Dennoch – warum läuft es so viel runder als im großen Nachbarland, warum gibt es so wenige Störungen? „Wir haben viele Störungen – man merkt es nur nicht als Fahrgast“, kommentiert schmunzelnd ein Kollege von Schnellmann. Zwischen den Mitarbeitern kommt es zu einer Diskussion. Ein zentraler Erfolgsfaktor, da sind sich alle einig, sei die gute Finanzierung der Bahn.
Heute leiden wir eher an Verspätungen, die aus Deutschland kommen, das ist ein Problem. Beat Luginbühl. Diplom-Ingenieur