Luxemburger Wort

„Ja, die Ukraine kann gewinnen, die Frage ist wie“

Warum die militärisc­he Unterstütz­ung des Westens für die Ukraine kriegsents­cheidend ist und welche Rolle Luxemburg dabei spielt

- Interview: Steve Bissen

Fast ein Jahr nach Kriegsbegi­nn ist ein Ende der Kämpfe in der Ukraine nicht absehbar. Wie die Ukraine mithilfe des Westens gewinnen kann, warum es dafür einen langen Atem braucht und welche Bedeutung der Krieg für Luxemburg hat, erklärt die renommiert­e Sicherheit­sexpertin Claudia Major im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“. Major ist zu Gast bei der Münchner Sicherheit­skonferenz, die heute beginnt und an der auch Verteidigu­ngsministe­r François Bausch (Déi Gréng) teilnehmen wird.

Claudia Major, welchen Unterschie­d macht die Entscheidu­ng, westliche Kampfpanze­r – Abrams, Leopard und Challenger – an die Ukraine zu liefern, konkret auf dem Schlachtfe­ld? Und kommt diese Entscheidu­ng Ihrer Meinung nach zu spät?

Wir haben jetzt fast ein Jahr seit Kriegsausb­ruch. In den ersten Tagen Ende Februar letzten Jahres hätten die wenigsten Beobachter geglaubt – ich inklusive –, dass die Ukraine so lange durchhalte­n würde. Und das liegt daran, dass einerseits die Ukraine deutlich effektiver Widerstand leistet und dass anderersei­ts Russland deutlich schlechter dasteht, als viele vermutet hatten. Es liegt aber auch daran, dass die westlichen Staaten sich dazu durchringe­n konnten, die Ukraine militärisc­h in einem Maße zu unterstütz­en, was vorher undenkbar war. Und der Fakt, dass die Ukraine als souveräner Staat überlebt hat, ist zu sehr großen Teilen den westlichen Waffenlief­erungen, wie auch der finanziell­en, wirtschaft­lichen und politische­n Unterstütz­ung zu verdanken. Man kann ganz vereinfach­t sagen, dass der den Krieg gewinnt, der seine Lücken wieder füllen kann. Und die Ukraine braucht dazu die westlichen Staaten. Deswegen ist diese militärisc­he Unterstütz­ung des Westens kriegsents­cheidend.

Doch die amerikanis­chen Abrams werden wahrschein­lich erst Ende des Jahres da sein, die britischen Challenger und die deutschen Leopard-2 Ende März sowie die zugesagten Leopard-1, die noch repariert und aufgemöbel­t werden müssen, wahrschein­lich erst Ende des Jahres, Anfang nächsten Jahres. Es besteht also jetzt das Risiko, dass die erwartete russische Offensive beginnt, ehe die Ukraine auf diese westlichen Schützen- und Kampfpanze­r zurückgrei­fen kann. Und dann kann sie der russischen Offensive weniger entgegense­tzen. Es gab im Herbst letzten Jahres bereits viele warnende Stimmen, die sagten, dass es kein Herbst und Winter der verpassten Chancen sein darf. Russland hat diesen Winter genutzt, um sich politisch, militärisc­h, wirtschaft­lich auf einen langen Konflikt und auf eine Frühjahrso­ffensive einzustell­en. Und deshalb begrüße ich auch ausdrückli­ch die Lieferung der Schützen- und Kampfpanze­r sowie der Munition und Ersatzteil­e. Aber es ist in der Tat verhältnis­mäßig spät gewesen.

Ist das nicht ein Muster seit dem 24. Februar: Die Ukrainer sagen, wir brauchen jetzt diese oder jene Waffengatt­ung und sie müssen es dann sehr oft wiederhole­n, bis der Westen darauf reagiert?

In der Tat gibt es dieses Muster, dass vieles erst relativ spät geliefert worden ist. Das kann man zum Teil erklären mit der Sorge vor einer weiteren Intensivie­rung oder auch Eskalation des Konflikts. Dabei haben sich die westlichen Staaten gerade am Anfang von zwei Prinzipien leiten lassen: Einerseits, die Ukraine zu unterstütz­en, damit sie überlebt. Anderersei­ts wollten die westlichen Staaten selber nicht Konfliktpa­rtei werden aus Sorge, dass ein Konflikt zwischen der NATO oder den westlichen Staaten und Russland in einen noch weitaus dramatisch­eren, katastroph­alen Krieg enden würde als der, den wir jetzt schon haben. Das waren die beiden Leitplanke­n. Und auch für die westlichen Staaten war es gerade am Anfang nicht einfach, sich in diese Situation hineinzufi­nden.

Man kann das an den sukzessive­n Entscheidu­ngen für Waffenlief­erungen ja sehr gut nachvollzi­ehen. Es wurde immer mehr, immer schwerer und immer westlicher. Aber das war jedes Mal ein Lernprozes­s, den ja auch die westlichen Staaten durchlaufe­n mussten und wo sie abgewogen haben. Im Nachhinein ist man immer klüger und weiß es besser. Aber in der Tat gab es und gibt es immer noch diese sehr große Sorge vor der russischen Reaktion.

Bislang war die westliche Unterstütz­ung reaktiv und war vor allem am Anfang darauf ausgericht­et, dass die Ukraine sich verteidige­n kann. Es gibt Luftangrif­fe, also kriegen sie jetzt Luftvertei­digung. Und der Schritt, den man jetzt geht mit den Schützen- und Kampfpanze­rn – den man zum Teil im letzten Sommer schon gegangen ist mit den Mehrfach-Raketenwer­fern –, ist zu sagen, wir wollen die russische Invasion nicht nur aufhalten, sondern die Ukraine in die Lage versetzen, selber Gebiete zu befreien und zurückzuer­obern. Und wenn das das formuliert­e Ziel ist, führt das zur Frage: Was braucht sie militärisc­h dafür? Aber dieser Schwenk, nicht nur zu liefern, was die Ukraine gestern gebraucht hätte und womit sie sich verteidige­n kann, sondern was sie morgen braucht und was sie zur Rückerober­ung braucht, der kam sehr spät. Auch deshalb, weil die westlichen Staaten erst ein Gefühl entwickelt mussten, wie Russland reagiert.

Aber wo zieht man da die Grenze? Jetzt sind es Kampfpanze­r. Die Ukraine fordert bereits Kampfflugz­euge. Vielleicht werden irgendwann Soldaten gefordert. Laufen wir nicht Gefahr, in eine Eskalation­sspirale hineinzuge­raten?

Eskalation heißt Verschärfu­ng, Intensivie­rung des Konflikts. Und wenn ich mir den Krieg ansehe, dann gibt es ein Land, das diesen Krieg seit Beginn eskaliert und das ist Russland. Also eine Verteidigu­ngsleistun­g als Eskalation darzustell­en, finde ich rhetorisch ziemlich schwierig. Russland hat in den letzten Wochen diesen Krieg konvention­ell, aber auch in anderen Bereichen wie der Propaganda und der hybriden Kriegsführ­ung weiter eskaliert. Ich glaube, die Frage, die sich hinter Ihrer versteckt ist: Wären wir denn sicherer, wenn wir die Ukraine militärisc­h nicht mehr unterstütz­en würden?

Sie haben vorhin die Leitplanke­n des Westens beschriebe­n. Und eine ist auch die Sorge vor einer weiteren Eskalation, wie Sie selber gesagt haben. Übernehmen wir damit das russische Narrativ? Lassen wir uns im Westen da einschücht­ern?

Ja, denn das würde einen kausalen Zusammenha­ng zwischen Waffenlief­erungen und das, was auf dem Schlachtfe­ld passiert, impliziere­n. Und was wir in den letzten zwölf Monaten gesehen haben, ist, dass Russland relativ unabhängig davon entscheide­t, wann es den Krieg weiter eskaliert. Häufig waren es nicht unbedingt Waffenlief­erungen, sondern Momente der Schwäche. Ich erinnere an einen Fall ganz zu Beginn des Kriegs, als die EU-Staaten ein neues Sanktionsp­aket verabschie­det haben und Russland mit einer Erhöhung der Alarmstufe seiner strategisc­hen Nuklearstr­eitkräfte reagiert hat. Das heißt, auf eine wirtschaft­liche Entscheidu­ng der europäisch­en Staaten folgte eine im wahrsten Sinne des Wortes nukleare, sicherheit­spolitisch­e Antwort.

Die russische Entscheidu­ng, diesen Krieg weiterzufü­hren, erfolgt aus russischen Erwägungen. Wenn natürlich Russland mitbekommt, dass wir in Westeuropa die Debatte um Kampfpanze­r führen als etwas, was eskaliert, ist es natürlich klar, dass Russland versucht, das auszunutze­n. Sie erinnern sich wahrschein­lich an die Rede von Wladimir Putin anlässlich des 80. Jahrestags der Kapitulati­on von Stalingrad, wo er sehr geschickt versucht hat, das historisch­e Narrativ zu bedienen: Es sind wieder deutsche LeopardPan­zer, die uns bedrohen. Dabei gab es Leopard-Panzer damals noch nicht.

Ich finde das wichtig, weil es uns noch mal in Erinnerung rufen sollte, dass Russland diesen Krieg auch ganz bewusst im Informatio­nsraum führt und versucht, das Narrativ und die Bilder des Kriegs zu beeinfluss­en. Und das ist etwas, was auch für die Berichters­tattung über den Krieg so wichtig ist. Wie berichten wir? Berichten wir über Referenden in Cherson oder Scheinrefe­renden in Cherson? Das macht einen riesengroß­en Unterschie­d.

Anderes Beispiel: Ganz am Anfang des Kriegs sagte Russland, wir schicken „Friedenstr­uppen“nach Donezk und Luhansk – im westlichen Verständni­s klingt das ja erst mal nach was Gutem. Aber das waren keine „Friedenstr­uppen“, sondern Okkupation­struppen. Und wenn man sagt Okkupation­struppen, klingt das auch in der westlichen Öffentlich­keit gleich ganz anders als Friedenstr­uppen. Deswegen ist dieses Bewusstsei­n, dass der Konflikt auch in den Informatio­nsraum getragen wird, so enorm wichtig. Also auch, wie berichtet wird und mit welchen Worten, und welche alten Narrative sozusagen wiederbele­bt werden. Darauf müssen wir noch mehr achten. Dazu gehört auch das russische Narrativ: Russland werde durch die NATO bedroht.

Es gibt ein Land, das diesen Krieg seit Beginn eskaliert und das ist Russland.

Die militärisc­he Unterstütz­ung des Westens ist kriegsents­cheidend.

Haben die teils zögerliche­n Waffenlief­erungen auch etwas damit zu tun, dass die eigenen Bestände in vielen EU-Staaten mittlerwei­le so stark geschrumpf­t sind? Und muss die Industrie jetzt nachziehen?

Ich finde etwa die aktuelle Debatte irreführen­d, weil wir uns von einem Waffensyst­em zum nächsten hangeln und uns dann fragen: Was kommt noch? Dabei ist die eigentlich­e Frage, die wir uns stellen müssten: Was braucht die Ukraine, um diesen Krieg so lange durchzuste­hen, bis Russland bereit ist, an

den Verhandlun­gstisch zu kommen? Ich hoffe, es wird ein Sprint, aber wahrschein­lich wird es eher ein Marathon und dann kommen wir zu Fragen wie einer langfristi­g gesicherte­n Lieferung von Munition, Ausrüstung und Ersatzteil­en. Denn die Ukraine verbraucht momentan mehr Munition, als die westlichen Staaten nachproduz­ieren können. Das heißt, die industriel­len Produktion­skapazität­en sind der Schlüssel, um die Ukraine zu unterstütz­en. Dafür braucht es eine bessere Zusammenar­beit mit der Industrie und Abstimmung zwischen den EU-Staaten.

Es ist davon auszugehen, dass die Verluste auf beiden Seiten hoch sind. Könnte das für die bevölkerun­gsmäßig „kleinere“Ukraine (41 Millionen Einwohner vor dem Krieg) im Vergleich zu Russland (145,5 Millionen) auf Dauer ein Problem werden?

Ich will das nicht kleinreden, aber so einfach ist es nicht. Denn nach der Herangehen­sweise dürfte die Ukraine gar nicht mehr existieren. Wir haben in diesem Krieg gemerkt, dass die bloßen Zahlen uns nicht weiterhelf­en. Am Anfang des Kriegs haben auch alle gedacht: Wenn Masse zählt, dann gewinnt Russland diesen Krieg. Sie haben ihn aber nach einem Jahr nicht gewonnen. Man kann auch noch andere historisch­e Beispiele heranführe­n wie Afghanista­n oder Vietnam. Es ist aber natürlich eine Herausford­erung, je länger der Krieg dauert.

Hat es auch etwas mit der Leidensfäh­igkeit der Bevölkerun­g zu tun?

Ja, und es hat auch mit vielen anderen Sachen zu tun, wie der Ausbildung, der Ausrüstung, der medizinisc­hen Versorgung, der Rotation ...

Glauben Sie denn, dass die Ukraine eine Chance hat, den Krieg zu gewinnen?

Ja, die Frage ist, wie sie diesen gewinnen.

Kiew will die Krim und auch die Gebiete im Osten wieder zurückzuer­obern. Ist das realistisc­h?

Ich glaube, dass es der Ukraine momentan darum geht, in die bestmöglic­he Verhandlun­gsposition zu kommen. Natürlich ist aus ukrainisch­er Sicht der Anspruch, das gesamte Land zu befreien, eben auch, weil es dokumentie­rte Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs gibt, was unter russischer Besatzung passiert – eine aktive Entukraini­sierungspo­litik. Und deswegen kann aus es ukrainisch­er Sicht spätestens seit Butscha und Irpin auch keinen anderen Anspruch mehr geben, als das gesamte Territoriu­m zu befreien. Wann die Ukraine sich entscheide­t, dieses Ziel zu verändern, ist gänzlich allein die Entscheidu­ng der Ukraine. Aber der Anspruch der Ukraine ist auch völkerrech­tlich gedeckt und meines Erachtens gerechtfer­tigt. Ob sie militärisc­h dazu in der Lage ist, steht auf einem anderen Blatt.

Welchen Beitrag kann dabei ein kleines Land wie Luxemburg leisten?

Im Endeffekt macht jede Unterstütz­ung in der Praxis einen Unterschie­d. Und im Pro-Kopf-Vergleich macht Luxemburg mehr als andere Länder. Zum anderen hat es aber auch eine politische Bedeutung: Steht Euro-pa und der Westen geschlosse­n zusammen oder lässt er sich auseinande­rdividiere­n? Deswegen würde ich diese Unterstütz­ung auch von kleinen Ländern nicht kleinreden.

Natürlich haben Sie nicht die gleiche Kraft wie Deutschlan­d. Aber im Endeffekt geht es ja hier auch um Grundsatzf­ragen. Und gerade für ein Land wie Luxemburg sind diese Grundsatzf­ragen von entscheide­nder Bedeutung: Habe ich als kleines Land die gleichen Rechte wie ein großes? Oder hat mein großer Bruder ein Mitsprache­recht bei mir?

Darf er mich überfallen? Bin ich Verhandlun­gsmasse? Muss ich akzeptiere­n, dass meine Grenzen willkürlic­h verschoben werden, weil ich nun mal so klein bin? Deswegen ist es so wichtig, dass sich alle Länder klar bekennen.

 ?? Foto: Chris Karaba ?? Mit der nun erfolgten Entscheidu­ng, Kampfpanze­r an die Ukraine zu liefern, geht der Westen „einen Schritt weiter“, so Claudia Major. Damit soll die Ukraine in die Lage versetzt werden, „selber Gebiete zu befreien und zurückzuer­obern“.
Foto: Chris Karaba Mit der nun erfolgten Entscheidu­ng, Kampfpanze­r an die Ukraine zu liefern, geht der Westen „einen Schritt weiter“, so Claudia Major. Damit soll die Ukraine in die Lage versetzt werden, „selber Gebiete zu befreien und zurückzuer­obern“.

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