„Ja, die Ukraine kann gewinnen, die Frage ist wie“
Warum die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine kriegsentscheidend ist und welche Rolle Luxemburg dabei spielt
Fast ein Jahr nach Kriegsbeginn ist ein Ende der Kämpfe in der Ukraine nicht absehbar. Wie die Ukraine mithilfe des Westens gewinnen kann, warum es dafür einen langen Atem braucht und welche Bedeutung der Krieg für Luxemburg hat, erklärt die renommierte Sicherheitsexpertin Claudia Major im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“. Major ist zu Gast bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die heute beginnt und an der auch Verteidigungsminister François Bausch (Déi Gréng) teilnehmen wird.
Claudia Major, welchen Unterschied macht die Entscheidung, westliche Kampfpanzer – Abrams, Leopard und Challenger – an die Ukraine zu liefern, konkret auf dem Schlachtfeld? Und kommt diese Entscheidung Ihrer Meinung nach zu spät?
Wir haben jetzt fast ein Jahr seit Kriegsausbruch. In den ersten Tagen Ende Februar letzten Jahres hätten die wenigsten Beobachter geglaubt – ich inklusive –, dass die Ukraine so lange durchhalten würde. Und das liegt daran, dass einerseits die Ukraine deutlich effektiver Widerstand leistet und dass andererseits Russland deutlich schlechter dasteht, als viele vermutet hatten. Es liegt aber auch daran, dass die westlichen Staaten sich dazu durchringen konnten, die Ukraine militärisch in einem Maße zu unterstützen, was vorher undenkbar war. Und der Fakt, dass die Ukraine als souveräner Staat überlebt hat, ist zu sehr großen Teilen den westlichen Waffenlieferungen, wie auch der finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Unterstützung zu verdanken. Man kann ganz vereinfacht sagen, dass der den Krieg gewinnt, der seine Lücken wieder füllen kann. Und die Ukraine braucht dazu die westlichen Staaten. Deswegen ist diese militärische Unterstützung des Westens kriegsentscheidend.
Doch die amerikanischen Abrams werden wahrscheinlich erst Ende des Jahres da sein, die britischen Challenger und die deutschen Leopard-2 Ende März sowie die zugesagten Leopard-1, die noch repariert und aufgemöbelt werden müssen, wahrscheinlich erst Ende des Jahres, Anfang nächsten Jahres. Es besteht also jetzt das Risiko, dass die erwartete russische Offensive beginnt, ehe die Ukraine auf diese westlichen Schützen- und Kampfpanzer zurückgreifen kann. Und dann kann sie der russischen Offensive weniger entgegensetzen. Es gab im Herbst letzten Jahres bereits viele warnende Stimmen, die sagten, dass es kein Herbst und Winter der verpassten Chancen sein darf. Russland hat diesen Winter genutzt, um sich politisch, militärisch, wirtschaftlich auf einen langen Konflikt und auf eine Frühjahrsoffensive einzustellen. Und deshalb begrüße ich auch ausdrücklich die Lieferung der Schützen- und Kampfpanzer sowie der Munition und Ersatzteile. Aber es ist in der Tat verhältnismäßig spät gewesen.
Ist das nicht ein Muster seit dem 24. Februar: Die Ukrainer sagen, wir brauchen jetzt diese oder jene Waffengattung und sie müssen es dann sehr oft wiederholen, bis der Westen darauf reagiert?
In der Tat gibt es dieses Muster, dass vieles erst relativ spät geliefert worden ist. Das kann man zum Teil erklären mit der Sorge vor einer weiteren Intensivierung oder auch Eskalation des Konflikts. Dabei haben sich die westlichen Staaten gerade am Anfang von zwei Prinzipien leiten lassen: Einerseits, die Ukraine zu unterstützen, damit sie überlebt. Andererseits wollten die westlichen Staaten selber nicht Konfliktpartei werden aus Sorge, dass ein Konflikt zwischen der NATO oder den westlichen Staaten und Russland in einen noch weitaus dramatischeren, katastrophalen Krieg enden würde als der, den wir jetzt schon haben. Das waren die beiden Leitplanken. Und auch für die westlichen Staaten war es gerade am Anfang nicht einfach, sich in diese Situation hineinzufinden.
Man kann das an den sukzessiven Entscheidungen für Waffenlieferungen ja sehr gut nachvollziehen. Es wurde immer mehr, immer schwerer und immer westlicher. Aber das war jedes Mal ein Lernprozess, den ja auch die westlichen Staaten durchlaufen mussten und wo sie abgewogen haben. Im Nachhinein ist man immer klüger und weiß es besser. Aber in der Tat gab es und gibt es immer noch diese sehr große Sorge vor der russischen Reaktion.
Bislang war die westliche Unterstützung reaktiv und war vor allem am Anfang darauf ausgerichtet, dass die Ukraine sich verteidigen kann. Es gibt Luftangriffe, also kriegen sie jetzt Luftverteidigung. Und der Schritt, den man jetzt geht mit den Schützen- und Kampfpanzern – den man zum Teil im letzten Sommer schon gegangen ist mit den Mehrfach-Raketenwerfern –, ist zu sagen, wir wollen die russische Invasion nicht nur aufhalten, sondern die Ukraine in die Lage versetzen, selber Gebiete zu befreien und zurückzuerobern. Und wenn das das formulierte Ziel ist, führt das zur Frage: Was braucht sie militärisch dafür? Aber dieser Schwenk, nicht nur zu liefern, was die Ukraine gestern gebraucht hätte und womit sie sich verteidigen kann, sondern was sie morgen braucht und was sie zur Rückeroberung braucht, der kam sehr spät. Auch deshalb, weil die westlichen Staaten erst ein Gefühl entwickelt mussten, wie Russland reagiert.
Aber wo zieht man da die Grenze? Jetzt sind es Kampfpanzer. Die Ukraine fordert bereits Kampfflugzeuge. Vielleicht werden irgendwann Soldaten gefordert. Laufen wir nicht Gefahr, in eine Eskalationsspirale hineinzugeraten?
Eskalation heißt Verschärfung, Intensivierung des Konflikts. Und wenn ich mir den Krieg ansehe, dann gibt es ein Land, das diesen Krieg seit Beginn eskaliert und das ist Russland. Also eine Verteidigungsleistung als Eskalation darzustellen, finde ich rhetorisch ziemlich schwierig. Russland hat in den letzten Wochen diesen Krieg konventionell, aber auch in anderen Bereichen wie der Propaganda und der hybriden Kriegsführung weiter eskaliert. Ich glaube, die Frage, die sich hinter Ihrer versteckt ist: Wären wir denn sicherer, wenn wir die Ukraine militärisch nicht mehr unterstützen würden?
Sie haben vorhin die Leitplanken des Westens beschrieben. Und eine ist auch die Sorge vor einer weiteren Eskalation, wie Sie selber gesagt haben. Übernehmen wir damit das russische Narrativ? Lassen wir uns im Westen da einschüchtern?
Ja, denn das würde einen kausalen Zusammenhang zwischen Waffenlieferungen und das, was auf dem Schlachtfeld passiert, implizieren. Und was wir in den letzten zwölf Monaten gesehen haben, ist, dass Russland relativ unabhängig davon entscheidet, wann es den Krieg weiter eskaliert. Häufig waren es nicht unbedingt Waffenlieferungen, sondern Momente der Schwäche. Ich erinnere an einen Fall ganz zu Beginn des Kriegs, als die EU-Staaten ein neues Sanktionspaket verabschiedet haben und Russland mit einer Erhöhung der Alarmstufe seiner strategischen Nuklearstreitkräfte reagiert hat. Das heißt, auf eine wirtschaftliche Entscheidung der europäischen Staaten folgte eine im wahrsten Sinne des Wortes nukleare, sicherheitspolitische Antwort.
Die russische Entscheidung, diesen Krieg weiterzuführen, erfolgt aus russischen Erwägungen. Wenn natürlich Russland mitbekommt, dass wir in Westeuropa die Debatte um Kampfpanzer führen als etwas, was eskaliert, ist es natürlich klar, dass Russland versucht, das auszunutzen. Sie erinnern sich wahrscheinlich an die Rede von Wladimir Putin anlässlich des 80. Jahrestags der Kapitulation von Stalingrad, wo er sehr geschickt versucht hat, das historische Narrativ zu bedienen: Es sind wieder deutsche LeopardPanzer, die uns bedrohen. Dabei gab es Leopard-Panzer damals noch nicht.
Ich finde das wichtig, weil es uns noch mal in Erinnerung rufen sollte, dass Russland diesen Krieg auch ganz bewusst im Informationsraum führt und versucht, das Narrativ und die Bilder des Kriegs zu beeinflussen. Und das ist etwas, was auch für die Berichterstattung über den Krieg so wichtig ist. Wie berichten wir? Berichten wir über Referenden in Cherson oder Scheinreferenden in Cherson? Das macht einen riesengroßen Unterschied.
Anderes Beispiel: Ganz am Anfang des Kriegs sagte Russland, wir schicken „Friedenstruppen“nach Donezk und Luhansk – im westlichen Verständnis klingt das ja erst mal nach was Gutem. Aber das waren keine „Friedenstruppen“, sondern Okkupationstruppen. Und wenn man sagt Okkupationstruppen, klingt das auch in der westlichen Öffentlichkeit gleich ganz anders als Friedenstruppen. Deswegen ist dieses Bewusstsein, dass der Konflikt auch in den Informationsraum getragen wird, so enorm wichtig. Also auch, wie berichtet wird und mit welchen Worten, und welche alten Narrative sozusagen wiederbelebt werden. Darauf müssen wir noch mehr achten. Dazu gehört auch das russische Narrativ: Russland werde durch die NATO bedroht.
Es gibt ein Land, das diesen Krieg seit Beginn eskaliert und das ist Russland.
Die militärische Unterstützung des Westens ist kriegsentscheidend.
Haben die teils zögerlichen Waffenlieferungen auch etwas damit zu tun, dass die eigenen Bestände in vielen EU-Staaten mittlerweile so stark geschrumpft sind? Und muss die Industrie jetzt nachziehen?
Ich finde etwa die aktuelle Debatte irreführend, weil wir uns von einem Waffensystem zum nächsten hangeln und uns dann fragen: Was kommt noch? Dabei ist die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssten: Was braucht die Ukraine, um diesen Krieg so lange durchzustehen, bis Russland bereit ist, an
den Verhandlungstisch zu kommen? Ich hoffe, es wird ein Sprint, aber wahrscheinlich wird es eher ein Marathon und dann kommen wir zu Fragen wie einer langfristig gesicherten Lieferung von Munition, Ausrüstung und Ersatzteilen. Denn die Ukraine verbraucht momentan mehr Munition, als die westlichen Staaten nachproduzieren können. Das heißt, die industriellen Produktionskapazitäten sind der Schlüssel, um die Ukraine zu unterstützen. Dafür braucht es eine bessere Zusammenarbeit mit der Industrie und Abstimmung zwischen den EU-Staaten.
Es ist davon auszugehen, dass die Verluste auf beiden Seiten hoch sind. Könnte das für die bevölkerungsmäßig „kleinere“Ukraine (41 Millionen Einwohner vor dem Krieg) im Vergleich zu Russland (145,5 Millionen) auf Dauer ein Problem werden?
Ich will das nicht kleinreden, aber so einfach ist es nicht. Denn nach der Herangehensweise dürfte die Ukraine gar nicht mehr existieren. Wir haben in diesem Krieg gemerkt, dass die bloßen Zahlen uns nicht weiterhelfen. Am Anfang des Kriegs haben auch alle gedacht: Wenn Masse zählt, dann gewinnt Russland diesen Krieg. Sie haben ihn aber nach einem Jahr nicht gewonnen. Man kann auch noch andere historische Beispiele heranführen wie Afghanistan oder Vietnam. Es ist aber natürlich eine Herausforderung, je länger der Krieg dauert.
Hat es auch etwas mit der Leidensfähigkeit der Bevölkerung zu tun?
Ja, und es hat auch mit vielen anderen Sachen zu tun, wie der Ausbildung, der Ausrüstung, der medizinischen Versorgung, der Rotation ...
Glauben Sie denn, dass die Ukraine eine Chance hat, den Krieg zu gewinnen?
Ja, die Frage ist, wie sie diesen gewinnen.
Kiew will die Krim und auch die Gebiete im Osten wieder zurückzuerobern. Ist das realistisch?
Ich glaube, dass es der Ukraine momentan darum geht, in die bestmögliche Verhandlungsposition zu kommen. Natürlich ist aus ukrainischer Sicht der Anspruch, das gesamte Land zu befreien, eben auch, weil es dokumentierte Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs gibt, was unter russischer Besatzung passiert – eine aktive Entukrainisierungspolitik. Und deswegen kann aus es ukrainischer Sicht spätestens seit Butscha und Irpin auch keinen anderen Anspruch mehr geben, als das gesamte Territorium zu befreien. Wann die Ukraine sich entscheidet, dieses Ziel zu verändern, ist gänzlich allein die Entscheidung der Ukraine. Aber der Anspruch der Ukraine ist auch völkerrechtlich gedeckt und meines Erachtens gerechtfertigt. Ob sie militärisch dazu in der Lage ist, steht auf einem anderen Blatt.
Welchen Beitrag kann dabei ein kleines Land wie Luxemburg leisten?
Im Endeffekt macht jede Unterstützung in der Praxis einen Unterschied. Und im Pro-Kopf-Vergleich macht Luxemburg mehr als andere Länder. Zum anderen hat es aber auch eine politische Bedeutung: Steht Euro-pa und der Westen geschlossen zusammen oder lässt er sich auseinanderdividieren? Deswegen würde ich diese Unterstützung auch von kleinen Ländern nicht kleinreden.
Natürlich haben Sie nicht die gleiche Kraft wie Deutschland. Aber im Endeffekt geht es ja hier auch um Grundsatzfragen. Und gerade für ein Land wie Luxemburg sind diese Grundsatzfragen von entscheidender Bedeutung: Habe ich als kleines Land die gleichen Rechte wie ein großes? Oder hat mein großer Bruder ein Mitspracherecht bei mir?
Darf er mich überfallen? Bin ich Verhandlungsmasse? Muss ich akzeptieren, dass meine Grenzen willkürlich verschoben werden, weil ich nun mal so klein bin? Deswegen ist es so wichtig, dass sich alle Länder klar bekennen.