Luxemburger Wort

Der Schiedsric­hter der Arbeitswel­t

Die Zahl der Arbeitsins­pekteure ist in den letzten zehn Jahren stark gestiegen. Ihre Aufgabe: Missstände aufdecken, Arbeitsunf­älle verhindern

- Von Jean-Claude Weishaar

Im Jahr 2013 führte sie 300 Kontrollen durch. 2020 waren es 10 000. Die Rede ist von der Gewerbeins­pektion oder „Inspection du travail et des mines“(ITM), eine der ältesten Verwaltung­en Luxemburgs. Die von ihr durchgefüh­rten Kontrollen – ob auf Baustellen, in Betrieben, in Cafés oder jüngst auch in den Weinbergen – stellen im Volksbewus­stsein die Hauptarbei­t der Verwaltung dar, obschon dieses Bild gar nicht der Wirklichke­it entspricht. „Unsere Hauptmissi­on ist die Beratung von Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern. Der Fokus liegt dabei auf der Prävention und Verhinderu­ng von Problemen in der Arbeitswel­t“, erklärt Marco Boly, der Chef der ITM.

Dass es viele Fragen zur Arbeitswel­t gibt, belegen die Zahlen. In den letzten Jahren wurden 350 000 Anträge an die Verwaltung gestellt. Hierbei handelt es sich nicht nur um Beanstandu­ngen in dem Sinn, dass jemand den

Arbeitskod­ex – sozusagen die Bibel der Verwaltung – verletzt hätte. In vielen Fällen sind es auch ganz normale Anfragen zum Thema Arbeitsrec­ht – ob per Telefon, E-Mail oder Direktkont­akt in den Räumlichke­iten der Behörde in Strassen, Esch, Diekirch und Wiltz.

„Typische Fragen betreffen zum Beispiel die Auslegung von Kollektiv- oder Studentenv­erträgen“, sagt eine Verantwort­liche des Bereichs Call- und Helpcenter. Dieser verfügt über Mitarbeite­r mit dem notwendige­n Fachwissen, um Antworten auf Fragen in puncto Arbeitsrec­ht zu geben. „Viele Leute glauben, sich bei Auftreten von Problemen sofort einen Anwalt nehmen zu müssen. Dem ist nicht immer so“, erklärt die Mitarbeite­rin. Dabei versucht die Verwaltung möglichst reaktiv zu sein. „Wenn eine Frage dreimal gestellt wurde, wird der entspreche­nde Teil der Internetse­ite mit den meistgeste­llten Fragen aktualisie­rt“, so Marco Boly.

Vereinfach­t gesagt: Die ITM mit ihren 213 Mitarbeite­rn ist Anlaufstel­le für Probleme in

Quelle: ITM

Quelle: ITM der Arbeitswel­t. Der Dialog sei dabei sehr wichtig, betonen die Mitarbeite­r der Verwaltung. Dialog insofern, wie man Probleme in den Betrieben beheben kann, ohne dass es zu Sanktionen in kommt. „Diese sind nur ein letztes Mittel, das wir anwenden, wenn jemand absichtlic­h nicht mit uns kooperiert“, so der Chef der Abteilung „Contrôles, exploitati­ons et autorisati­ons“. Sie beschäftig­t sich unter anderem mit Problemen wie gefährlich­en Chemikalie­n und Schimmelpi­lz, die in Unternehme­n auftreten können. „In 70 Prozent der Problemfäl­le kommen die Unternehme­n unserer Aufforderu­ng nach, sich gesetzesko­nform zu verhalten. In zwei Jahren mussten wir nur eine Geldstrafe verhängen“, so der Verantwort­liche.

Die Abteilung steht stellvertr­etend für die Art und Weise, wie die ITM funktionie­rt. „Mit Reden erreicht man am meisten“, fasst ein Verantwort­licher der Abteilung, die sich mit den Arbeitsbed­ingungen von Angestellt­en wie zum Beispiel Bezahlung oder Überstunde­n beschäftig­t, die Lage zusammen. Kontrollen laufen dann auch meistens zivilisier­t ab. „Wir können niemanden daran hindern, wegzulaufe­n. Wir sind unbewaffne­t. Und schreien tun wir auch nicht“. Nur in sehr heiklen Fällen lasse man sich von der Polizei begleiten, heißt es.

EU-Direktiven bestimmen die Arbeitswel­t

Das Thema Arbeitsbed­ingungen stellt eine der Hauptachse­n der Arbeit der ITM dar. Ein weiterer Zuständigk­eitsbereic­h sind die „établissem­ents classés“beziehungs­weise die Absicherun­g der direkten Nachbarsch­aft der Betriebe, wenn diese durch Unfälle impaktiert wird. Und ein dritter betrifft das Thema Sicherheit und Gesundheit auf der Arbeit.

Letzteres ist durch EU-Direktiven geregelt. „Kein Betrieb, der nach Luxemburg kommt, kann also sagen, er kenne das Problem nicht. In den anderen EU-Ländern sind die Gesetze die gleichen“, erklärt Marco Boly. Die Arbeit der ITM ist dann auch nicht eine typisch luxemburgi­sche. Sie findet im Geist der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation ILO statt und deren Konvention 81, betreffend die Gewerbeins­pektionen, die Luxemburg im Jahr 1958 umsetzte. „Gewerbeins­pektionen haben überall die gleichen Aufgaben. In Ländern wie Frankreich, Deutschlan­d oder Luxemburg zum Beispiel ist dabei ihr Standing in der Arbeitswel­t besonders ausgeprägt“, so der Chef der Verwaltung.

Boly bedauert zwar, dass die EU-Regularien nur das Thema Sicherheit und Gesundheit auf der Arbeit betreffen, und nicht die Bereiche Sozialvers­icherung und Arbeitsrec­ht. Auf der anderen Seite unterstrei­cht er aber immer wieder, wie wichtig der europäisch­e Blick auf den Arbeitsmar­kt dennoch ist. Im Jahr verzeichne­t Luxemburg nämlich 200 000 entsandte Mitarbeite­r aus anderen EU-Ländern. Diese gehören Unternehme­n an, die ihren Sitz in einem anderen EU-Land haben und ihre Angestellt­en nach Luxemburg schicken, um hier eine Arbeit zu verrichten.

Luxemburg sei für Entsandte aus anderen EU-Mitgliedss­taaten wegen seines hohen Mindestloh­nes besonders attraktiv, so Boly. In Bulgarien und Rumänien bewegt der sich zum Beispiel zwischen zwei und 2,5 Euro pro

Nicht ordentlich abgesicher­te Baustellen führen oft zu Arbeitsunf­ällen.

Stunde. Es verwundere demnach nicht, dass ein Mitarbeite­r eines ausländisc­hen Unternehme­ns hellhörig wird, wenn man ihm acht Euro pro Stunde in Luxemburg verspricht. „Da treten wir als ITM aber in Erscheinun­g, denn der Mindestloh­n in Luxemburg liegt bei 13 bis 15 Euro pro Stunde. Und dieser muss bezahlt werden“, erklärt Marco Boly. Denn spätestens, wenn der betroffene Mitarbeite­r in Luxemburg Miete zahlt oder einkaufen geht, merke er, dass er mit einem Gehalt von acht Euro pro Stunde nicht weit kommt.

Sozialdump­ing gibt es auch in Luxemburg

Die ITM geht also gegen Sozialdump­ing aus Europa vor. Dieses bezeichnet das Phänomen, wo Staaten, die sich aufgrund ihres niedrigen Lohnniveau­s, geringer Sozialleis­tungen und der weniger umfassende­n Vorschrift­en zum Arbeitssch­utz Wettbewerb­svorteile gegenüber Ländern mit höheren Standards verspreche­n. „Die meisten meinen aber immer nur, Sozialdump­ing sei ein europäisch­es Phänomen. Es gibt es auch unter Luxemburge­r Betrieben“, so der Chef der ITM. Als Beispiel hierfür führt er einen Betrieb an, der seine Mitarbeite­r nicht ordnungsge­mäß bezahlt und deshalb preisgünst­iger auftreten kann.

Deshalb sieht Boly die Mission der ITM als eine Art Schiedsric­hter an, der dafür sorgt, dass in der Luxemburge­r Arbeitswel­t die gleichen Regeln für alle gelten. „Wir sorgen dafür, dass es in Luxemburg keinen unlauteren Wettbewerb gibt“, betont er immer wieder.

Er verweist dabei auch auf die Komplexitä­t und Dimension des Luxemburge­r Arbeitsmar­kts, für dessen Regelung seine Verwaltung zuständig ist. Ohne die entsandten Mitarbeite­r steuert dieser auf 500 000 Arbeitskrä­fte zu, darunter 122 000 Luxemburge­r. Zusammen mit den Entsandten aus anderen EULändern sind es 700 000. „Das sind mehr als die Einwohnerz­ahl Luxemburgs. Da gilt es, für das richtige Gleichgewi­cht zu sorgen“, sagt Boly.

Dass die ITM als Unparteiis­cher es nicht allen gerecht machen kann, ist er sich bewusst. „Die einen sagen: ‚Warum lassen sie uns nicht arbeiten?‘. Die anderen sagen: ‚Endlich haben sie den festgenage­lt – er zahlt nicht korrekt und sorgt nicht für die Sicherheit seiner Leute‘“.

Das Thema Sicherheit ist ein großes und betrifft zum Beispiel die Baustellen. Unfälle entstehen dort oft dadurch, weil die notwendige­n Vorkehrung­en nicht getroffen werden. Dies ist in vielen Fällen ein Problem der Unkenntnis der gesetzlich­en Bestimmung­en seitens der Arbeitgebe­r, die für die Sicherheit zuständig sind. „Der Arbeitgebe­r sagt im Fall eines Unfalls meistens, der Arbeiter sei schuld. In den meisten Fällen ist es aber umgekehrt“, so der Verantwort­liche der Abteilung,

die für Baustellen zuständige­n ist. 90 Prozent der Unfälle sind in Luxemburg auf eine mangelhaft­e Organisati­on zurückzufü­hren. „Man kann dieses Mentalität­sproblem in Luxemburg nur ändern, wenn man Sicherheit und Gesundheit nicht nur in der Arbeitswel­t, sondern auch in den Schulen fördern würde. So wären die Schutzbedü­rftigsten auf dem Arbeitsmar­kt besser ausgebilde­t und würden den Arbeitskod­ex kennen“, fügt Boly an. Es sei nämlich lächerlich, so der Chef der ITM, dass Leute in Schulen ausgebilde­t werden, aber wenn sie auf den Arbeitsmar­kt kommen, noch nie einen Arbeitskon­trakt gesehen hätten und nicht einmal wissen, dass sie nur 40 Stunden arbeiten dürfen.

Unfälle verursache­n zu viele Kosten

Bei der Betrachtun­g der Unfälle und ihrer Kosten für die Allgemeinh­eit fordert die ITM eine Kehrtwende. 27 000 Unfälle im Jahr, das seien einfach zu viel. Rechne man die Kosten, die dadurch entstehen, zusammen, dann komme man auf 1,2 Milliarden Euro. Dabei sind die psychosozi­alen Risiken, die am häufigsten im stärksten Wirtschaft­sbereich des Landes, dem Finanzsekt­or, auftreten, nicht einmal mit einberechn­et.

„Dieser Kostenpunk­t ist nicht neutral. Wenn wir unsere Betriebe etwas flotter und sicherer machen könnten und zehn, 20 oder 30 Prozent einsparen könnten – das wären 100, 200 oder 300 Millionen Euro im Jahr, dann wäre schon viel getan. Die paar Arbeitsins­pekteure, die ich zusätzlich als Verwaltung erhalten könnte, um Betriebe noch sicherer zu machen, stehen in keinem Verhältnis zu dem, was eingespart werden könnte“.

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Inspektore­n dann auch stark angestiege­n. 2014 waren 22 Inspektore­n bei den Unternehme­n vor Ort tätig, 2021 waren es 69. Insgesamt verfügte die ITM 2021 über 96 Inspektore­n – einige von ihnen verrichten nämlich administra­tive Arbeit im Sitz der ITM. „Wenn wir heute zu einem Unternehme­r in seinen Betrieb kommen, werden wir nicht mehr als die ‚Clowns der Nation‘ wahrgenomm­en.“Arbeitgebe­r würden heute verstehen, dass die ITM darum bemüht ist, ihnen zu helfen. Das Gleiche gilt für die die Gewerkscha­ften. Sie seien mittlerwei­le der Meinung, dass die ITM anders aufgestell­t sei als früher und Antworten auf ihre Fragen liefert.

Sanktionen sind nur ein letztes Mittel, das wir anwenden, wenn jemand absichtlic­h nicht mit uns kooperiert. Marco Boly, ITM-Direktor

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 ?? Foto: Gerry Huberty ?? Mangelhaft­e Organisati­on führe oft zu Unfällen in den Betrieben, sagt ITM-Chef Marco Boly. Daher müsse man das Thema Sicherheit und Gesundheit bereits in den Schulen fördern.
Foto: Gerry Huberty Mangelhaft­e Organisati­on führe oft zu Unfällen in den Betrieben, sagt ITM-Chef Marco Boly. Daher müsse man das Thema Sicherheit und Gesundheit bereits in den Schulen fördern.
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